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Buchbesprechung
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Bad Kissingen
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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

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Insgesamt 368 Bewertungen
Bewertung vom 18.08.2023
Im freien Fall
Heine, Helme;Radowitz, Gisela von

Im freien Fall


sehr gut

REZENSION – Nach schweren Schicksalsschlägen steht Max in Südafrika über einem 1 200 Meter tiefen Grubenschacht einer aufgelassenen Goldmine, die früher seinem Unternehmen gehörte. Das Schicksal hat ihm, dem gutwilligen Unternehmer, der vieles besser machen wollte als sein Vater, letztlich alles genommen hat. Doch an diesem Grubenschacht will er nun ganz allein, unabhängig von allen und allem, eine letzte Entscheidung für sich treffen – die freie Entscheidung über seinen Tod. Doch wieder schlägt ihm das Schicksal unerwartet ein Schnippchen.
Es sei „der Roman eines Lebens“, meint der C. Bertelsmann Verlag über das im Mai veröffentlichte Buch „Im freien Fall“ des Autoren-Ehepaares Helme Heine und Gisela von Radowitz (beide 82). Vorrangig geht es tatsächlich um Max' Leben, das wir in den letzten Sekunden seines freien Falles im Rückblick kennenlernen. Doch wird nicht jedes Leben von anderen mitbestimmt und beeinflusst selbst andere? Es stellt sich also die Frage: Sind wir wirklich fähig, unser Leben selbst zu steuern? Oder werden wir gelenkt, ohne uns dessen bewusst zu sein? Führt uns ein vorbestimmtes Schicksal bis zum Tod, ohne das wir selbst auf unseren Lebensweg einwirken können?
„Im freien Fall“ erfahren wir die Lebensgeschichte des Firmenerben Max, die sorglos begann. Sein berufliches Leben scheint vorherbestimmt, schließlich muss er als Alleinerbe das vom Vater in den Nachkriegsjahren aufgebaute und heute weltweit erfolgreiche Unternehmen mit vielen tausend Mitarbeitern eines Tages übernehmen. Doch nach sorgenfreien und erfolgreichen Anfangsjahren als Junior in der Unternehmensleitung, in denen sich Max vom dominanten Vater befreien konnte, und als glücklicher Ehemann und Vater zweier Kinder tauchen dann doch erste Beziehungsprobleme zwischen Senior und Junior, zwischen Max und Marie auf. Die Situation verschärft sich nach Verbreitung eines Gerüchts, das Unternehmen sei im letzten Kriegsjahr mit unredlichen Mitteln gegründet worden. Dieses Gerücht zerstört schließlich alles, woran Max bisher glaubte und wofür er bisher lebte.
Lohnt es sich also überhaupt, das eigene Leben selbst aktiv steuern zu wollen, wenn vielleicht doch alles von außen bestimmt ist, fragt sich Max: „Wenn es tatsächlich für alle Menschen ein vorgezeichnetes, festgeschriebenes Schicksal gäbe, dem niemand entkommen könne, …. hatte dann doch die Kirche recht mit ihrer These der Erbsünde? Belastete und beeinflusste die Schuld unserer Vorfahren auch uns, die Kinder und Kindeskinder?“ Oder hatte jeder „doch die Freiheit und das Recht, sein Leben so zu gestalten, wie er es wollte“? Die Autoren Heine und Radowitz argumentieren mit der Philosophie von Jean-Paul Sartre: „Es gibt kein höheres Ziel des Lebens. Der Mensch ist in eine sinnlose Welt geworfen. Die menschliche Existenz ist ein ständiges Scheitern. Alle Lebenden …. haben aber die Freiheit, diesen Zustand zu ändern. Der Mensch kann handeln.“
Über die Frage der Willensfreiheit des Menschen haben schon viele Philosophen gestritten. Natürlich lässt sich über die Frage selbstbestimmten Lebens und nicht zuletzt auch eines selbstbestimmten Todes endlos und ernsthaft philosophieren, dazu noch erörtern, ob es wirklich einen Gott gibt. Doch Heine und Radowitz bleiben in ihrem kurzen Roman an der Oberfläche, reißen die Problematik nur kurz an und überlassen das weitere Nachdenken uns Lesern. Ihr „Roman eines Lebens“, eine eigentlich recht normale Lebensgeschichte, liest sich leicht, ist voll Heiterkeit und Humor. Sie sehen das Leben positiv und kommen zum Ergebnis: Niemals aufgeben! Es ist nie zu spät für einen Neuanfang!

Bewertung vom 10.08.2023
Samson und das gestohlene Herz
Kurkow, Andrej

Samson und das gestohlene Herz


ausgezeichnet

REZENSION – Im Roman „Samson und das gestohlene Herz“, dem im Juli beim Diogenes Verlag erschienenen zweiten Band der satirischen Krimireihe des ukrainischen Schriftstellers Andrej Kurkow (62), muss sich der im postrevolutionären Jahr 1920 in Kiew lebende Ermittler Samson mühsam mit einem Fall illegalen Fleischhandels herumplagen. Um Handlung und Protagonisten besser zu verstehen, empfiehlt es sich, zuvor den ersten Band „Samson und Nadjeschda“ (2022) gelesen zu haben. Denn er erklärt, weshalb dem jungen Mitarbeiter der sowjetischen Miliz das rechte Ohr abgeschlagen wurde, das er seitdem in einer Metalldose im Arbeitszimmer seines von marodierenden Rotarmisten ermordeten Vaters aufbewahrt und mit dessen Hilfe er Gespräche belauschen kann, ohne selbst vor Ort zu sein: „Die nackte Ohröffnung auf seiner Rechten nahm alle Geräusche der Welt in sich auf.“ Auch versteht man die Beziehung zwischen Samson und Nadjeschda, die in gemeinsamer Wohnung zu einem Liebespaar werden: „Sie sah ihn kritisch an, wie eine Ehefrau ihren Herumtreiber von Mann, aber sogleich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck – sie erinnerte sich offenbar daran, dass sie nicht seine Frau, sondern nur bei ihm einquartiert war.“
Noch immer ist Bürgerkrieg (1918 – 1922) in der Ukraine. Sowjetische Bolschewiken kämpfen gegen Konservative, Demokraten, gemäßigte Sozialisten, Nationalisten und Weiße Armee. Im Januar 1919 hatten die Bolschewiken die Stadt Kiew erobert. Samson war eher zufällig und ohne Ausbildung als Mitarbeiter der sowjetischen Miliz verpflichtet worden. Seinem künftigen Vorgesetzten Najden hatte schon dessen Fähigkeit genügt, gute Berichte zu formulieren.
Im neuen Band geht es um illegalen Handel mit Fleisch. Wegen akuten Mangels war das private Schlachten und der Verkauf von Fleisch vom Regime plötzlich verboten worden. Allerdings hatte man versäumt, die Einwohner von Kiew darüber zu informieren. „Es war eine Zeit der Unruhe, der Gefahr und des Hungers.“ Es herrschte politische Willkür, die auch Samson, sein Kollege Cholodnij und der Vorgesetzte Najden zu spüren bekommen, als ihnen der Tschekist Abjasow unerwartet vor die Nase gesetzt wird. Kaum haben Samson und Cholodnij mit ihren Ermittlungen im Fleisch-Schwarzhandel begonnen, wird Nadjeschda, Mitarbeiterin im Amt für Statistik, von Eisenbahnern gefangen genommen. Nun muss Samson auch noch seine Geliebte befreien.
Auch für diesen zweiten Band gilt: Es ist eine mit liebevoll charakterisierten Protagonisten besetzte und in fast märchenhaft-poetischer Sprache verfasste Mischung aus historischem Roman, Liebesgeschichte und Krimi. Allerdings ist der unspektakuläre Kriminalfall für den Autor lediglich Mittel zum Zweck: Andrej Kurkow blickt in seiner Krimireihe auf die Zeit der ersten sowjetischen Besetzung im Jahr 1920 zurück. Er schildert satirisch-ironisch die Alltagssituation der Normalbürger in den Wirren des Bürgerkriegs, in dessen Verlauf es für sie manchmal unübersichtlich war, wer sie gerade beherrschte. So rät der alte Fotograf, der Samson und Nadjeschda fotografieren soll, vom Foto in Uniform ab: „Sie merken doch selbst, wie oft bei uns hier die Machthaber wechseln. Von daher ist es besser, sich nicht in Kleidung ablichten zu lassen, die auf konkrete Machthaber hinweist. Wer weiß schon, wer als nächstes nach Kiew kommt?“
Der durchaus unterhaltsame Roman „Samson und das gestohlene Herz“ ist kein gewöhnlicher Krimi. Man denkt sofort an die unschuldigen Menschen in den heute von russischen Truppen erneut besetzten Ostprovinzen der Ukraine. „Überhaupt gab es zu wenig Salz, wie es überhaupt auch zu wenig Zucker gab. Das war die bittere Wahrheit dieser unruhigen Zeit, die man weder mit Salz noch mit Zucker schmackhaft machen konnte.“ Aber das Alltagsleben muss auch dort heute wie einst im Jahr 1920 irgendwie weitergehen, egal wer gerade regiert. So absurd diese Situation damals wie heute ist, steigert Andrej Kurkow in seinem Roman alles derart ins Skurrile, dass aus der Tragik des Geschehens schon wieder Komik wird. Auf den angekündigten dritten Band darf man gespannt sein.

Bewertung vom 29.07.2023
Eines Tages wird es leer sein
Lindenberg, Hugo

Eines Tages wird es leer sein


ausgezeichnet

REZENSION – Es ist wahrlich nicht der erste Roman über die in der nächsten und übernächsten Generation noch nachwirkenden, durch Holocaust oder Flucht und Vertreibung erlittenen Traumata jüdischer Familien. Doch der nur 168 Seiten kurze Debütroman „Eines Tages wird es leer sein“ des französischen Journalisten Hugo Lindenberg (45), im März auf Deutsch in der Edition Nautilus veröffentlicht, verschafft sich durch die Figur seines erst zehnjährigen Erzählers, durch die der Einsamkeit dieses Jungen angepasste Sprache – in der deutschen Ausgabe ein Verdienst der Übersetzerin Lena Müller – sowie durch die einerseits empathische, andererseits auch beklemmende Atmosphäre der Geschichte eines Sommererlebnisses am Strand der Normandie eine gewisse Alleinstellung in diesem Genre. Völlig zu Recht wurde „Eines Tages wird es leer sein“ in Frankreich von Radiohörern mit dem Prix Livre Inter, von einer Jury als “schönster Roman des Frühlings“ mit dem Prix Françoise Sagan sowie mit zwei weiteren Literaturpreisen ausgezeichnet.
Lindenberg lässt einen zehnjährigen Jungen vom Strandurlaub mit Großmutter und Tante in den späten 1980er Jahren erzählen. Am Strandleben nimmt er nur als Beobachter teil. Er spielt allein, wie er es als elternloses Kind gewohnt ist, ausgegrenzt von seiner Umwelt. Aus dieser intuitiv selbst gewählten Isolation holt ihn nach ein paar Tagen der gleichaltrige Baptiste – ein „richtiger Junge“ mit einer „richtigen Familie“. Der Erzähler ist von dessen Unbekümmertheit und Unbeschwertheit fasziniert. Er nimmt darin etwas Besonderes wahr, das ihm selbst fehlt. Umgekehrt empfindet auch Baptist seine neue Urlaubsbekanntschaft bald als Besonderheit: „Ich habe noch einen Freund, der ist Jude. … Ihr habt's gut, ich bin gar nichts.“
Baptist nimmt den Erzähler mit zu sich nach Hause, wo er von dessen Mutter liebevoll aufgenommen wird. Der Junge, ohne Erinnerung an eigene Eltern – vom Vater ist nichts zu erfahren, der Selbstmord der Mutter wird vor ihm verschwiegen –, entwickelt zu ihr eine enge Beziehung. Ihm wird wohl jetzt erst bewusst, welches Familienglück ihm alle Jahre fehlte: „Kinder, die bei den ersten Sonnenstrahlen sonntags das elterliche Bett entern und sich unter die Fittiche der Familie flüchten. 'Fittiche', dieses seltsame Wort, das … wahrscheinlich von Liebe, Zärtlichkeit und fröhlichen Küssen erzählen soll. … Bei uns gibt es keine Fittiche und kein Kind. Es gibt nur Überlebende, die zwischen Geistern umherirren“ - die Geister der im Holocaust ermordeten Angehörigen.
Der Junge schämt sich vor Baptiste für seine Großmutter, die, vor Jahrzehnten aus dem polnischen Łódź vertrieben, immer noch mit hartem Stetl-Akzent spricht und damit gegenüber Baptiste zugleich auch seine eigene Andersartigkeit offenbart. Sie scheint sich mit intensiver Hausarbeit von Erinnerungen und ihrem Trauma ablenken zu wollen. Der Junge schämt sich auch für seine Tante, die mit ihrem Leben nicht klarzukommen scheint und alle Tage als Kettenraucherin allein in ihrem Zimmer bleibt. Von derart traumatischer Atmosphäre ist der zehnjährige Erzähler, der immer noch nachts ins Bett macht, geprägt. Ihm fehlt nicht nur eine „richtige Familie“, sondern er hat nie eine unbeschwerte Kindheit erleben dürfen. Ihm fehlt das „richtige Leben“ eines Zehnjährigen, eine aus kindlicher Unschuld entwickelte eigene Persönlichkeit und das natürlich gewachsene Selbstbewusstsein einer eigenen Identität. Hat Hugo Lindenberg wohl deshalb seinem jungen Protagonisten keinen Vornamen gegeben?
Es ist diese Stimmung, diese eigenartig beklemmende Atmosphäre der Geschichte, aber andererseits auch die Bewunderung für den kindlichen Erzähler, der, auf sich allein gestellt, mit allen Widrigkeiten umzugehen vermag, was den Roman in gewisser Weise spannend und so lesenswert macht. Mag sein, dass Hugo Lindenberg seine Geschichte vor allem deshalb so besonders authentisch aus Sicht eines Zehnjährigen erzählen konnte, weil er vielleicht selbst als 1978 geborener Enkel polnisch-jüdischer Immigranten Ende der 1980er Jahre als Kind ähnliche Empfindungen hatte und vergleichbare Erfahrungen machen musste …..

Bewertung vom 23.07.2023
Das Schloss der Schriftsteller
Neumahr, Uwe

Das Schloss der Schriftsteller


ausgezeichnet

REZENSION – Über den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess vom 20. November 1945 bis 1. Oktober 1946, in dem die vier Siegermächte gemeinsam über die wichtigsten Nazi-Funktionäre zu Gericht saßen, wurde schon viel geschrieben. Somit könnte man meinen, es sei alles gesagt. Doch mit seinem faszinierenden Sachbuch „Das Schloss der Schriftsteller“, im April beim Verlag C. H. Beck erschienen, beweist uns Autor Uwe Neumahr das Gegenteil: Basierend auf der 2015 von Steffen Radlmaier anlässlich des 50. Jahrestages des Prozessbeginns veröffentlichten Broschüre „Das Bleistiftschloss als Press Camp“ sowie bislang unveröffentlichten Quellen, steht in Neumahrs Buch nicht unbedingt der Prozess im Mittelpunkt, sondern vielmehr der Alltag der zur Berichterstattung nach Nürnberg entsandten Korrespondenten aus aller Welt, ihre Arbeit, ihre Gefühle und die Auswirkungen des Nürnberger Prozesses auf ihr späteres Wirken. Die meisten Journalisten und Schriftsteller waren in dem von den Amerikanern beschlagnahmten Schloss der Fabrikantenfamilie Faber-Castell im nahen Dorf Stein untergebracht.
Dieses Gipfeltreffen der „Crème de la Crème der damaligen Presse- und Literaturszene“ war ebenso ein in der Geschichte einmaliges Ereignis wie der Prozess: „Weltliteratur traf auf Weltgeschichte“. Obwohl sein Werk auch ein „Buch über Sprachlosigkeit und den literarischen Umgang mit dem Unsagbaren“ ist, gelingt es dem Autor immer wieder durch Einbindung von Klatsch- und Tratschgeschichten wie den Schilderungen von Eifersüchteleien oder Liebschaften zwischen den literarischen Beobachtern sein Sachbuch auch für Freunde der Belletristik interessant zu machen. So beschreibt Erich Kästner die aus dem US-Exil angereiste Erika Mann als „patriotisch amerikanisch“, während die Mann-Tochter dem nach Norwegen berichtenden Korrespondenten Willy Brandt „ein wenig auf die Nerven [ging, indem sie] vorgab, sie könne nicht mehr deutsch reden.“ Sogar Golo Mann fühlte sich von seiner Schwester genervt, die Deutschland und alle Deutschen unterschiedslos verdammte.
Klatsch und Tratsch gab es zur Genüge, mussten sich doch die Korrespondenten nicht nur während der oft mehrtägigen Verhandlungspausen des „Kaugummiprozesses“ ihre Zeit fern der Heimat vertreiben, sondern sich auch psychisch von dem im Gerichtssaal Gesehenen und Gehörten entlasten. „Sie wohnten und schrieben auf Schloss Faber-Castell, diskutierten, tanzten, verzweifelten, tranken. … Im Gerichtsaal blickten sie den Verbrechern ins Angesicht, im Press Camp auf dem Schloss versuchten sie, das Unfassbare in Worte zu fassen.“ Ihr Blick „in den Abgrund der Geschichte“ veränderte nicht nur die Bewohner des Schlosses, sondern auch ihre Art zu schreiben.
Wie dies beim Einzelnen spürbar wurde, zeigt Uwe Neumahr nach einführenden Kapiteln über das unkomfortable Leben und Arbeiten auf dem Faber-Schloss sowie dessen Verwaltung durch amerikanische Offiziere in den nachfolgenden Kapiteln, in deren Vordergrund jeweils ein bekannter Reporter oder Schriftsteller steht: John Dos Passos, Erich Kästner, Erika Mann, William Shirer, Alfred Döblin, Janet Flanner, Elsa Triolet, Willy Brandt, Markus Wolf, Rebecca West, Martha Gellhorn und nicht zuletzt Wolfgang Hildesheimer. Er war damals noch nicht Schriftsteller, sondern arbeitete als Simultandolmetscher im Gerichtssaal. Das schnellere Simultandolmetschen war zwecks Zeitersparnis erstmals beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess eingeführt worden.
Nicht nur am Beispiel Hildesheimers, aber besonders bemerkbar an dessen weiterem Lebenslauf zeigt Neumahr, wie sich jene Eindrücke in Nürnberg auf sein späteres Wirken und die schriftstellerische Arbeit seiner Kolleginnen und Kollegen auswirkte. So ist „Das Schloss der Schriftsteller“ vor allem eine für literaturgeschichtlich interessierte Leser unbedingt empfehlenswerte Lektüre.

Bewertung vom 15.07.2023
Di Bernardo
Korsakova, Natasha

Di Bernardo


ausgezeichnet

REZENSION - „Die Musikwelt hat es tatsächlich in sich, aber über echte Morde in der Branche habe ich bisher noch nichts gehört“, versicherte die in Moskau geborene und in der italienischen Schweiz lebende, fünf Sprachen beherrschende Schriftstellerin Natasha Korsakova (50) bei der Premierenlesung aus ihrem wieder auf Deutsch verfassten Kriminalroman „Di Bernardo“, erschienen im Juni beim Septime Verlag (Wien). Sie muss es wissen, ist sie doch neben ihrer literarischen Arbeit eine seit vielen Jahren weltbekannte Violinistin. Wenn auch nicht in der Realität, häufen sich doch in ihrem Krimis die Morde in Künstlerkreisen umso mehr. Nach „Tödliche Sonate“ (2018) und „Römisches Finale“ (2019), beide inzwischen ins Italienische übersetzt und dort bereits doppelt ausgezeichnet, ist „Di Bernardo“ nun ihr dritter in der Klassik-Musikbranche spielender Krimi um den aus Kalabrien nach Rom versetzten Commissario Dionisio Di Bernardo.
Diesmal wird der Commissario zur Basilica di San Giovanni in Laterano gerufen. Dort liegt der bekannte römische Komponist Alessandro Ferro ermordet in einer riesigen Blutlache, eine Pistole in der Hand. Völlig unbekannt ist dagegen die junge Frau, die nur wenige Meter von ihm entfernt, erschossen aufgefunden wird. Eine der ersten Verdächtigen ist Alessandros Ex-Freundin Elisa, eine mit Umweltaktivisten sympathisierende Geigerin. Eine andere Spur führt bald zu einem römischen Bogenbauer. Kaum verfolgen der Commissario und sein engagiertes Team ihre erste heiße Spur, wird Di Bernardo zu einer im Tiber gefundenen Wasserleiche gerufen. Durch diesen dritten Mord lösen sich seine ersten Hypothesen in Luft auf und er muss seine Ermittlungen von vorn beginnen.
Wieder einmal muss Di Bernardo in der Musikwelt ermitteln, obwohl er mit klassischer Musik kaum etwas anfangen kann, ebenso wenig wie mit modernen elektronischen Hilfsmitteln in der Polizeiarbeit. Der Krawatten sammelnde Commissario braucht stattdessen „Raum war für Intuition. Für den Blick auf das Ganze. Das war seine Musik.“ Konservativ wie ihr Protagonist ist auf angenehmste Weise auch Korsakovas Krimi: Logisch aufgebaut, gut strukturiert, unaufgeregt in der Handlung, angenehm in der Sprache, leicht gewürzt mit einer Prise Humor – Unterhaltung vom Feinsten.
Doch neben seinem Unterhaltungswert überzeugt „Di Bernardo“ durch einen weiteren Aspekt: Die Autorin widmet sich diesmal dem Umweltschutz und hier speziell dem illegalen Handel mit Edelhölzern und der weltweit operierenden Holzmafia – allerdings nicht etwa, weil das Thema sich aktuell gut „verkauft“, sondern weil Korsakova seit 2011 als Kulturbotschafterin der italienischen Umweltschutzorganisation „Fondazione Sorella Natura“ in Assisi selbst engagiert ist. Wohltuend ist dabei, dass sie als aktive Umweltschützerin ihren Roman nicht als Medium missbraucht, um mit erhobenem Zeigefinger belehrend auf ihre Leser einzuwirken. Stattdessen vermittelt sie sachlich-informativ eine Reihe von Fakten, die den meisten Menschen außerhalb der Klassik-Szene und des Instrumentenbaus nicht bekannt sein dürften. „Kaum jemand würde denken, dass auch Streichinstrumente ein Umweltproblem darstellen“, lässt sie Alberto seinem Vater, dem Kommissar, berichten. „Doch das wertvolle Ebenholz für das Griffbrett zum Beispiel ist geschützt. Oder die Bögen; man kann mit Carbon ebenso wunderbare Bögen bauen.“ Doch seit 200 Jahren wird für den Bau von Geigenbögen bevorzugt das brasilianische Edelholz Fernambuk genutzt, das längst als „gefährdete Art“ ins Washingtoner Artenschutzabkommen aufgenommen ist. „Dieses Holz gilt als unbestrittenes Nonplusultra im internationalen Bogenbau-Handwerk“, bestätigt die Krimi-Autorin und berühmte Violinistin im Nachwort. Sie selbst nutzt für ihr Geigenspiel zwei alte Bögen aus Fernambuk.
Ungewöhnlich ist die erstmalige Aufnahme von fünf QR-Codes im Buch, mit denen Korsakova ihre Leser zu Internet-Videos führt, in denen sie fünf der im Krimi erwähnten Musikstücke auf ihrer Geige spielt. Nicht zuletzt deshalb ist der Krimi „Di Bernardo“ sowohl gute Unterhaltung für Krimi-Liebhaber als auch eine musikalische und informative Lektüre für Freunde klassischer Musik.

Bewertung vom 09.07.2023
Seemann vom Siebener
Frank, Arno

Seemann vom Siebener


sehr gut

REZENSION – Sechs Jahre nach seinem autobiografisch geprägten Romandebüt „So, und jetzt kommst du“ (2017) veröffentlichte der Journalist Arno Frank (52) nun seinen zweiten Roman „Seemann vom Siebener“, erschienen im März beim Tropen Verlag. Der Roman überrascht durch seine Schlichtheit, schildert doch der Autor auf 240 Seiten nichts anderes als das uns allen wohl bekannte Freizeitgeschehen an einem heißen Spätsommertag in einem „klapprigen Freibad aus den Siebzigerjahren … einem „Bezirk fürs Nichtstun, aber auf rührend deutsche Weise, also verkleidet als Sportplatz zur aquatischen Leibesertüchtigung“. Die eigentliche Faszination des Romans liegt in seiner Vielschichtigkeit und tiefgründigen Charakterisierung seiner Figuren – dem Anschein nach ganz normale Badegäste unterschiedlichen Alters, wie sie jeder von uns bei einem Besuch in einem solchen Freibad beobachten kann. Und doch ist jeder von ihnen auf seine Art besonders: Wir erfahren von persönlichen Schicksalen und Krisen, Sehnsüchten und Hoffnungen. Arno Frank schildert in seinem Buch, wie es in dessen Klappentext treffend formuliert ist, „einen Sommertag, der das ganze Leben erzählt, … vom Weggehen und Zurückkommen, vom Bleiben und der Suche nach dem Glück“.
Als Leser ziehen wir mit Franks Protagonisten unsere Bahn im Schwimmbecken oder sonnen uns auf der Liegewiese mit Blick auf den Sieben-Meter-Sprungturm, der schon vor langer Zeit nach einem tragischen Unglücksfall gesperrt wurde, und beobachten die Menschen in unserem Blickfeld. Da ist der altgediente Bademeister Kiontke, der seit dem von ihm unverschuldeten Unglücksfall dennoch mit Schuldgefühlen lebt. An der Kasse sitzt wie immer seine Kollegin Renate, die, ohne sich dessen bewusst zu sein, doch irgendwie Gefallen am Bademeister hat. Wir lernen Josefine „locker jenseits der Vierzig“ kennen, die, seit Jahren von ihrem Mann getrennt, unsicher ist, ob sie heute wirklich zu dessen Beisetzung gehen soll, stattdessen im Bad zu vergessen sucht. „Ihre Ehe war wie ein Kühlschrank geworden, dessen Gefrierfach nicht ganz richtig schließt.“ Hier trifft sie auf ihre Jugendliebe Lennart, einen international bekannten Porträt- und Kriegsfotografen, der in einer Lebens- und Wirkungskrise steckt, nur anlässlich der Beisetzung seines Jugendfreundes in die kleinstädtische Heimatwelt zurückgekehrt ist und feststellt, dass sich hier kaum etwas verändert hat. „Nirgendwo ist die Zeit so widerständig gegen Veränderung wie im Schwimmbad“, weiß auch Bademeister Kiontke.
Besonders einfühlend beschreibt Arno Frank, die an Demenz leidende Isobel Trautheimer, deren längst verstorbener Ehemann Rüdiger dieses Freibad vor Jahrzehnten geplant und ihr zuliebe um die alte Linde herum gebaut hat. Sie selbst kennt als langjährige Lehrerin viele der Badegäste schon aus deren Schulzeit, hat sie aber vergessen. Isobel verliert sich zunehmend in ihren Tagträumen – zurück in ihrer Zeit als Jungverheiratete, als es dieses Freibad noch gar nicht gab. Sie hat mit ihrem Leben bereits friedvoll abgeschlossen, während eine junge Frau, von einer schweren Lebenskrise gepeinigt, sich davon mit dem verbotenen Sprung vom Siebener endlich befreien und ein neues Leben beginnen will.
Hinter dem fröhlichen, nur scheinbar oberflächlichen Treiben im Schwimmbad steckt in „Seemann vom Siebener“ in Wahrheit so viel Tiefgang, dass sich dem Leser die von Frank Arno mitfühlend geschilderten Schicksale seiner Protagonisten wie die Sommerhitze einbrennen. Nach Lektüre dieses Buches dürfte es beim nächsten Besuch im Freibad nicht mehr so einfach sein, die Stunden wie früher leicht und unbeschwert zu genießen, ohne sich dabei dieses Romans zu erinnern und die fröhliche Stimmung umgebender Badegäste zu hinterfragen.

Bewertung vom 30.06.2023
Das Nordseekind
Spreckelsen, Tilman

Das Nordseekind


gut

REZENSION – Nachdem die ersten vier Krimis des Schriftstellers und Journalisten Tilman Spreckelsen (56) um den jungen Anwalt, Dichter und nun auch Ermittler Theodor Storm (1817-1888), deren erster Band „Das Nordseegrab“ (2014) mit dem Theodor-Storm-Preis ausgezeichnet wurde, als Taschenbuchreihe im Fischer Verlag veröffentlicht wurden, erschien Spreckelsens fünfter Storm-Krimi „Das Nordseekind“ nun im April beim Aufbau Verlag. Doch trotz dieses überraschenden Verlagswechsels unterscheidet sich der neue Krimi in keiner Weise von den früheren: Die Handlung bezieht sich wie gewohnt auf wahre Begebenheiten rund um Husum und das damals zu Dänemark gehörende Herzogtum Schleswig, die Storm auch selbst später in seinen Novellen verarbeitete. So liest man über die Ereignisse um das „Nordseekind“ im Jahr 1845 auch in Storms erst zwölf Jahre später veröffentlichter Novelle „Auf dem Staatshof“ (1857).
Im „Nordseekind“ bekommt der erst 28-jährige Anwalt Theodor Storm, der sich weniger für die Juristerei als viel mehr für Dichtung und Chorgesang interessiert – zwei Jahre zuvor hatte er mit dem „Singverein“ den ersten gemischten Chor für Frauen- und Männerstimmen in Husum gegründet –, in seiner Kanzlei unangemeldeten Besuch einer Frau. Diese behauptet, Erbin eines Vermögens auf der Nordseehalbinsel Eiderstedt zu sein. Sie sei nach der Ermordung ihrer Eltern als dreijähriges Kind entführt und so um ihr rechtmäßiges Erbe gebracht worden, das sie sich nun mit Storms Hilfe zurückholen wolle. Ihr plötzliches Auftreten sorgt in Husum für Aufsehen und bei den jetzigen Eigentümern des Familienbesitzes für Aufregung. Doch trotz der dringlichen Forderung, sich ihres Falles anzunehmen, lehnt Storm zunächst ab, da er sich von der aufdringlichen und unglaubwürdig erscheinenden Frau nur belästigt fühlt. Als es allerdings zu ersten Morden kommt, die mit der Geschichte der Frau in direktem Zusammenhang zu stehen scheinen, nimmt Storm, unterstützt von seinem Schreiber Peter Söt, die Ermittlungen auf.
In die Kriminalhandlung des Jahres 1845 ist als Hintergrundgeschichte die Sage um die Wogenmänner aus dem 14. Jahrhundert eingebunden: Damals hatten sich viele durch Sturmfluten heimat- und brotlos gewordene Fischer und Bauern zu einer ihre Umwelt terrorisierenden Räuberbande auf der Halbinsel Eiderstedt zusammengerottet. Durch Raubzüge und Überfälle auf kleine Gehöfte und Enterung kleiner Handelsschiffe verbreiteten sie Angst und Schrecken, entführten Mädchen und Frauen. Vergewaltigungen, Mord und Totschlag waren in der Region an der Tagesordnung.
Dies alles – die Geschichte der Wogenmänner wie auch die Lebenssituation in und um Husum zur Mitte des 19. Jahrhundert – ist, von Spreckelsen bis ins Kleinste recherchiert, sehr lebendig und eindrucksvoll beschrieben. Allerdings hat er sich als Autor bewusst dichterischer Freiheiten bedient, um aus den historischen Fakten einen unterhaltsamen Roman machen zu können. Entsprechend hat er auch die historisch nachweisbaren Personen in seinem Sinn charakterlich verfremdet. Als Beispiel sei hier Storms damalige Verlobte und spätere Ehefrau, seine Cousine Constanze Esmarch (1825-1865), erwähnt: Während die wahre Constanze sich zeitgemäß ihrem Ehemann unterordnete, ist sie bei Spreckelsen die Aktivere von beiden, die Storm so manches Mal antreibt und zur Aufklärung seiner Fälle beiträgt. Storms historisch realen Kanzleischreiber Peter Söt macht Spreckelsen – als literarische Anleihe bei Conan Doyles Ermittler Sherlock Holmes und Dr. Watson – in seinem Roman zu dessen Ermittlungshelfer und Erzähler.
„Das Nordseekind“ überzeugt mehr durch die authentische Beschreibung der historischen Kulisse und weniger durch Spannung. So manches Mal dümpelt die Handlung vor sich hin wie ein kleiner Kutter im Husumer Hafen. Wer Action sucht, liegt hier also falsch. Wer sich aber für Husum, die „graue Stadt am Meer“, und das alte Herzogtum Schleswig interessiert, dem wird der Krimi sicher gefallen. Anschließend ist man versucht, sich die Novelle „Auf dem Staatshof“ vorzunehmen, in der Theodor Storm den Verfall dieses historischen Anwesens und das kurze Leben der letzten Erbin schildert.

Bewertung vom 13.06.2023
Brockesstraße Beletage
Dressler, Anette L.

Brockesstraße Beletage


gut

Der Roman "Brockesstraße Beletage" enttäuscht leider: Aus eigenen Familien-Erlebnissen als Flüchtling in Hamburg weiß ich, dass es nach Kriegsende zwischen einheimischen Städtern und bei ihnen zwangseingewiesenen Flüchtlingen sehr oft zu Spannungen kam, die Flüchtlinge aus dem fernen Osten, die den Westdeutschen fast wie Ausländer erschienen, nicht akzeptiert, sondern nur ungern geduldet waren. Doch in Anette Dresslers Roman ist davon kaum etwas zu spüren. Der Roman plätschert in seiner Handlung und im notgedrungenen Zusammenleben der ostpreußischen Lehrerswitwe Frieda aus gutbürgerlichem Beamtenhaushalt, gebildet und alles Französische liebend, sowie der ungebildeten Kurzwarenhändlerswitwe und Analphabetin Alma, in der Beletage des ihrer Schwiegermutter gehörenden Hauses als Mieterin geduldet, nur so dahin. Szenen wiederholen sich - wie Friedas trance-artigen Tagträume am Lübecker Bahnhof. Langatmig werden auch ihre Spaziergänge von einer Straße in die nächste geschildert - ein Mittel der Lübecker Autorin, ihre Heimatstadt zur Zeit der Währungsreform zu beschreiben. Wer nicht aus Lübeck stammt oder diese Hansestadt nicht kennt, dem wird der Roman nicht viel geben können, da der Handlung allein jegliche Dramatik fehlt. Von den "Konflikten, die durch die auseinanderklaffenden Lebenswelten der beiden Frauen entstehen", wie der Verlag das Buch anpreist und damit bestimmte Erwartungen beim Leser weckt, ist kaum zu erfahren. So muss man sich fast zwingen, nach Schluss eines Kapitels weiterzulesen. Hätte die Autorin aus ihrer Geschichte keinen 325-seitigen Roman gemacht, sondern alles zu einer maximal 100-seitigen Kurzgeschichte komprimiert, hätte "Brockesstraße Beletage" vielleicht auch für Nicht-Lübecker interessant werden können. So aber zieht sich die Handlung leider allzu sehr ..... Man spürt das persönliche Interesse der Autorin an ihrer Heimatstadt, weniger ihr literarisches Interesse, daraus eine für andere lesenswerte Geschichte zu machen.😢

Bewertung vom 11.06.2023
Nur zwei alte Männer
Sautner, Thomas

Nur zwei alte Männer


sehr gut

REZENSION - "Nur zwei alte Männer" ist zwar der Titel des neuen Romans von Thomas Sautner (53). Doch dies täuscht. Denn wie in früheren Werken des österreichischen Schriftstellers geht es auch in seiner im Februar beim Picus Verlag veröffentlichten Geschichte um weit mehr als nur um zwei alte, seit 40 Jahren in einem Villenviertel am Stadtrand Wiens Garten an Garten lebende Freunde: Der Roman handelt vom gnadenlos unaufhaltbaren Altern, vom Leben im Alter und im Rückblick auch vom Sinn des Lebens, von den schönen Seiten des Lebens, die es zu erkennen und auch im Alter noch zu pflegen gilt.
Sautner macht uns mit zwei alten Männer bekannt, die in ihren Charakteren nicht gegensätzlicher sein können: Da ist der einst für seine „Fotografien aus dem Bauch heraus“ so gefeierte Starfotograf Joseph Wasserstein (83), inzwischen längst in der Öffentlichkeit vergessen, „mürrisch und stocksteif“ und von einem „Gefühl von Endlichkeit ergriffen“, der mit seinem hohen Alter hadert und schon etwas ungepflegt daherkommt. Schon mehrmals hat er über die möglichen Varianten eines Freitods nachgedacht, aber letztlich doch keine umgesetzt. Und da ist der aus Syrien stammende ehemalige Tänzer Hakim Elvedin (76), „freudig federnden Schrittes“, der einst „freien orientalischen Tanz“ lehrte und auch im Alter seine Lebensfreude, seinen grenzenlosen Optimismus und seine charmante Wirkung auf Frauen nicht verloren hat.
Eines Tages bekommen sie Besuch von Julia Stern, Anfang 50, allein lebend, Mutter einer erwachsenen Tochter. Sie hat erfahren, dass Wasserstein ihr leiblicher Vater sein könnte. Schüchtern wie sie ist, hatte sie sich zuvor unter dem Vorwand angemeldet, einen Bildband über Wassersteins Arbeit als Fotograf erstellen zu wollen. Es bleibt nicht bei einem Besuch. Nach und nach freundet sich Julia mit den beiden Alten an, die ihr langsam zur Ersatzfamilie werden, ohne aber jemals über den wahren Grund ihrer Besuche zu sprechen, den Wasserstein aber dann irgendwann zu spüren glaubt.
Erst nach der Ankunft eines Raumschiffs und der Kontaktaufnahme des „göttlichen Wesens“ Malina mit der Menschheit - „Ihr seid unsere Kinder“ - lässt Wasserstein, Hakim und Julia erkennen, wie unbedeutend der Mensch hinsichtlich der Weite des Universums ist und wie nichtig die Probleme jedes Einzelnen sind: „Nicht wir finden sie, sondern sie uns. Sie sind es, die primitives Leben entdeckt haben.“
Die Stärke dieses warmherzigen Romans „Nur zwei alte Männer“ liegt in den leisen Zwischentönen des Textes und den freundschaftlich-frotzelnden Dialogen der beiden Alten - wenn Hakim zum Beispiel über Wassersteins Telefonklingelton meint, „du hättest auch Ennio Morricones 'Lied vom Tod' nehmen können“, der aber trocken antwortet: „'Planet der Affen' schien mir passender.“ Oder wenn Wasserstein seinen syrischen Nachbarn mit "Arrrabba!" anblafft, dieser ihm dann "Weana!" an den Kopf wirft. Hakim ist es auch, der seinem todessüchtigen Freund beibringt, sein Herz zu öffnen, seinen Frust rauszulassen und einfach mal kräftig zu fluchen: „Kreuzkümmel, Herrgott, noch einmal!“ Doch es ist Julia, die mit ihrem unerwarteten Erscheinen gleich dem der Außerirdischen schließlich Wassersteins Lebenseinstellung verändert: Er zeigt ihr gegenüber gewisse väterliche Gefühle, die er selbst als „Zeichen von Torschlusspanik vor dem Abkratzen, irgendwas dieser Kategorie“ abtut. Doch: „Er schien nicht nur bestens gelaunt, auch seine Wangen waren rosiger als sonst.“ So lässt Sautners gefühlvoller, mit Humor und Augenzwinkern verfasster Roman schließlich auch uns Leser zuversichtlich auf unser Altwerden und Altsein blicken.

Bewertung vom 01.06.2023
Requiem
Loeser , Karl Alfred

Requiem


ausgezeichnet

REZENSION – Dem Literatur-Scout und Herausgeber Peter Graf ist mit dem Roman „Requiem“ des deutschen Schriftstellers Karl Alfred Loeser (1909-1999) eine literarische Entdeckung gelungen, die es auch etwa 70 Jahre nach Fertigstellung des Manuskripts noch unbedingt zu lesen lohnt. Hauptberuflich als Bankangestellter tätig, war Loeser im Jahr 1934 zunächst nach Amsterdam geflohen, wohin sein älterer Bruder, der Musiker Norbert Loeser (1906-1958) bereits geflohen war, dann aber bald nach São Paulo (Brasilien) emigriert, wo er bis zum Ruhestand weiterhin in einer Bank arbeitete. Außer der Musik frönte er seiner heimlichen Leidenschaft, der Schriftstellerei, und verfasste einige Romane, die allerdings nie veröffentlicht und von der Familie erst nach seinem Tod im Nachlass gefunden wurden. Eines dieser Werke ist sein Roman „Der Fall Krakau“, der nun erstmals im Februar als „Requiem“ beim Verlag Klett-Cotta erschien. Das Buch zeichnet in 29 Kapiteln, die sich nahtlos zu einer Geschichte fügen, „ein Sittengemälde des nationalsozialistischen Deutschlands vor dem Zweiten Weltkrieg und bevor die Vernichtung der europäischen Juden ins Werk gesetzt wurde“, fasst es der Herausgeber im Nachwort zusammen.
Nur wenige Monate nach der Machtergreifung der Nazis und nach Erlass des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums am 7. April 1933, das im Deutschen Reich unmittelbar zur Entlassung zahlreicher jüdischer Künstler führte, ist Solo-Cellist Erich Krakau der einzig noch verbliebene Jude im städtischen Sinfonieorchester. Trotz drohender Gefahr und eindringlicher Mahnung seines Hausarztes, der überstürzt nach Amsterdam flieht, denkt Krakau nicht an Flucht. Er lebt in seiner „Welt von Schönheit und Kunst, von Harmonie und Zivilisiertheit“ und verdrängt völlig, dass man ihm nach dem Leben trachten könnte. Krakau ist einer jener vielen, die in schrecklichem Irrglauben auf bald wieder bessere Zeiten hoffen: „Unsere Hoffnung ist die Menschlichkeit, unsere Hoffnung, die wir mit Millionen Nichtjuden teilen, ist, dass die Finsternis recht bald einem neuen Licht weichen möge.“
Doch schon bald wird Krakau das Opfer einer unerwartet hemmungslosen Intrige, in die auch seine Künstlerkollegen zwangsläufig verwickelt und zur eigenen Positionierung im Verhältnis zu ihm, dem Freund und Juden, gezwungen werden: Der unbedarfte 22-jährige Bäckersohn Fritz Eberle, Mitglied eines SA-Sturmtrupps und Amateur-Cellist, verfolgt mit Hilfe seiner brutalen Kumpane sowie eines erfolglosen, aber ehrgeizigen Journalisten sein Ziel, den Juden Krakau zu verjagen und dessen Stelle im Orchester einzunehmen.
Loeser schildert auf meisterhafte Weise die Vielfalt der komplexen Gesellschaft aus Mutigen und Feiglingen, aus Gleichgültigen und Tätern. Er zeigt – gewissermaßen als neutraler Beobachter, fast mit einem Anklang von Resignation – die verschiedensten Verhaltensmuster der Menschen in jener Zeit des Umbruchs, ohne zu urteilen oder gar zu verurteilen. Eindrucksvoll sind manche Gespräche wie jenes zwischen dem nur an seiner Karriere interessierten stellvertretenden Gauleiter Stübner und dem alten Rabbiner, den auch nach tagelanger Einkerkerung sein Glaube aufrecht hält: „Reiche sind entstanden, die den ganzen Erdball fast umspannten, und alle sind vergangen wie ein flüchtiger Traum. … Nur das Wort blieb. Gottes Wort und das Heilige Buch.“
Der alte, vom Leben gebeutelte Theaterdiener Meier, der sich trotz allem seinen gesunden Menschenverstand bewahren konnte, hat den Kern allen Übels erkannt: „Aber die feinen Herren in den leitenden Positionen auf den obersten Plätzen, die feinen kultivierten Herrschaften haben zugeschaut und die Achseln gezuckt, und wer zuschaut und nichts tut, der hilft mit. ... Damals, als es anfing, hätte man noch etwas erreichen können, eine einmütige, geschlossene Abkehr aller Gutgesinnten und normal Fühlenden hätte die ganze Bewegung moralisch zu Fall gebracht.“ Doch Loeser nennt die Gründe, weshalb der Lauf der Geschichte ein anderer war.
Loesers Roman „Requiem“ unterscheidet sich wohltuend von anderer Literatur über jene Zeit. Der Autor verzichtet völlig auf die von anderen Autoren oft gebrauchte und allzu vereinfachende Schwarz-Weiß-Stereotype aus Opfern und Tätern. Er zeigt die unzähligen Grauzonen zwischen den Extremen und nennt nachvollziehbare Gründe für die Entscheidungen und Positionierung Einzelner – ob auf bessere Zeiten Hoffender, ob gedankenloser oder ängstlicher Mitläufer, ob Profiteur, Karrierist oder aktiver Täter. Auch verschweigt er keineswegs, wie beschwerlich und gefährlich es in jener Zeit der Willkür sein konnte, sich dem Sturm zu widersetzen. „Requiem“ ist besser als manches historische Werk über die Anfangszeit des Nazi-Regimes und deshalb nicht zuletzt auch jungen Lesern zum besseren Verständnis jener Jahre zu empfehlen.