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Benutzername: 
Almut Scheller-Mahmoud
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 76 Bewertungen
Bewertung vom 19.11.2022
Das Lächeln des Diktators
Ali, Bachtyar

Das Lächeln des Diktators


ausgezeichnet

Bücher sind eine stehende Armee der Freiheit. (Jean Paul).
Diese Essays sind eine Reise durch ein persönliche Universum. Als Seismograph enthüllt er nicht nur ein Thema, sondern er wickelt es aus, entfaltet es (Willemsen). Er leuchtet die Persönlichkeit Saddam Husseins, eines Diktators par excellence, aus. „ L’etat c’est moi“ passt wie maßgeschneidert auf ihn und seine Herrschaft. Das Lachen bei seiner Hinrichtung war eine seiner Inszenierungen: Das Lächeln des Mächtigen. Das Lächeln des Ge-Mächtigen. Die 43 lächelnden Gesichtsmuskeln mit makellosen Zähnen sind eine moderne Währung. Er wäre ein perfekter Instagramer geworden.

Ali beschreibt die Moderne als technische Erobererin. Für den Orient war Technik etwas Wesensfremdes. Es gab keinen Gegenentwurf, man blieb im Status quo. Schon Al Afghani fragte, warum der Orient so rückschrittlich sei und Dan Diner erkannte die "Versiegelte Zeit". Homo faber und Homo consumens waren westliche Götter, sie läuteten die Veränderung der Gesellschaft ein, aber im Orient ruhte man sich auf den hochzeitlichen Diwanen der arabischen Kultur aus. Es kam nur zu Machtverschiebungen. Der Staat wurde zum Schrittmacher, die Gesellschaft jedoch trabte noch im alten Rhythmus.

Abermals zeigt sich der Zerfall des Osmanischen Reiches als Zäsur. Die Säkularisierung war schwach. Die Assassinen kehrten in modernem Gewand als die Bewaffneten Gottes zurück. Alles war Gottes Wille. Der Mensch blieb passiv, Gottes Abbild materialisierte sich in Diktatoren. Früher hatte man ein eine persönliche Beziehung zum Allmächtigen. Die moderne Büchse der Pandora ließ die Städte wuchern, die Bauern hatten durch Landflucht ihren natürlichen Rhythmus verloren. Dieser Bruch zwischen Mensch und Natur, die innere Leere war die Triebkraft des politischen Islams.

Ali beschreibt eine spiegellose Gesellschaft. Wer sich nicht selbst betrachten kann, hat kein wahres Bild von sich. Said verschweigt im „Orientalismus“ die selbst geschaffenen Trugbilder und die Unfähigkeit zur Selbstreflexion. Ein Spiegel zeigt das wahre Gesicht. Er ist kein Fernglas für die Weite, sondern ein Brennglas für die eigene Nähe.

Der orientalischen Literatur sind Krieg und Gewalt nicht fremd, das individuelle Morden ist ein unbekanntes Element. Töten ist ein Mittel der Macht, des Kollektivs, kein Einzelwerk. Kriege, Attentate, Hinrichtungen sind alltäglich. Schaustellung von Macht und Männlichkeit. Der Verlust der Macht bedeutet phalluslos zu sein. Die Angst vor Kastration und die männlichen Körperpanzer ergänzen sich. Im Orient ist Krieg ein Männlichkeitscode.

Bachtyar Alis Sprache, das Sorani, war verboten. Sprache macht uns zu einem sozialen Geschöpf, gibt uns Heimat. Sie ist unsere persönliche Schatztruhe, sie birgt unsere Träume, Wünsche und Ängste. Für Heidegger ist Sprache das „Haus des Seins“. Später gelernte Sprachen sind nur erweiterte Horizonte.

Im letzten Essay evoziert Ali sein Elternhaus, in dem es verbotene Bücher gab.
E gehorchte dem Befehl seiner Großmutter und verbrannte sie.
Später floh er nach Teheran: dort zog er von Buchhandlung zu Buchhandlung, las ein Kapitel hier, ein Kapitel dort. Er schmuggelte Bücher moderner Klassiker. Rührend seine Ansprache an das Bücher-Muli: „ ich vertraue dir mein Leben und das Überleben dieser Bücher an. Die einen wichtigen Teil der menschlichen Zivilisation beherbergen. Weil ich glaube, dass du diese Aufgabe besser erfüllen kannst als die Menschen.“
Die autoritären Staaten fürchten den Leser. Am Flughafen in Frankfurt fragte man ihn, warum er gekommen sei. „Um in Ruhe lesen zu können.“

Bachtyar Alis Essays sind zeitgeschichtliche Preziosen, verbunden mit politischen und gesellschaftlichen Betrachtungen, verflochten mit seinen ganz persönlichen Erfahrungen. Er hat ein tiefes Verständnis für Literatur, für das Lesen und Schreiben, fühlt sich dabei umhüllt von seiner ersten Sprache. Er öffnet uns neue Horizonte aus dem Dickicht des Hausgemachten, bringt Vielfalt statt Einfalt. Das ist in der Welt des literarischen und journalistischen Einheitsbreis ein großes Verdienst. DANKE.

Bewertung vom 31.10.2022
anderswo, daheim
Aboulela, Leila

anderswo, daheim


ausgezeichnet

Hier und Dort. Dort und Hier.

Leila Aboulela entführt uns mit ihren dreizehn Kurzgeschichten in eine Welt der Schwebe. Die meist weiblichen Protagonisten versuchen wie auf einem Schwebebalken die Balance zu halten. Zwischen Hier und Dort und Dort und Hier. Zwischen Jetzt und Damals.
Aboulela hat ein feines Gespür für zerrissene Fäden, für ein fadenloses Leben, ein Leben auf der Suche nach dem Roten Faden, der das Dort mit dem Hier und das Damals mit dem Jetzt verbindet.
Warum verlässt man sein Mutterland, sein Vaterland, um fremdländisch zu sein? Weil es dort keine Arbeit gibt, weil man ein Studium beenden möchte, weil man heiratet. In den Geschichten sind es keine Katastrophen wie Hunger, Überschwemmungen, Erdbeben oder politische Verfolgung. Einfach die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Aber die Geschichten sind durchtränkt von Wehmut und Heimweh, von zerstörten Hoffnungen, geplatzten Illusionen, von Unsicherheiten.
Da gibt es die wärmenden Erinnerungen an süßen Zimttee, geröstete Wassermelonenkerne, Hitze, Wasser des Nil, an einen anderen Lebensrhythmus, sinnlicher, gemächlicher und zugleich lebendiger als im kühlen kalten England.
Für manche der Protagonisten wird der Glaube zur starken Überlebenskraft, gibt der Glaube Halt. In der Geschichte „Kebabshop“ findet Kassim mit einem marokkanischen, dem weltlichen Leben zuneigenden Vater und einer schottischen Mutter, die kein Interesse an Religion hat, zum Glauben. Dina schwankt zwischen dem Leben, das er ihr bietet und der Unerfülltheit, das ihr Elternhaus ihr vermittelt.
In „Altes und Neues“, lesen wir von einem englischen Konvertiten, der zu seiner Braut zur Eheschließung nach Khartum fliegt. Und sich dort mit den Realitäten dieses Landes konfrontiert sieht. Die nicht unbedingt mit den angelesenen übereinstimmen.
In „Der Mann der Aromatherapeutin“ endet ein gemeinsames Leben, eine Ehe mit dem Schild „Zu verkaufen“. Zu weit driften die zwei Charaktere und die zwei Welten auseinander: Elaine steigert sich in ihr Gefühl des Erwähltseins und der Überlegenheit zu Adam. Sie spirituell, er materiali- stisch. Da lässt es sich gut glauben, dass ihr spiritueller Lehrer ein Indianer oder ein somalischer Krieger sei. Adam würde sie in ihrer Entwicklung zurückhalten, behindern.
In „Bunte Lichter“ sind die farbfrohen Lichterketten Symbole für die Weihnachtsbeleuchtung hier und die Beleuchtung der Hochzeitshäuser dort. Visuelle Weihnachtsfreude und Tod des geliebten Bruders durch eine defekte Lichterkette. Statt Hochzeit der Tod. Der Vater stiftet eine Schule aus Lehm in seinem Heimatdort in Erinnerung an seinen Sohn, die Mutter hängt einen großen Tontopf, der immer kühles Wasser spenden wird, in den Baum. Hier gibt es gestiftete Erinnerungsbänke.
In „Circle Line“ werden das Älterwerden und die Selbsttäuschungen angesprochen. Die Welt dreht sich schnell wie ein Riesenrad, hoch hinauf, tief hinunter und wieder hoch hinauf und tief hinunter: der Rhythmus des Lebens.
In „Sommerlabyrinth“ nähert sich Nadia ihren Wurzeln, sie merkt, dass Ägypten, das ihr bisher so fremd geblieben war, Teil ihrer DNA ist. Sie will für ein Projektjahr nach Kairo gehen, um Arabisch zu lernen.
Die Geschichten zeigen lebensnah diverse Perspektiven auf, die zum Nachdenken anregen, wie es Menschen im Hier geht, die von Dort sind. Ihre Fremdheit nähert sich unserer eigenen Fremdheit in dieser schnellen modernen Welt, in der „Zeitenwende“, die die Karten auf allen Ebenen, den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, gesellschaftlichen, neu mischt.
Und so ist in diesen interkulturellen Geschichten die grundsätzliche Fremdheit des Menschen enthalten.
Schon Schubert hat in seinem Liederzyklus „Die Winterreise“ die Fremdheit thematisiert.
„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus“ .

Bewertung vom 29.07.2022
Unter Raubtieren
Niel, Colin

Unter Raubtieren


ausgezeichnet

Modus vivendi. Modus operandi.
Wer ist Jäger, wer ist Gejagter?

Dieser sehr spannende, packend geschriebene Roman wirft viele Fragen auf. Nach der Natur des Menschen, nach der Natur der Tiere und nach der Natur als Schöpfung und Habitat.
Colin Niel gelingt es meisterhaft, einen Spannungsbogen zwischen den drei Komponenten aufzubauen mit einem unerwarteten Finale.
Martin, Apolline, Komuti sind die drei Menschenwesen, die die Szene beherrschen. Cannellito und vor allem Charles sind ihre Kontrahenten.
Ganz wunderbar die Einleitung und die Einsprengel des rhythmischen, fast atemlosen Löwengesangs. Beeindruckend, wie der Autor diese Möglichkeiten an Empfindungen und Gedanken eines so großen stolzen Tieres verbalisiert, in Worte fasst. Wie wir Teil seiner Lebensspule werden, der Blüte seines Lebens als Alphamännchen, seiner erniedrigenden Entmachtung, seiner Ruhmesstunden und seiner Niederlagen.
Die männlichen Lebensrealitäten und die weibliche von Apolline werden durch die inneren und äußeren kulturellen Einflüsse lebendig. Martin, ein Ranger in den französischen Pyrenäen, der sich mit seiner Aufgabe des Naturschutzes identifiziert und auf der Suche nach den Spuren des letzten pyrenäischen Bären, Cannellito, ist. Komuti, ein junger HImba, der sich in der Liebe zu der schönen Kariungurua verliert und sich als Mann, als Löwentöter beweisen möchte. Apolline, eine junge mutterlose, vom Vater verwöhnte Amazone, die mit ihrem Jagdbogen nicht die fernöstliche meditative Kunst des Bogenschießens verinnerlicht, sondern ihn als Tötungsinstrument nutzt.
Alles beginnt mit dem Prolog von Charles am 30. März und endet mit seinem Epilog vom 10. Oktober.
Die einzelnen Kapitel sind den einzelnen Menschen zugeordnet, aber nicht in geordneter chronologischer Reihenfolge. Sie folgen einem dramatischen Ablauf, der von Südfrankreich bis nach Namibia zu Charles führt. Nach Namibia, wo die Himba teilweise schon verwestlicht sind: Jeans und Basecaps und Sneakers als Zeichen der Moderne. Nach Namibia, wo Dürre herrscht und einer der Himbas überzeugt ist: Schuld haben die Weißen, erst kolonisieren sie uns, dann verändern sie sogar das Wetter. Nach Namibia, wo die Jagd auf Charles freigegeben wurde – kein „canned hunting“ (gezüchtete Tiere im eingezäunten Bereich), sondern „free roaming". Aber die Dramatik zeigt sich auch in einer detektivischen Suche in der Social Media-Gesellschaft unserer Zeit und endet mit einer Verfolgungsjagd in den Pyrenäen, wo der Jäger konstatiert, dass er mit der Gejagten viel gemeinsam hat, beide sind Einzelgänger in ihrer Gesellschaft. Aber einer tötet Tiere und der andere schützt sie.
Die Natur ist hier nicht nur Bühnenbild oder Kulisse, sondern durch eine sinnliche Beschreibung fast fühlbar und berührt die Lesenden emotional nah.
Hintergrund all dessen ist die Urgeschichte der Menschheit. Vom Sammler zum Jäger und zur Pervertierung der Jagd. In Frühzeiten Mittel des reinen Überlebens ist sie heute ein Statussymbol mit Trophäen und ein Luxusbusiness, damit schießwütige und tötungsgeile reiche Männer (und auch Frauen) ihrem Größenwahn, die Krönung der Schöpfung zu sein, frönen können. Da werden ganze Landstriche für Ressorts entvölkert (aktuell gerade in Tansania durch Vertreibung der Massai), damit die eingeflogenen Menschen ihren stammesgeschichtlichen Urinstinkten, verfeinert mit abendlichen Sundowners, nachgeben können.

Und lässt die Frage offen: wer ist Mensch? Wer ist Tier?
Ein Buch, das anregt, weiter zu recherchieren über die Natur der conditio Humana und der conditio animalis. Colin Niel ein großes Dankeschön dafür.

Bewertung vom 18.07.2022
Hätte ich dein Gesicht
Cha, Frances

Hätte ich dein Gesicht


ausgezeichnet

Weibliche Homunculi

Dieser Roman, in wechselnden Kapiteln, gibt Einblick in ein Weltbild, das mir sehr fremd ist. Ich fühlte mich bei der Lektüre wie eine Außerirdische und kann das beschriebene Streben nach plastifizierter Schönheit nicht nachvollziehen. An Persönlichkeit und Selbstbewusstsein scheint es den 5 erzählenden Frauen zu fehlen. Ihr Leben reflektiert das Wettbewerbsdenken, das die gesamte koreanische Gesellschaft durchseucht.
Ara, Friseuse und Stylistin, ist nach einer jugendlichen Gang-Schlägerei stumm. Sie ist vernarrt in den Sänger einer Musikgruppe.
Sujin arbeitet in einem Nagelstudio. Ihr Traum: ein Room-Salon-Mädchen zu werden. Dafür hat sie sich bei einem renommierten Chirurgen diversen Operationen unterzogen.
Kyuri arbeitet in einem der teuersten Room Salons der Stadt. Sie ist eine leibhaftige Barbie.
Miho hatte Glück, ihr künstlerisches Talent verhalf ihr zu einem Stipendium in New York.
Sie wie auch Ara sind „natürlich“ geblieben mit „unpolierten“ Gesichtern.
Und Wonna, eine verheiratete Frau, mit einem freundlich Mann, und dem Pluspunkt: seine Mutter war verstorben. Der Hass der Schwiegermütter auf ihre Schwiegertöchter ist legendär. Wonna hatte bereits Fehlgeburten hinter sich und ist nun abermals schwanger.


Natürlich gibt es auch Männer in diesem Roman, der messerscharf die koreanische Gesellschaft seziert. Bruce, ein Kunde von Kyuri. Hanbin, Erbe einer einfluss-reichen Familie und Mihos Geliebter. Taein, angehimmelt von Ara. Der Manager Oppa aus Kyuris Room Salon. Mr. Moon, der Ara damals nach der Schlägerei das Leben rettete.
Korea ist eine männerdominierte Gesellschaft, die Kunden der Room Salons saufen jeden Abend nach einem fremdbestimmten Arbeitstag. Die Mädchen eines solchen Salons sind Animierdamen, die die Gläser sofort nachfüllen, oft selbst mittrinken. Sie arbeiten, um sich erneut für weitere OPs zu verschulden. So bleiben sie in einem circulus vituosis gefangen. Im Vergleich waren die Geishas hochgebildete Frauen, in vielen Künsten bewandert.

Die Autorin beschreibt hautnah das Leben der Mädchen, kritisiert die gesellschaftlichen Normen, die zu konsumierenden Obsessionen und Oberflächlichkeit führen. Die Idee zu diesem Roman kam ihr, als sie mit einem Freund einen Room Salon besuchte. Sie wollte hinter die Fassade schauen, unterhielt sich mit vielen Mädchen, deren Erfahrungen als Mixtur dann zu diesem Buch verarbeitet wurden.
Eine verstörende, aber lohnenswerte Lektüre, die uns mit den Trends der Moderne konfrontiert: dem Schönheitswahn, der Flucht vor sich selbst, dem Konsumterror. Das Buch schließt mit angedeuteten Veränderungen. Kleinen Veränderungen, aber vielleicht sind es Schritte in neue Lebenskapitel?

Gesichtsverlust ist ein Kennzeichen der koreanischen Gesellschaft. Ein manipuliertes, „poliertes“ Gesicht erhöht das Ansehen in der Öffentlichkeit. Social surgery.


Sometimes I wish a had an extra eye. So I could look with more distance at myself.

Bewertung vom 28.06.2022
Die Überlebenden
Alioth, Gabrielle

Die Überlebenden


gut

Die Brunnen der Vergangenheit

Die Essenz dieses Romans ist das Verschweigen, das Beschweigen. In einer Schweizer Familie, über mehrere Generationen. Das Nicht-Aussprechen, das nicht einmal sich zu denken Wagende. Das Spiel der Macht in den Facetten von sexuellem Missbrauch, von körperlicher Züchtigung, vom Niederdrücken und vom Kleinhalten. Und das traurige Resultat des sich Ergebens, des Mitspielens, des Opferstatus.

Mina mit ihrem Mann Oskar, ihre Nichte Vera und ihr Neffe Max sind die namentlich genannten Protagonisten. Mina, die Ehefrau, die Haushalt und Kindererziehung nach den Direktiven ihres meist abwesenden Mannes ausführt, als Dienerin, ohne Widerworte, ohne ein Aufmucken.
Max wird Kampfpilot im Vietnamkrieg und wird Zeuge und Mitspieler von bellizistischer Gewalt. Auch hier die Mächtigen, aber als Gegenspieler die Vietcong: die sich siegreich Wehrenden. Und Vera flüchtet sich in die vermeintlich heile Welt der Natur, in die Welt der Schmetterlinge. Die Metaphorik dieser Insekten sind ein wunderbares Beispiel der Verpuppung und besonders der Entpuppung von Veras Seele. Vera ist die einzige, der ein Neuanfang gelingt, die sich aus dem verschwiegenen Kreislauf der Gewalt befreien kann. Und endlich leben kann. Auch ihr Mann Jens ist ein Geschädigter, als Sohn eines Nazis.

Über allem schwebt Minas Vater, der Großvater von Max und Vera - der Patriarch wie er „im Buche steht“. Wie so oft ist dieser ein geachteter Bürger seiner Gemeinde: vertreten im Kantonsrat, Bezirksgericht, in der Bäckerinnung, Handwerker- und Gewerbeverein, Männerchor und Turnverein, Schützengesellschaft.

Der Roman ist aufgebaut wie ein Kartenhaus, wo die Karten immer wieder neu gemischt werden. Sehr verwirrend, wenn man kein Pokerface-Leser ist. Es ist eine seltsame Lektüre durch die wechselnden Perspektiven von Mina, Max und Vera und auch im jeweiligen Text noch ein Wechsel der Chronologie. Es handelt sich um ein Familiendrama, um Traumata, die aber nie explizit ausgesprochen werden, sondern unterschwellig und subtil präsent sind. Ich konnte nicht warm werden mit dem Text. Für mich zu viel Unausgesprochenes, zu viel Angedeutetes, Schwebendes, so dass es mehr wie ein Rätselraten war – wer hat wen missbraucht und wie? Wäre ein besonderes Sujet für eine Familienaufstellung.

Und doch ist der Roman empfehlenswert. Weil er genau durch dieses Unausgesprochene, nur Angedeutete, das Schwebende die Scham der Opfer, die Scham der Gesellschaft ausdrückt. Was nicht ausgesprochen wird, existiert nicht.
Er schöpft tief im Brunnen der Vergangenheit und der Seele und bringt langsam die Wahrheit ans Tageslicht.

Bewertung vom 26.05.2022
Taqawan
Plamondon, Éric

Taqawan


ausgezeichnet

Der rote Faden-Verlauf oder Der Widerspenstigen Zähmung.
Erstaunlich, dass WDR und SZ diesen Roman als Krimi bzw. Thriller etikettieren, wie es auf der Cover-Rückseite vermerkt ist.
Für mich ist das ein gesellschaftspolitischer, ein ethnographischer Roman, der viele Facetten in sich vereinigt - die Geschichte der indigenen Völker in Kanada, ihre Traditionen und Sitten und die Willkür der Herrschenden, bürokratische und machtpolitische Willkür. Auch in diesem Falle leider wieder die Willkür des „Weißen Mannes“.
Der Roman spielt in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Provinz Quebec. Doch die geschilderten Geschehnisse könnten auch heute passieren, wie man den Presseberichten der jüngsten Zeit über die Residential Schools und über die Stadt Thunder Bay in Ontario entnehmen kann. Eine gefährliche Stadt für indigene Frauen mit Vergewaltigungen und Morden. In den christlichen Internaten gab es Folter und sexuellen Missbrauch, mit tausenden ungeklärten Todesfällen.
Plamondon entführt uns in kurzen, prägnanten Kapiteln in die Welt eines der vielen Indianer- stämme, der Mi’gmaqs, unterbrochen von Einsprengseln zu ihrer Lebensart, zu ihrer Kultur, zu ihren Traditionen: so erfahren wir viel über den geheimnisvollen Lachs, der seinen Metabolismus dem Wechsel von Salz- zum Süßwasser anpassen kann, ohne dass die Naturwissenschaftler dieses Rätsel lösen konnten und auch über ihren Wandertrieb, der Jahre nach seiner Geburt zurück kehrt in sein fluviales Laichgebiet Tausende von Kilometern entfernt.

Aber auch etwas über die Geschichte der Indigenen, ihre Ankunft über die Beringstraße, ihr Stammesleben in Ost und West, bis die ersten Fremden auftauchten: Wikinger, Basken, vor allem Engländer und Franzosen. Sie waren den Siedlern behilflich, nicht wissend, dass die „Ordnung schafften“: die Wälder abholzten, die Bisonherden ausrotteten, den überlebenswichtigen Lachsfang einschränkten. Der weiße Mann hat das Land gezähmt: der Ackerbau war das erste Verbrechen, das sie den Völkern antaten. Eine erzwungene Seßhaftigkeit für Völker, die seit Jahrtausenden in Einklang mit der Natur und ohne Anhäufung von Gütern lebten. Und auch die Reservate für die Überlebenden sind ein Ordnungsprinzip.

Alles beginnt mit einer Razzia, Die Lachsfangnetze werden konfisziert, der Lebensunterhalt der Mi’gmaqs vernichtet: 300 Bewaffnete gegen die Bewohner des Reservats. Aber es geht um mehr, die Indigenen sind nur ein Mosaik im Great Game, das die Provinzregierung von Quebec gegen die Bundesregierung ausficht.
Eines der unschuldigen Opfer in diesem ungleichen Kampf ist Océane, die an dem Tag der Razzia ihren Geburtstag feiert. Sie kann entkommen. Der Ex-Ranger Leclerc findet sie im verängstigt und verstört im tiefen Farn, als er zum Angeln will. Er bringt sie in seine Hütte mitten im Wald, ohne Nachbarn, nur William, ein alter Indianer, lebt noch noch tiefer im Wald.
Océane wird jedoch von ihren Peinigern gefunden, an einen Stuhl gefesselt, geknebelt, halberstickt. Beide Peiniger überleben ihren Wachtdienst nicht.....
Denn Leclerc und William bringen Océane zu Caroline Segnete, einer Französin, die an der Berufsschule im Ort unterrichtet. Aber auch dort wird sie aufgestöbert und Leclerc und William können ihre Spuren bis zu einem Wohnmobil verfolgen: eine nuttige Glitzerwelt, ein mobiles Bordell. Für die Gäste eines großen Chalets im Wald, einem Rückzugsort für Reiche, sogar mit einem Sterne-Restaurant. Hier werden Geschäftsleute und Financiers, einflussreiche Politiker und Journalisten mit kubanischen Zigarren und edlen französischen Rotweinen verwöhnt. Und auch mit jungen Mädchen.
Der Verräter in diesem Drama, der Zuhälter für die Elite, ist Pierre Pesant, ein Anthropologe, der sich als Gutmensch ganz in den Dienst der indigenen Menschenrechte stellt, sogar im Reservat lebt. So hat er Zugang zu Menschen und Akten.

Diese dramatische Geschichte hat jedoch ein Happy End. Das hier jedoch n

Bewertung vom 09.05.2022
Fünfzig Gramm Paradies
Humaidan, Iman

Fünfzig Gramm Paradies


ausgezeichnet

Alles hängt mit allem zusammen.
Hanâ, Nurâ Sabah und Maja sind die vier weiblichen Figuren in diesem gesellschaftspolitischen Roman mit der Hintergrundkulisse des libanesischen Bürgerkriegs und den archaischen Überlieferungen von Ehre und Rache: die Syrerinnen Hanâ und Nurâ, die kurdische Sabah aus der Türkei und Maja aus dem Libanon: vier starke, konsequente Frauen.
Der Text mäandert zwischen den Biographien dieser vier Frauen im Erzählstil, in Tagebuchtexten und in Briefen. Da mischen sich Länder und Kulturen und Schicksale: kollektive und individuelle. Und natürlich gibt es auch männliche Protagonisten: Sijâd,(Majas verstorbener Mann), Schauki (Hanâs Liebhaber), Ahmed I und Ahmed II ((Kurzzeit-Liebhaber und verschollenener Ehemann von Sabah und Kemal, Nurâs Geliebter.
Die tragende Rolle aber spielt ein alter Lederkoffer. Verschüttet unter Ruinen, gefunden von Maja, die mit geschichtsträchtigem Spürsinn seinem Inhalt nachforscht, ihm Leben gibt. Denn
dieser alte Koffer enthält die Geschichte von Hanâ, die Selbstmord beging und das Tagebuch ihrer Schwester Nurâ, die deren Geschichte veröffentlicht und dadurch selbst zum Opfer wird. Und dann gibt es die Briefe von Kemal, einem türkischen Journalisten und Aktivisten an Nurâ: die beiden verbindet eine innige Liebesbeziehung über alle Grenzen hinweg, Grenzen der Ethnie, der Sprache und Kultur und der Geographie.
Der libanesische Bürgerkrieg ist unterschwellig immer präsent, auch wenn er zur Zeit nicht aktiv ist. Zuviel Akteure waren und sind beteiligt mit den unterschiedlichsten Interessen, um Macht, Geld und Einfluss zu behalten bzw. zu erlangen: die PLO, die maronitische Phalange, die Israelis und Syrer, die Milizen der Hisbollah und der Drusen. Das alles sind Nachwehen der Aufteilung des osmanischen Reiches durch die westlichen Mächte, die den „Kranken Mann am Bosporus“ besiegt hatten. So zieht sich Geschichte von der Vergangenheit in die Gegenwart und in die Zukunft. Um so bewundernswerter wie die Libanesen mit ihren Traumata, trotz immer neuer Krisen, trotz der vielen Grausamkeiten auch ihre Menschlichkeit bewahrt haben.
Dieser Koffer ist nicht nur ein alter abgegriffener verstaubter Lederkoffer. Er ist ein Symbol. Denn er ist ein Bewahrungsort und Träger von Erinnerungen. Er ist kein touristischer Koffer, er enthält keine Souvenirs und doch ist er ein Reise-Relikt. Die biographischen Lebensreisen fanden in ihm ihren letzten Platz. Ein Relikt der Lebensreisen von Hanâ, Nurâ und Kemal. Aus diesem emotionalen Puzzle bildet Maja ein finales Bild, in dem auch sie ihren Platz finden wird. Sabah war Nurâs Vertrauensperson. Sie übermittelt Details, die der Kofferinhalt vorenthält: wo das gemeinsame Kind von Nurâ und Kemal geblieben ist: es wurde nämlich nicht mit der Mutter zusammen Opfer eines Anschlags, sondern von Sabah an eine dubiose Frau weitergegeben. Hier wird das Thema von Menschenhandel angesprochen. Ein Nebenschauplatz vieler Kriege.
Eine anfangs verwirrende Lektüre, die sich aber peu a peu zu einem Ganzen vollendet. Und die Leserschaft hineinzieht in Geschichten von Liebe und Ängsten, von Vertrauen und auch von Feindschaft. Themen, die überall auf der Welt präsent sind, mit landes- und sittenspezifischen Variationen. Aber Essenz des Menschseins sind. Der vorliegende Roman wird angereichert durch die levantinische Essenz. Er spielt nicht an der Peripherie im Nirgendwo, sondern im Zentrum einer ganz eigenen Welt: der Welt des Mittelmeer-Raumes.
„Orte, an denen du wohnst, sind Spiegel für dich. Wohin du auch gehen magst, mach den Ort zu deinem Ort und bewahre dir das Leuchten deiner Seele.“
Und als Quintessenz ein Zitat von Mahmud Darwisch: „Sei wer du bist, wo du auch bist“

Bewertung vom 24.03.2022
Ändere deine Welt
Herrou, Cédric

Ändere deine Welt


ausgezeichnet

Quijote und Galileo reichen sich die Hände.

Cédric Cerrou ist ein moderner Don Quijote, der gegen die Windmühlen von Rassismus und Behörden kämpft. Aber nicht nur ein einzelner Sancho Panza unterstützt ihn, sondern eine ganze Armada engagierter Freiwilliger. Aber vor allem der Glaube an das Credo der französischen Republik: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ liefert ihm Kraft. Diese drei „Slogans“ sind für ihn eben nicht nur bürokratische Papiertiger, sondern wahre Werte. Europäische Werte, die es allerdings nicht verhindern, dass das Mare nostrum zu einer Todesfalle wird und Menschen, die die Sahara und die Meeresfluten bezwungen haben, die Folter, Vergewaltigungen und Erpressungen überlebt haben, zu Ungewollten, zu Überflüssigen werden, zu Nicht-Menschen. Er scheut sich nicht, die Judentransporte im 2. Weltkrieg mit der Abschiebung, Wegschiebung dieser Menschen zu vergleichen. Obwohl er sich selbstredend darüber klar ist, dass dieser Vergleich eigentlich unakzeptabel ist. Dass es sich um zwei nicht vergleichbare Phänomene handelt, obwohl wiederum die Parallelen: Unmenschlichkeit auf europäischem Boden, nicht so leichtfertig abzuwinken sind.

Seine „Story“ beginnt im Frühjahr 2016, hat aber wie jede Geschichte ein Vorspiel.
Cédric Herrou ist ein Einzelgänger (konkreter: er war ein Einzelgänger), der sich in das grenznahe Royatal zwischen Italien und Frankreich zurückgezogen hat. In Nizza geboren, im Arianeviertel, einem sog. volkstümlichen Viertel, das man auch als Ghetto für die Armen, Schwarzen und Araber bezeichnete. Seine Mutter war ihm Vorbild – sie hat für eine Kinderschutz-Organisation Pflegekinder aufgezogen; Kinder, die niemand haben wollte. Kinder, die ihm und seinem Bruder vertraut und schwesterlich/brüderlich wurden.
Eine Afrika-Reise öffnet ihm die Augen: bei der Rückkehr sieht er, dass für seine Freunde die Zeit stehen geblieben ist, er selbst jedoch seine kleine Welt und die große Welt jetzt mit anderen Augen sieht. Weg von den Gefühllosen und den Gleichgültigen, ein freier Mensch sein. Er kauft ein dschungelähnliches Stück Land mit einer Hütte und einer Olivenplantage. Aber auch im Tal, in dem Einheimische und städtische Aussteiger (oder Einsteiger) leben, bleibt er ein Fremder ohne schwarz oder muslimisch zu sein.

Die große Welt holt die kleine Welt ein und Herrou wird im Laufe der nächsten Jahre zu dem Feindbild für die Hohenpriester des „Frankreich den Franzosen“. Er wird zum schleusenden „Kriminellen", zum Nestbeschmutzer, zum Paria abgestempelt. Er weiß nichts über Asylrecht, er ist kein Aktivist, er liebt die Menschheit nicht genug, um sie zu retten.Und doch wird aus ihm ein „Menschenfischer“. Einer, der von nun an sein Leben mit den Geflüchteten aus dem Sudan, aus Eritrea und aus Libyen teilt, einer, dem sie vertrauen und der ihnen ihre Würde zurückgibt, sie nicht mit Fragen belästigt, aber ihre tragischen Lebensläufe erahnt.

Es ist aufschlussreiche zu lesen, wie er zu einer Persona non grata stilisiert wird, wie er immer wieder verhaftet wird und doch immer wieder siegt. Ganz deutlich beschreibt er, wie „Ausländer und Geflüchtete“ ein Politikum sind, ein Geschäftskapital für gewisse politische Kreise, natürlich immer nur auf die „falschen“ Geflüchteten und Ausländer bezogen.
Cédric Herrou bietet den heimatlosen und traumatisiertenMenschen ein Schlüsselloch für eine neue Zukunft und findet zum Schluss einen neuen Fixpunkt für sie in der Emmaüs-Stiftung Roya, wo sie wieder zu Handelnden werden statt antriebslos im Meer des Nichts zu navigieren.

Die Welt braucht Menschen wie Cédric Herrou, die Welt braucht keine Fahnenschwenker und Worthülsenproduzenten. Sie braucht gelebte Zivilcourage und gelebte Menschlichkeit – wenn wir alle durch diese Lektüre ein Stückchen davon für uns mitnehmen und aktiv umsetzen, dann würde sich die Welt ändern.
Cédric.Herrou ist kein Held. Er ist ein Mensch. Und schon Brechts Galileo erkannte:

„Unglücklich das Land, das keine Helden hat!“
„Nein. Un

Bewertung vom 07.03.2022
Hana
Mornstajnová, Alena

Hana


ausgezeichnet

Es gibt kein richtiges Leben im falschen. (Adorno)

Das Leben von vier Frauen bildet das Gerüst dieses Romans. Der 1. Teil handelt in Ich-Form von der jungen Mira (1954-1963). Der 3. Teil, ebenfalls als Ich-Erzählung, handelt von Hana und ihrem Leben (1942 -1963). Der Teil „Die vor mir“ spielt zwischen 1933-1945 und ist größtenteils in neutraler Erzählform geschrieben.

Die Hauptpersonen sind Elsa, deren Töchter Rosa und Hana und Mira, Rosas Tochter.
Weitere Figuren sind Ivana und ihr Mann Jaroslav Horáček. Deren Kinder Ida und Gustav. Ludmila Karáskova und ihr Sohn Karel. Leo Gross und Jarka sowie Anton Urbánek.
Aus ihnen wird ein komplexes Geflecht aus Schicksalsfäden, die in die Zeit vor Hitlers Einmarsch in die Tschechoslowakei bis in die frühen Nachkriegsjahre reichen.


Der Roman beginnt mit Rosas 30. Geburtstag mit verzierten Spritzkringeln, aus der besten Konditorei der Stadt. Diese Kringel waren Todeskringel, typhusverseucht durch das schlechte städtische Brunnenwasser. Nur Hana und Mira überlebten. Mira war plötzlich allein, die Tante monatelang im Spital. Sie kam zu Ivana, der ehemals besten Freundin ihrer Tante, und deren Mann Jaroslav. Der brachte sie später zu Hana. Mira wusste nichts von deren Leben. Warum diese ihr so fremde Frau so eigenbrötlerisch war. Die nur in einem fest strukturierten Tag überleben konnte. Die Angst hatte vor Berührungen, die kaum sprach, immer ein Stück trockenes Brot in der Rocktasche.

Die Familiengeschichte beinhaltet den Abtransport von Elsa, ihren Eltern und Hana nach Theresienstadt. Rosa fand Unterschlupf bei Elsas Freundin Ludmila. Hana wollte bleiben, um Jaroslav Horáček zu heiraten. Für ihn als Soldat war Hana eine gute Partie, denn Soldaten durften nur Frauen mit einer Mitgift heiraten. Er hätte jedoch Ivana vorgezogen. Als sein Hauptmann ihm sagte, dass eine Ehe mit einer Jüdin verboten sei, zog er sich von Hana zurück, die immer noch bienenfleißig an ihrer Aussteuer nähte, vertröstete sie, ohne ihr die Wahrheit zu gestehen.
Sie entging ihrem Schicksal nicht, Rosa blieb zurück und kümmerte sich um Ludmila, deren Sohn Karel sich bald ein rosaleeres Leben nicht mehr vorstellen konnte.
Ansonsten lebte er für seine Uhren, er tickte und pendelte mit ihnen durch das Leben.

Elsas Eltern bekamen den Befehl zum Transportgen Osten, sie wollte sie nicht allein lassen und begleitete sie. Hana sollte bleiben. „Wenn alles vorbei ist, treffen wir uns zuhause“. Das klingt fast nach dem tschechischen Schelm Schwejk „Nach dem Krieg um halb sechs im „Kelch“.

Im Ghetto war Hana allein, nur Jarka war ihr nah. Angst war ihre ständige Begleiterin. Sie ging eine Beziehung mit Leo Gross ein, einem Koch. Doch die ‚„Kosten-Nutzen“-Rechnung bekam eine menschliche Nuance. Sie träumten von einem Leben in Prag, das gab ihnen Kraft zum Überleben. Hana wurde schwanger und verriet ungewollt, wer der Vater war. Den Winzlingssohn bekam sie nicht zu Gesicht und auch Leo sah sie nicht wieder.

Hana verglich ihre Seele mit einem Zuckerhut, bei jedem Schicksalsschlag sprang ein Stückchen ab, er wurde kleiner und kleiner und bei Leos Abtransport zersprang die Hälfte in 1000 Stückchen.
Sie kam nach Auschwitz. Nach links eingereiht, rechts wäre sie zu Ascheflocken geworden, so wurde sie zu einer Nummer, träumte von der Freiheit des elektrisch geladenen Zaunes.


Hana überlebte und kehrte 1945 in die Heimatstadt zurück. Das Elternhaus stand noch. Herr Urbánek war da, dem die Mutter den Laden pro forma verkauft hatte. Er weinte aus Mitleid und Entsetzen vor dem, was er sah: Weiße Haare mit kahlen Stellen, stark geschwollene Fingergelenke, einen zahnlosen Mund, eingefallene Wangen. Augen, die sich versteckten, weil sie zu viel gesehen hatten.
In der Stadt sagten die Leute „Sie waren im Lager in Sicherheit vor den alliierten Bomben.“ Aber Hana sah sich von einer Welle aus Schuld verschlungen, sie ertrank in einem 20-jährigen Tränenmeer. Verschiedene Wahrnehmungs- und Opferebenen. Wie imm