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Webervogel

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Insgesamt 67 Bewertungen
Bewertung vom 14.02.2022
Manifesto. Warum ich niemals aufgebe. Ein inspirierendes Buch über den Lebensweg der ersten Schwarzen Booker-Prize-Gewinnerin und Bestseller-Autorin von »Mädchen, Frau etc.«
Evaristo, Bernardine

Manifesto. Warum ich niemals aufgebe. Ein inspirierendes Buch über den Lebensweg der ersten Schwarzen Booker-Prize-Gewinnerin und Bestseller-Autorin von »Mädchen, Frau etc.«


sehr gut

Fordernd und bereichernd

Gleich das erste Kapitel von Evaristos „Manifesto“ fand ich am packendsten: Hier geht es um „Herkunft, Kindheit, Familie, Ursprünge“ und die Autorin beschreibt ihr Aufwachsen als viertes von acht Kindern in einer britisch-nigerianischen Familie. Wobei das nigerianische Erbe erst einmal keine große Rolle spielt, denn Evaristos Vater hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen, pflegte keine Kontakte in seine Heimat und versuchte erst gar nicht, Sprache, Tradition o.ä. an seine Kinder weiterzugeben. Was allerdings für die Nachbarschaft bis hin zur Oma mütterlicherseits eine große Rolle spielte: seine Hautfarbe und die der Evaristo-Kinder. Die Autorin wurde 1959 in ein Land geboren, in dem ihr von klein auf vermittelt wurde, als person of colour keine echte Engländerin zu sein. Was es bedeutet, nur die englische Kultur zu kennen, ihr aber gleichzeitig nicht als zugehörig bzw. ebenbürtig angesehen zu werden, macht Evaristo für ihre Leser*innen annähernd erlebbar.

In weiteren Kapiteln beschäftigt sich die Autorin mit den Prägungen durch ihre wechselnden Wohnsituationen und ihr mindestens ebenso abwechslungsreiches Liebesleben, außerdem mit ihrer kreativen Entwicklung am Theater und schließlich als Autorin. Evaristo gewährt dabei zwar sehr persönliche Einblicke in ihr Seelenleben, bewahrt aber trotzdem eine gewisse Distanz, was vermutlich daran liegt, dass sie beim Schreiben ihres „Manifesto“ bereits um die 60 Jahre alt war und vor allem auf ihr deutlich jüngeres Ich zurückblickt. Vor allem die Einblicke in ihr Arbeitsethos und ihre Herangehensweise an den Schreibprozess fand ich interessant. Aber auch ihr Umgang mit den großen Themen Rassismus und Gender im Wandel der Zeit ist überaus reflektiert und bietet viele Denkanstöße. Bernardine Evaristo wirkt sehr ehrlich mit ihren Leser*innen, fordert sie aber auch mit komplexen Themen und Gedankengängen, die jedoch immer nachvollziehbar bleiben, weil sie eine Meisterin im Umgang mit Sprache ist (und die Übersetzerin Tanja Handels ihr Buch offensichtlich sehr gekonnt ins Deutsche übertragen hat). Wieder eine äußerst bereichernde Lektüre dieser Autorin.

Bewertung vom 21.11.2021
Wenn ich wiederkomme
Balzano, Marco

Wenn ich wiederkomme


ausgezeichnet

Die im Dunkeln sieht man nicht

Eine Mutter verlässt ihre Familie und es fällt ihr so schwer, dass sie sich nicht mal verabschiedet. So beginnt Marc Balzanos neuester Roman; eine tragische und doch leichtgängig erzählte Geschichte, die mich nicht mehr losgelassen hat. Danielas Kinder und Mann bleiben nicht lange im Unklaren: Die Rumänin hat einen Zettel hinterlassen und meldet sich auch schon bald – aus Mailand, wo sich Daniela nun um einen Pflegebedürftigen kümmert. Win-win, könnte man meinen – sie verdient Geld, mit dem sie ihren Kindern im rumänischen Heimatdorf eine gute Ausbildung finanziert sowie den Ausbau des Eigenheims, während der alte Mann dank ihr in seiner gewohnten Umgebung bleiben kann. Aber es ist ebenfalls Lose-lose: Daniela hat nie zuvor als Pflegerin gearbeitet und auch keine Neigung zu dem Beruf. Sie ist ein anständiger Mensch und kümmert sich fast rund um die Uhr so gut um den Patienten, wie es ihr – auch psychisch – möglich ist. Ideal ist die Situation jedoch für keinen von beiden.

Doch zunächst geht es in „Wenn ich wiederkomme“ weniger um Daniela und mehr um die Familie, die sie zurücklässt: ihren arbeitslosen Mann, ihre im Nachbarhaus wohnenden Eltern und ihre Kinder, die fast erwachsene Tochter Angelica und den zwölfjährigen Manuel. Letzterer scheint unter der Abwesenheit der Mutter am meisten zu leiden, ihre täglichen Anrufe sind kein Ersatz und halten die gegenseitige Entfremdung kaum auf. Seine schulischen Leistungen lassen nach, er zieht sich zurück. Und dann passiert etwas.

Marc Balzano skizziert ein Modell, das in vielen europäischen Ländern gelebt wird: Die osteuropäische Pflegekraft, die als 24-Stunden-Inhouse-Hilfe im Westen ihr Geld verdient – mehr Geld, als es ihr in ihrer Heimat möglich wäre (und natürlich weniger, als eine Einheimische oder ein Einheimischer bekommen würde). Doch der Autor widmet sich auch dem in der Regel unbeachteten Thema, das dahintersteht: Wie geht es eigentlich denen, die zurückbleiben? Und denen, die irgendwann zurückkehren? In „Wenn ich wiederkomme“ habe ich zum ersten Mal von der Italienkrankheit gelesen. Danielas Auslandsjahre gehen an keinem Familienmitglied spurlos vorbei; aufzuholen sind sie erst recht nicht. Hat sich ihr Opfer gelohnt?

Eine große Stärke dieses sehr gelungenen Romans ist, dass er keine einfachen Lösungen serviert, Haupt- und Nebenfiguren nicht in gut und böse einteilt und auch sonst nicht urteilt. Balzano bietet einen Einblick in verschiedene Schicksale und sensibilisiert für eine Thematik, über die gerne hinweggeschaut wird. Ein Roman über die fast Unsichtbaren, die in der Pflege vielerorts unersetzlich geworden sind – und über die Lücken, die sie woanders hinterlassen.

Bewertung vom 21.11.2021
Die Enkelin
Schlink, Bernhard

Die Enkelin


ausgezeichnet

Stimmig und fordernd

Dass der kinderlose Buchhändler Kaspar Wettner je Großvater werden würde, hat er selbst nicht kommen sehen. Doch nach dem Tod seiner Frau Brigit deckt er deren Lebenslüge auf: Birgit hatte eine Tochter, die sie gleich nach der Geburt weggegeben hat – nur wenige Monate, bevor sie 1965 aus der DDR zu ihm nach Westdeutschland geflohen ist, wo sich die beiden in Berlin ihr gemeinsames Leben aufgebaut haben. Nun erfährt Kaspar, dass seine Frau lange damit gerungen hat, die verlorene Tochter wiederzufinden und beschließt, an ihrer Stelle zu suchen. Schließlich begegnet er Birgits Enkelin. Die beiden trennt vieles – ihre einzige Gemeinsamkeit ist die Neugier aufeinander.

In seinem neuesten Roman entführt Bernhard Schlink seine Leserinnen und Leser zunächst in eine andere Zeit und dann in eine andere Welt. Erst wird Birgits Geschichte erzählt, das Aufwachsen in der DDR thematisiert, ihre Abwendung vom Staat, ihre Flucht. Der westdeutsche Kaspar hat die DDR nur als Besucher erlebt, doch weitaus fremder als sie ist ihm die Welt, in der Birgits Enkelin Sigrun heranwächst: Sie lebt in einer völkischen Gemeinschaft mit klaren Feindbildern. Kaspar versucht, dem Mädchen seine Welt zu zeigen – unter den wachsamen Blicken der Eltern. Das fragile Band zwischen den beiden zieht sich über ein Spannungsfeld. Ich habe mitgebangt, ob es hält.

Egal welcher Weltanschauung, welchem Stück Zeitgeschichte sich Bernhard Schlink annimmt – er schildert es virtuos und scheut dabei weder Widerspruch noch Kritik. Mit klarer, präziser Sprache hat er auch hier wieder einen Roman geschaffen, bei dem einfach alles stimmt. Die Geschichte ist tragisch, stimmig und aufwühlend in einem, die Figuren haben Ecken, Kanten und immer Tiefgang. Es gelingt dem Autor, alle unterschiedlichen Motivationen irgendwie verständlich erscheinen zu lassen, ohne dass er es einer der Hauptfiguren besonders leicht machen würde. Denn eine klare Einteilung in schwarz und weiß, gut und böse – die gibt es bei Schlink nie. Ein sehr lesenswerter Roman, der extrem unterschiedliche deutsche Leben porträtiert und seine Leserinnen und Leser auch immer wieder dazu herausfordert, Position zu beziehen.

Bewertung vom 10.10.2021
Eis. Abenteuer. Einsamkeit
Löwenherz, Richard

Eis. Abenteuer. Einsamkeit


ausgezeichnet

Eiswüste im Polarlicht

Jakutien war für mich ein weißer Fleck auf der Landkarte und bleibt es auch, nachdem ich diesen Reisebereicht gelesen habe. Allerdings ist es jetzt ein extrem kalter, vereister weißer Fleck: Wer „Eis. Abenteuer. Einsamkeit“ gelesen hat, wird die im nordöstlichen Teil des asiatischen Russlands gelegene Republik nicht mehr so schnell vergessen. Schon das Cover macht neugierig: Grandioses Polarlicht und ein vollbepacktes Fatbike im Schnee. Was bringt jemanden dazu, eine Radtour in die sibirische Arktis zu unternehmen? Und wie funktioniert so ein Unterfangen?

Richard Löwenherz erzählt in seinem ersten Buch von seiner 2017 unternommenen Nordjakutien-Reise, bei der er das Winterstraßennetz Richtung Norden befahren hat. Die sogenannten „Zimniks“ sind nur in der kältesten Jahreszeit nutzbar: Gefrorene Flüsse bilden die Straßen und sind bei hohen Minusgraden auch von Trucks befahrbar – genau wie die Laptewsee, ein Randmeer des Nordpolarmeers, auf dem Löwenherz die letzten Etappen seiner Tour zur Hafensiedlung Tiksi geradelt ist. Seine komplette Reise hat er ohne besondere High-Tech-Ausrüstung bestritten; Löwenherz‘ Equipment ist zum Teil zusammengeliehen, zweckentfremdet oder schon etwas in die Jahre gekommen. Statt auf das Neueste vom Neuesten setzt er auf Bewährtes und seine bei vielen früheren Radreisen gewonnenen Erfahrungen.

Was den Abenteurer antreibt, schildert er in seinem tagebuchähnlichen Bericht: die Herausforderung, die Faszination für die vereiste, karge und spärlich besiedelte Landschaft, die Erfahrung, völlig auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Doch auch die Begegnungen auf seiner über 40 Tage dauernden Reise sind spannend zu lesen. Bei den die Zimniks befahrenden Truckfahrern ist er bald bekannt, Zeit für einen Wodka oder einen heißen Tee findet sich bei fast jeder Begegnung. In besiedelten Dörfern wird ihm in der Regel schnell ein Schlafplatz für die Nacht angeboten. Löwenherz‘ Bekanntschaften sind nicht immer gesprächig, meist aber sehr gastfreundlich. Und so bekommen Leserinnen und Leser gleich noch einen kleinen Eindruck von dem Menschenschlag, der die meiste Zeit des Jahres in einer Eiswüste lebt – zumindest von den Männern; Frauen begegnet Löwenherz auf seiner Fahrt nur sehr selten.

Mir hat „Eis. Abenteuer. Einsamkeit“ sehr gefallen: Die Beschreibung einer Reise, von der ich nicht geglaubt hätte, dass sie so stattfinden kann, die vielen Fotos, die Schilderung vom Umgang mit Eis und Schnee, denen der Autor radelnd und campend komplett ausgesetzt war. Sein außergewöhnliches Abenteuer schildert Löwenherz packend und anschaulich und zeigt dabei, was alles möglich ist, wenn man für eine Sache brennt.

Bewertung vom 28.09.2021
SCHWEIG!
Merchant, Judith

SCHWEIG!


gut

Zähes Psychoduell

Es hätte ein packendes Kammerspiel in Thrillerform werden können: Die erfolgreiche Familienmanagerin Esther besucht ihre jüngere Schwester Sue, um ihr ein Weihnachtsgeschenk vorbeizubringen. Es ist der 23. Dezember, beide haben sich in diesem Jahr noch gar nicht gesehen und hoffen, Esthers Überraschungsbesuch möglichst schnell hinter sich zu bringen. Sue erträgt die Anwesenheit ihrer Schwester kaum und diese will eigentlich sofort wieder abfahren – sobald sie sich sicher ist, dass es Sue gut geht und sie sie beruhigt alleine lassen kann. Doch dieser Eindruck stellt sich zunächst so gar nicht ein …

Schnell wird deutlich: Zwischen den Schwestern ist viel im Argen. Wie viel, zeigt sich durch ihre unterschiedlichen Perspektiven auf die Begegnung. Kleinigkeiten – die Begrüßung, das Servieren von Tee, die Einrichtung – werden abwechselnd aus beiden Blickwinkeln geschildert, und schnell wird deutlich: Esther und Sue nehmen die gleiche Situation höchst unterschiedlich wahr. Beide sind geprägt von verdrängten Erinnerungen, die durch ihr Treffen nach und nach hochkommen. Und schließlich weiß man als Leserin oder Leser kaum noch, was man glauben soll: Ist Sue labil, Esther ein Kontrollfreak, oder steckt noch etwas ganz anderes hinter ihrer toxischen Schwesternbeziehung?

Eigentlich eine wunderbare Ausgangslage für einen Thriller, doch statt Fahrt aufzunehmen, wird dieser nach und nach zäh. Beide Schwestern sehnen das Ende ihres Wiedersehens vehement herbei, doch ihr Treffen zieht sich – und mit ihm dieses Buch. Dabei gibt es unerwartete Enthüllungen, Verwicklungen und Erkenntnisse und ich musste meinen Eindruck von beiden mehrmals korrigieren. Doch trotzdem wabert die Geschichte eher schleppend vor sich hin – vielleicht, weil das Verhalten der Schwestern in einigen Punkten so wenig nachvollziehbar bleibt. Oder, weil große Teile der Geschichte durch die unterschiedlichen Perspektiven doppelt erzählt werden und so das Tempo gedrosselt wird. Auch der finale Twist konnte das für mich nicht mehr rausreißen. Am Ende war ich froh, dieses zähe Psychoduell überstanden zu haben.

Bewertung vom 28.09.2021
Du hast mir gerade noch gefehlt
McFarlane, Mhairi

Du hast mir gerade noch gefehlt


sehr gut

Letzte Nacht

„Du hast mir gerade noch gefehlt“ scheint auf den ersten Blick ein typischer Mhairi-McFarlane-Roman zu sein. Schon das verspielt illustrierte Cover mit dem eher nichtssagenden Titel und dem leicht chaotischen Schriftzug fügt sich bestens in die Reihe der bisherigen sechs Romane ein. Eve Harris, die Hauptfigur, könnte auf den ersten Blick auch in jedem der anderen Bücher vorkommen: eine sympathische Single-Frau mit kleinen Unsicherheiten, die ihren Job nicht mag, ihren Kater liebt und alles für ihre Freunde tun würde. Ihre Clique besteht seit Schulzeiten aus Susie, Justin und Ed; der feste Treffpunkt der Mittdreißiger ist das Pub-Quiz, bei dem sie noch nie gewonnen haben. Und so beginnt der Roman mit einem ganz normalen Kneipenabend, bei dem dann allerdings Eds Freundin Hester die Bühne kapert und ihm einen Antrag macht. Eve, die seit Jahren heimlich in Ed verliebt ist, zieht es den Boden unter den Füßen weg – denkt sie. Doch die wahre Katastrophe steht ihr erst noch bevor.

Ich hätte Mhairi McFarlane nicht zugetraut, dass sie einem Schicksalsschlag so viel Raum gibt, wie es in diesem Roman geschieht. Sie schildert einfühlsam und authentisch, wie eine Tragödie Eves Leben und das ihrer Freunde durcheinanderwirbelt. Wer einen Liebesroman erwartet hat, wird vielleicht irritiert sein, doch mir hat sehr gefallen, dass die Geschichte so viel mehr bietet und sich in keine Schublade stecken lässt. McFarlane beweist, dass sie neben den lustigen und romantischen Tönen auch die traurigen und verzweifelten trifft – selbst auf der Langstrecke. Sie bringt Humor und Tiefgang stimmig zusammen, und so ist „Du hast mir gerade noch gefehlt“ eine runde Geschichte über Freundschaft, Liebe, Verlust und Weiterleben, die viele gute Gedanken enthält – und der ihr 08/15-Titel absolut nicht gerecht wird. Im Original heißt der Roman schmucklos „Last night“, was ich weitaus passender finde. Doch so oder so ist es der perfekte Roman, um es sich mit einer Tasse Tee (very British) auf dem Sofa gemütlich zu machen und einfach mal ein paar Stunden durchzuschmökern.

Bewertung vom 15.08.2021
Was fehlt dir
Nunez, Sigrid

Was fehlt dir


sehr gut

Gedankentreiben

Was fehlt dir – diese Frage könnte die Ich-Erzählerin des gleichnamigen Romans sicher nicht so einfach beantworten. Überhaupt ist sie kein Typ für schnelle Antworten, sondern eher eine abwägende Beobachterin; eine Schriftstellerin, die sich viele Gedanken macht und dabei nachsichtig mit ihren Mitmenschen umgeht: Sie lässt ihnen ihre falschen Erinnerungen, ihre Widersprüchlichkeiten und ihre Urteile. Die Namenlose wirkt, als würde sie sich vom Leben treiben lassen. Und die Lesenden werden mitgetrieben.

Sigrid Nunez Roman „Was fehlt dir“ besteht vor allem aus Gedanken, Erinnerungen, Bewertungen von Situationen aller möglichen Art, die oft etwas schwermütig daherkommen, mich aber doch ziemlich in ihren Bann gezogen haben. Die Autorin schreibt klug und empathisch über zwischenmenschliche Beziehungen, wobei ihre Erzählerin zu Menschen und Ereignissen generell eine gewisse Distanz wahrt. Ihrem stream of consciousness lässt sich gut folgen und sogar dem Krimi, den sie immer wieder zur Hand nimmt.
Sehr gefallen haben mir Stil, Sprache und Gedanken. Die eigentliche Handlung, die erst im zweiten Teil wirklich beginnt, ist berührend – die Begleitung einer krebskranken Freundin durch die Ich-Erzählerin. Der sehr kurze, dritte Teil enthielt allerdings nicht das von mir erwartete Romanende – eigentlich enthält er gar kein Ende. Dass so vieles offen und unausgesprochen bleibt, hat mich ziemlich überrascht – als wären der Autorin ihre Themen auf den letzten Seiten abhandengekommen. Aber gerade dadurch lässt einen „Was fehlt dir“ nicht richtig los. Ich kann mir gut vorstellen, noch weitere Romane der New Yorkerin zu lesen.

Bewertung vom 11.08.2021
Löwenherzen
Neitzel, Gesa

Löwenherzen


sehr gut

Hommage an die Wildnis

Dieses Buch ist für alle, die wissen wollen, wie es der deutschen Rangerin Gesa Neitzel nach ihrer Ausbildung im südlichen Afrika ergangen ist. Es wird jedem Spaß machen, der sich für die Tierwelt dieses Teils der Erde interessiert. Und es weckt ohne Zweifel Fernweh, mit der Autorin, ihrem Lebensgefährten Frank und Land Rover Ellie die staubigen Straßen von Botswana, Namibia und Sambia zu bereisen.

Ungefähr drei Viertel von „Löwenherzen“ habe ich sehr gerne gelesen und auch das letzte war nicht schlecht. Während Gesa Neitzel ihre Erlebnisse in Botswana und Namibia jedoch einigermaßen chronologisch zu erzählen scheint, besteht der Sambia-Teil aus eher unzusammenhängenden Fragmenten; außerdem gibt es einen beachtlichen Zeitsprung. Neitzels Safari-Schilderungen lesen sich so anschaulich wie zuvor, dennoch fand ich es schade, wie schnell und bruchstückhaft diese letzten Kapitel abgehandelt wurden.

Die Teile über Botswana und Namibia erinnern eher an Neitzels Erstling „Frühstück mit Elefanten“. Die Autorin hat ihren authentischen Stil beibehalten und vermittelt viel Wissen über Land und Tiere. Hier und da gibt sie Privates preis, wobei sie alles andere als eine Selbstdarstellerin ist. Ihre Liebe zur Wildnis und zur Beobachtung von Tieren in ihrem natürlichen Lebensraum wird auf jeder Seite ebenso deutlich wie ihr Respekt für die Natur. Immer wieder schildert Neitzel ihre Faszination, plädiert leidenschaftlich für Umweltschutz und nimmt ihre Leserinnen und Leser mit ins Abenteuer. Entstanden ist ein würdiger Nachfolger von „Frühstück mit Elefanten“, auch wenn sich ihr erstes Buch aufgrund der Fülle an neuen Erfahrungen und Erkenntnissen und der dichteren Erzählweise noch mitreißender las.

Bewertung vom 03.08.2021
Der Brand
Krien, Daniela

Der Brand


ausgezeichnet

Sommer unterm Brennglas

Auf dem Cover dieses Romans scheint die titelgebende Feuersbrunst abgebildet zu sein. Doch von dem Brand, der am Anfang dieser Geschichte steht, wird nur telefonisch berichtet. Die 49-jährige Hauptfigur Rahel erfährt kurz vor der Abreise, dass das seit Langem für den Sommerurlaub gebuchte Quartier abgebrannt ist. Und so fahren sie und ihr Mann Peter nicht in die Alpen, sondern in die Uckermark und hüten dort den Hof von Freunden, was mehr eine Pflichtübung als die ersehnte Auszeit ist. Dabei wollten sie doch Kraft tanken und einander wieder näherkommen – letzteres hatte sich zumindest Rahel erhofft. Als dann noch ihre Tochter mit den beiden Enkelkindern bei dem Paar einfällt, scheint jegliche Entspannung in weite Ferne gerückt.

„Der Brand“ handelt also von Familie, ist aber weit davon entfernt, eine amüsante Generationengeschichte zu sein. Und das liegt vor allem am sezierenden Stil von Autorin Daniela Krien, die unaufgeregt und schonungslos Gefühle und Situationen schildert. Dabei schafft sie es, ihre Figuren komplex zu charakterisieren, ohne sie zu bewerten oder die Sympathien klar zu verteilen. Krien ist eine dichte Erzählung gelungen, die sich aber auch durch eine überraschende Leichtigkeit auszeichnet, weil einige Themen nur angedeutet und längst nicht alle Krisen detailliert beschrieben oder gar gelöst werden. Dadurch wirkt der Roman sehr lebensnah. Sein großes Thema ist weniger die Geschichte einer Familie oder einer Ehe, sondern die Veränderung von Menschen und ihren Beziehungen im Laufe des Lebens. Die Autorin fängt beides auf eine leise, fast nebensächliche Art und Weise ein, aber ihre präzisen Beobachtungen haben mich das ein oder andere Mal kalt erwischt und einige Sätze hallen nach. Daniela Kriens Roman hinterlässt Spuren.

Bewertung vom 28.06.2021
Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?
Green, John

Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?


sehr gut

Kurioser Mix, wunderbar erzählt

Dieser Titel hat mich gleich angesprochen – im wahrsten Sinne des Wortes. Und das auch noch sehr höflich: „Wie hat Ihnen das Anthropozän bisher gefallen?“ Tja, gute Frage. Laut Wikipedia (das wiederum einen Artikel aus der NZZ zitiert) ist das Anthropozän „[das Zeitalter,] in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist“. Es gibt verschiedene Ansätze, die den Beginn des Anthropozäns unterschiedlich datieren. Fest steht, dass es das einzige Zeitalter ist, das wir kennen. Aber was macht es eigentlich aus?

John Green nähert sich dieser Frage in kurzen Kapiteln, in denen er über Dinge, Momente und Erfahrungen schreibt, die für ihn mit dem Anthropozän verbunden sind – z.B. Klimaanlagen, Diet Dr Pepper und Jerzy Dudeks sportliche Leistung am 25. Mai 2005. Ich habe Dr Pepper noch nie getrunken und Jerzy Dudek sagte mir nichts. Aber das ist völlig egal, gerade letztere Geschichte habe ich gleich zweimal gelesen, weil sie mir so gut gefallen hat (und vermutlich auch, weil gerade EM ist und es thematisch so schön passt). Viele der Kapitel beziehen sich auf die USA, da Green ein amerikanischer Autor ist – mehrere Überschriften sagten mir gar nichts. Doch das stört beim Lesen in keiner Weise, denn von diesem Autor lässt man sich einfach gerne lesend an die Hand nehmen und zu den verschiedensten Themen dieses bunten Mixes führen.

Allerdings erzählt John Green nicht nur – er bewertet auch, nach der bewährten 5-Sterne-Skala, die wir alle aus dem Internet kennen. Sogar sein eigenes Buch ist nicht vor ihm sicher; er lässt sich kritisch über Copyrightseite, Titelseite und die Buchwerbung am Schluss aus. Ansonsten bewertet er von Kanadagänsen (zwei Sterne) über unsere Fähigkeit zu staunen (dreieinhalb Sterne) bis hin zum Halleyschen Kometen (viereinhalb Sterne) jedes Thema, das er unter die Lupe nimmt – aber erst, nachdem er es sorgsam von mehreren Seiten beleuchtet hat. Green schreibt über seine persönliche Beziehung dazu, seine Gedanken, seine Erlebnisse und reichert das Ganze mit Fakten und (zum Teil wunderbar unnützem) Wissen an. Das liest sich mal faszinierend, mal skurril, mal anrührend, macht großen Spaß und bringt gleichzeitig zum Nachdenken. Die Art, in der John Green über Emotionen schreibt, hat mich dabei an Matt Haig erinnert und mir sehr gefallen.

Apropos: Wie hat mir das Anthropozän denn nun bis jetzt gefallen? Die Antwort auf diese Frage in eine 5-Sterne-Skala zu pressen, erscheint mir unmöglich. Aber John Greens Buch, dem gebe ich viereinhalb Sterne.