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Benutzername: 
Alsterschwan
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Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 38 Bewertungen
Bewertung vom 22.01.2022
Die Ungerächten
Dützer, Volker

Die Ungerächten


ausgezeichnet

„Die Ungerächten“ - ist „ungerächt“ gleich „ungerecht“?

Mit „Die Ungerächten“ hat Volker Dützer seinen zweiten Roman um Hannah Bloch geschrieben. Ich habe Hannahs Weg bereits in dem Buch „Die Unwerten“ verfolgt, aber ich glaube, auch ohne Vorkenntnisse kann man gut in die aktuelle Geschichte eintauchen, da ein ausführlicher Prolog alle wichtigen Details beschreibt (aber Stopp: ich kann „Die Unwerten“ wirklich wärmstens empfehlen – deshalb lieber damit anfangen!)
Entweder gibt es nicht viele Bücher, deren Handlung unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg einsetzt – oder ich habe sie bisher kaum entdeckt. Mich haben jedenfalls die detaillierten und z.T. unter die Haut gehenden Beschreibungen des (schwierigen) täglichen Lebens in den zerbombten Städten nach Kriegsende sehr berührt. Der Autor hat einen lebendigen und bildhaften Schreibstil, so dass ich selbst den nagenden Hunger verspürt, entsetzlich gefroren, ein Dach über den Kopf gesucht, mich auf dem Schwarzmarkt umgesehen habe...
Hannah hat die Aktion T 4 überlebt und arbeitet nun eng mit den Amerikanern zusammen, um weitere nationalsozialistischen Verbrechen aufzuklären, denn es sind zwar die wichtigsten Persönlichkeiten durch die Nürnberger Prozesse verurteilt worden, aber viele sind untergetaucht und/oder haben andere Identitäten angenommen, um sich der Justiz zu entziehen... Aber die Amerikaner wollen die weitere Strafverfolgung der deutschen Staatsanwaltschaft überlassen... Hannah ist entsetzt, macht sich doch unter den Deutschen der „Persilschein“ breit (vereinfacht: „Du sagst, ich war nie Nationalsozialist, dann sage ich auch, dass Du keiner gewesen bist...“)
Ein weiterer Protagonist ist Pawel Kowna, dessen Schwester und Vater im April 1945 in Sachsenhausen ermordet wurden, er hat seinem Vater kurz vor dessen Tod versprochen, er werde für das Leid seiner Familie Rache an den Deutschen nehmen. „Es fraß an ihm wie ein Geier, der seinen Schnabel in ein Stück Aas hackt. Pawel fühlte sich schuldig. Warum hatte er als Einziger die Verfolgung und Deportation, das Grauen der Lager und den Todesmarsch überlebt?“ (S. 62, E-book). Pawel lebt immer stärker den Selbstjustizgedanken, er geht sogar so weit, davon zu träumen, alle Bewohner einer deutschen Kleinstadt durch vergiftetes Wasser zu ermorden.
Die Gedanken und Überlegungen von Hannah und Pawel werden immer wieder in verschiedenen Sichtweisen herausgearbeitet und thematisiert, uns Leser*innen werden quasi die verschiedenen Ansatzpunkte präsentiert: kann es legitim sein, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen und einen Nazi-Verbrecher zu ermorden, da anscheinend „die Deutschen“ (aus was für Gründen auch immer) kein Interesse haben, die notwendigen Schritte einer gesetzlichen Strafverfolgung in Gang zu setzen?
Mir war bisher nicht bekannt, dass auch die katholische Kirche, Nationalsozialisten Unterschlupf gewährt hat und sogar sehr aktiv daran beteiligt war, diesen Menschen über die sog. „Rattenlinien“ die Flucht z.B. nach Südamerika zu ermöglichen.
Aber das Buch hat durchaus auch heitere Seiten, verkörpert durch Hannahs Freundin Ruth. Ruth hat zwar auch heftige Schicksalsschläge hinnehmen müssen, aber sie verfolgt das Ziel, das Leben einfach zu genießen. Sie engagiert sich im großen Stil im Schwarzmarkt und durch sie werden wir Zeugen des Kohle- und Kaffeekrieges. Bei diesen Szenen – sehr spannend geschildert – musste ich mehrmals lächeln...
Volker Dützer hat seinem Buch ein Zitat von Mahatma Gandhi vorangestellt: „Auge um Auge – und die ganze Welt wird blind sein“, Ja, das passt ausgezeichnet!
Die Frage vom Titel „Ist ungerächt gleich ungerecht?“ lasse ich bewusst stehen, die kann / muss jeder für sich selbst beantworten!
Dieses Buch wird – genau wie „Die Unwerten“ - noch lange nachhallen und ich bin sicher, dass mir dieses Buch präsent bleiben wird, ich kann es deshalb bedingungslos weiterempfehlen – und ich bin sehr neugierig, wie Hannahs Weg weiterhin verläuft...

Bewertung vom 29.08.2021
Der Brand
Krien, Daniela

Der Brand


ausgezeichnet

Können langjährige Beziehungen eine „Auszeit“ verkraften?

Bei ihrem Roman „Der Brand“ geht Daniela Krien u.a. genau dieser Frage nach... Es war mein erstes Buch von ihr, ich bin aber sicher, dass ich demnächst ihre vorhergehenden Romane ebenfalls lesen werde!
Rahel (49 Jahre, Psychologin in eigener Praxis) und Peter (55 Jahre, Professor für Literatur)
sind seit fast 30 Jahren verheiratet. Ihre beiden Kinder Selma und Simon sind aus dem Haus, Selma ist verheiratet und hat schon zwei eigene Kinder.
Sie hatten ihren Urlaub – pandemiebedingt – in einer Hütte in Oberbayern verbringen wollen, aber kurz vor der Abreise teilt ihnen der Vermieter mit, dass die Hütte komplett abgebrannt sei. Fast zeitgleich wird Rahel von ihrer mütterlichen Freundin Ruth gebeten, für drei Wochen ihren Hof in der Uckermark zu hüten, da ihr Mann Viktor einen Schlaganfall erlitten habe und sie ihn in eine Rehaklinik begleiten wolle.
Rahel spürt schon länger, dass es in ihrer Beziehung zu Peter „kriselt“: „Doch die Gelassenheit war ihm abhandengekommen. Sein feiner Humor kippt nun öfter ins Zynische, und an die Stelle ihrer lebhaften Gespräche ist eine distinguierte Freundlichkeit getreten.“ (S.10/11) Und so ziehen Rahel und Peter für drei Wochen auf einen Hof in der Uckermark – und wir Leser*innen begleiten sie...
Daniela Krien schildert die Situation aus der Sicht von Rahel (nur aus purer Neugierde hätte ich zwischendurch gern mal gewusst, was Peter eigentlich denkt...) und wir nehmen teil an ihren Gefühlen, Sorgen, Ängsten, Hoffnungen. Mir hat der Schreibstil ausgezeichnet gefallen: er ist vollkommen unaufgeregt und sehr bildhaft, ich konnte mir Stimmungen und Begebenheiten sofort vorstellen und meinte z.B. die erfrischende Kühle des Sees selbst zu spüren. Aber auch die Formulierungen zur Ehe und Beziehung waren für mich gut nachvollziehbar „... und Rahel denkt, dass besonders in einer Ehe die Summe des Nichtgesagten die Summe des Gesagten bei weitem übertrifft.“ (S.71) Oder das kennen wir doch alle und wünschen es uns ab und zu: „Sie kann sich nicht ausstehen an diesem lähmend heißen Tag. Sie ist sich selbst zu viel und wünscht sich, jemand würde ihr die Last des eigenen Daseins für einige Stunden abnehmen.“ (S. 136) Aber auch eine leichte Hoffnung zur „Heilung“ der Beziehung blitzt immer wieder mal auf: „In der Küche begegnet sie Peter, der ihr im Vorbeigehen kurz über den Arm streicht. Noch Minuten später spürt sie die Berührung, und als sie sich am Tisch gegenübersitzen, scheint sich der Raum zwischen ihnen verringert zu haben.“ (S.100)
Ich weiß nicht, ob Singles oder frischverliebte Menschen in dieses Buch tief eintauchen können / mögen / wollen, ich – in einer langjährigen Beziehung lebend – habe mich manchmal fast direkt angesprochen gefühlt, keine Beziehung ist ein ewiges „honeymoon“...
Der Roman hallt noch lange nach, zumindest ging es mir so: ich habe häufiger noch einmal einzelne Passagen gelesen und darüber nachgedacht, wie ich mich wohl verhalten hätte...
„Der Brand“ gehört auf jeden Fall zu meinen Jahres-Highlights 2021 und aus diesem Grund kann und will ich es wirklich sehr gern weiterempfehlen (auf der Geburtstagsgeschenkliste für einige Freundinnen steht es bereits!)

Bewertung vom 15.08.2021
Spuren des Aufbruchs / Die Gärten von Heligan Bd.1
Corbi, Inez

Spuren des Aufbruchs / Die Gärten von Heligan Bd.1


sehr gut

Eine Hommage an die „Lost Gardens of Heligan“...

Inez Corbi hat mit ihrem Buch „Die Gärten von Heligan“ dem bekannten Garten in Cornwall ein literarisches Denkmal gesetzt. Ja, ich räume ein, ich habe die „Lost Gardens of Heligan“ bereits mehrmals besucht (mein absoluter Lieblingsgarten in Cornwall) und bin deshalb vielleicht nicht ganz objektiv... aber so konnte ich ausführlich in Erinnerungen schwelgen...
Geschickt arbeitet die Autorin mit zwei Handlungssträngen: die Londonerin Lexi flüchtet vor ihrem Ex-Freund nach Cornwall, um in Heligan zuerst als „Freiwillige“ für Kost und Logis zu arbeiten. Dort soll im kommenden Jahr ein Jubiläum gefeiert werden (30 Jahre seit der Wiedereröffnung) – und die Projektmanagerin fällt wegen einer Risikoschwangerschaft vollkommen aus! Da Lexi aus ihrem „früheren Leben“ selbstständige Projektarbeit kennt, wird ihr die vakante Stelle angeboten. Sie stürzt sich mit Feuereifer in die Recherchen und stößt schnell auf Materialien über die Entstehung von Heligan.
Und damit beginnt der 2. Handlungsstrang: 1781 leben die Waisen Damaris und Allie bei ihrem Cousin Henry Tremayne auf dem Landgut Heligan. Eines Abends finden sie am Strand nach einem Sturm Julian, der offensichtlich als Einziger den Untergang eines gekenterten Schiffes überlebt hat. Julian ist vollkommen verzweifelt, da seine Familie offensichtlich den Tod gefunden hat und er sich dafür die Schuld gibt. Fast zeitgleich beschließt Henry rund um sein Landgut einen Garten nach dem Vorbild schon existierender bekannter englischer Gärten anzulegen. Gemeinsam mit Damaris, die die gesammelten Eindrücke durch Zeichnungen festhalten soll (die Fotografie der damaligen Zeit!), begibt er sich auf eine Grand Tour durch England.
Aber mehr zum Inhalt soll hier nicht verraten werden...
Inez Corbi hat es gut verstanden, diese beiden Zeit- und Handlungsstränge miteinander zu verweben: durch Henry, Damaris und Allie nehmen wir daran teil, wie Heligan überhaupt entstanden ist, welche Ideen und Auffassungen dahinterstehen und es wird uns auch etwas vom damaligen Zeitgeist vermittelt (z.B., dass es für Damaris eigentlich an der Zeit sei, zu heiraten). Durch Lexi erfahren wir einiges über die wechselvolle Geschichte von Heligan (und wie es zu dem Namen „Lost Gardens of Heligan“ kam). Sehr originell fand ich, dass einzelne Gegenstände und Orte in beiden Zeitebenen auftauchen (z.B. wird 1787 ein „Wagenrad-Penny“ verloren und taucht im der Jetzt-Zeit auf)
Mir waren die Protagonisten sympathisch, sie waren lebendig und einfühlsam geschildert, ich konnte mich gut in sie hineinversetzen, aber der Garten ist in beiden Zeitebenen die absolute Hauptperson, man spürt die intensive Auseinandersetzung und Recherchearbeit der Autorin.
Im Nachwort klärt die Autorin uns Leser*innen über Realität und Fiktion auf – etwas, was ich gerade bei historischen Romanen wichtig finde und sehr schätze. Im vorderen Buchumschlag befinden sich Fotos aus Heligan, im hinteren „Die Zeitgeschichte von Heligan“, eine sehr gut umgesetzte Informationsmöglichkeit.
Das Buch ist ein schöner „Wohlfühl“-Roman, der mir wunderbare Lesestunden in einer einzigartigen Atmosphäre beschert hat. Klar ist einiges vorhersehbar, aber gekonnt erzählt und spannend verpackt – mein Lesevergnügen wurde absolut gestillt! Deshalb empfehle ich das Buch gern weiter, für Cornwall-Urlauber und Garten-Liebhaber eigentlich ein „Muss“: ja, so könnte wirklich alles entstanden sein...

Bewertung vom 06.08.2021
Die Architektin von New York / Bedeutende Frauen, die die Welt verändern Bd.3
Hucke, Petra

Die Architektin von New York / Bedeutende Frauen, die die Welt verändern Bd.3


ausgezeichnet

Wer kennt diese Frau? Ich bisher nicht...

Petra Hucke hat mit ihrer Romanbiografie „Die Architektin von New York“ Emily Warren Roebling aus der Versenkung geholt und ihr ein literarisches Denkmal gesetzt.
Die Brooklyn Bridge, die die Stadtteile Brooklyn und Manhattan miteinander verbindet – ich glaube, jeder Tourist hat sie mindestens einmal überquert – ist allen vertraut: aber was wissen wir eigentlich über die Architekten? Nur dunkel konnte ich mich daran erinnern, dass zumindest ein ausgewanderter Deutscher daran beteiligt war...
Ja, das ist richtig, aber die ganze Dramatik um diesen Bau war mir nicht bekannt und bewusst – und genau hier setzt die Romanbiografie von Petra Hucke an! Emily wurde 1843 geboren und heiratete1865 Washington Augustus Roebling, dessen Vater schon einige spektakuläre Brückenbauten geleitet hatte. Nun plante er eine Hängebrücke über den East River, starb jedoch 1869 an einer Tetanusinfektion – bevor der eigentliche Brückenbau begonnen hatte. Sein Sohn Wash (Emilys Mann) übernahm dann diese schwierige Aufgabe.
Die Autorin hat es sehr gut verstanden, uns Leser*innen in die komplizierten technischen Anforderungen an diesem Bau mit einzubeziehen. Sogar ich – mathematisch und technisch ziemlich „minderbegabt“ - konnte den Gedankengängen und Berechnungen folgen... und fand sie sogar ausgesprochen spannend!
Ich hatte bisher keine Vorstellungen, was es z.B. für eine schwierige Aufgabe war, die Stützpfeiler zu konstruieren, man musste mit Caissons (Senkkästen) arbeiten, lt Wikipedia „ein Kasten, der als Fundament oder Arbeitsraum unter der Wasseroberfläche versenkt wird. Für Unterwasserarbeiten wird im Senkkasten, ähnlich einer Taucherglocke, mit Überdruck das Wasser verdrängt.“ Vom Tauchen hatte man damals noch keine Ahnung, so war es logisch, dass einige Arbeiter an der „Caisson-Krankheit“ (heute: Taucher- oder Dekompressionskrankheit) starben, bzw. lebenslange Schäden davontrugen. Dies passierte auch Wash, der besonders häufig in die Caissons steigen musste. Er schonte sich jedoch nicht und die Krankheit verstärkte sich immer mehr, so dass Emily immer häufiger seine Arbeit übernehmen musste (was sie übrigens sehr gern machte!).
Hier arbeitet die Autorin hervorragend die Konflikte heraus, die Emilys Berufstätigkeit zur damaligen Zeit mit sich brachte: als Frau von den Männern (Arbeiter und Geldgeber) nicht akzeptiert, als „Rabenmutter“ für ihren Sohn bezeichnet, auch würde sie sich nicht ausreichend um ihren kranken Mann kümmern usw. Aber wir erleben auch mit, wie sich Emilys Haltung selbst verändert: die Brücke wird langsam immer stärker zu „ihrem Projekt“...
Sehr interessant fand ich auch die Weltausstellung 1876 in Philadelphia beschrieben: hier probiert Emily ein Hochrad aus (dazu gab es für die Damen entsprechende Bekleidung), testet den „Sprechapparat“ von Graham Alexander Bell und besteigt die Attrappe der Freiheitsstatue (mit dem Eintrittsgeld wurde der Bau des Sockels der „echten“ Statue auf Liberty Island finanziert) – und hält ihre erste öffentliche Rede über die Hängeseile der Brücke!
Das Ergebnis des Baus ist kein wirklicher Spoiler: im Mai 1883 wird die Brücke eröffnet.
Ein Nachwort berichtet über Emilys weiteren Lebensweg: sie und ihr Mann bauten keine weiteren Brücken mehr. Emily engagiert sich bei Wohltätigkeits- und Frauenvereinen, unternimmt Reisen nach Europa und macht mit 56Jahren einen Jura-Abschluss. Auch wird erklärt, was Realität und was Fiktion ist...
Es ist eine Romanbiografie, also die Fantasie der Autorin ummantelt das Skelett der nackten Tatsachen, wie es gewesen sein könnte - aber es hat mir viel Spaß gemacht dieser Fiktion zu folgen. Ich kann dieses Buch allen empfehlen, die gern Bücher über (unbekannte) starke Frauen lesen – und eigentlich ist es für New York Touristen ein absolutes Muss!

Bewertung vom 25.07.2021
Gold, Gauner und türkischer Honig
Schreiber Pekin, Yasemin

Gold, Gauner und türkischer Honig


ausgezeichnet

In 111 Jahren mit Ayda quer durch Europa...

Die Autorin Yasemin Schreiber Pekin hat mit ihrem Buch „Gold, Gauner und türkischer Honig“ eine Familiensaga der vollkommen anderen Art geschrieben: wunderbar schräg, abgefahren und skurril!
Wir machen Bekanntschaft mit Ayda: Ayda Ismailov (30 Jahre alt, Juristin mit Schweizer Pass) trifft 1999 ihre Großeltern zum ersten Mal nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei – bzw. korrekt: ihre Großmutter kennt sie eigentlich schon ihr Leben lang – aber als Pflegemutter. „Als ich meinen Großvater kennenlernte, hielt er in seiner rechten Hand eine Pistole. An seinem spindeldürren linken Oberarm hing eine Infusion.“ (S.8) Während Ayda und ihre Großmutter Sofia im improvisierten Feldlazarett darauf warten, dass sich der Großvater wieder erholt, erzählt Sofia ihrer Enkeltochter die Familiengeschichte, angefangen mit Sofias Mutter Rokselana 1912 in Thessaloniki. Aber auf die Geschichte selbst möchte ich hier eigentlich gar nicht eingehen, da ich niemals den trockenen und herrlichen Humor wiedergeben könnte, in dem das Buch geschrieben wurde.
Die Autorin „jagt“ uns Leser*innen gemeinsam mit Rokselana und Sofia, später auch mit Ayda, quer durch Europa, am liebsten im Orientexpress, da sich Sofia niemals von ihrer Pistole, einer Lady Hawk, trennt – und da sind ja auch noch die Koffer, wahlweise mit Gold, Diamanten oder Banknoten, die transportiert werden müssen, …
Auf ihren Reisen lernen sie bekannte Persönlichkeiten kennen, z.B. tanzt Rokselana kurz nach der Gründung der Türkei mit Kemal Atatürk… Und wir erfahren, wodurch Coco Chanel zum „kleinen Schwarzen“ inspiriert wurde oder auch, wie die Brüder McDonald zu ihrem Firmenlogo kamen – das hat alles natürlich mit den Damen zu tun…
Mir gefiel auch, dass sich Sofia ihren Lebensunterhalt mit Spielcasinos verdient, aber gleichzeitig die ersten Frauenschutzhäuser eröffnet, denn: so kurios die Familiengeschichte von Ayda auch sein mag, die Autorin hat historische Ereignisse immer korrekt eingebaut, so erfahren wir z.B. einiges über den Wandel der Zeit nach Gründung der türkischen Republik durch Atatürk.
Neben den Hauptpersonen gibt es auch liebe- und respektvoll beschriebene „Nebenakteure“, hier habe ich besonders die Ordensschwester Rosa in mein Herz geschlossen, sie hatte immer ganz pragmatische Lösungsvorschläge für die kompliziertesten Verwirrungen.
Das Buch liest sich sehr gut, der Schreibstil ist angenehm und flott, immer mit so einem kleinen Augenzwinkern…wie gesagt: so eine skurrile und schräge Familiensaga habe ich noch nie gelesen – aber sie hat mir sehr viel Spaß gemacht.
Wer gern eine Familiengeschichte lesen möchte, die nicht dem „normalen“ Muster entspricht, ist mit „Gold, Gauner und türkischer Honig“ bestens versorgt, ich kann es nur wärmstens empfehlen (mit einem kleinen Tipp: vielleicht sollte das Buch nicht in öffentlichen Verkehrsmitteln gelesen werden, ich habe an einer Stelle so laut losgeprustet, dass mich fast ein ganzer U-Bahn-Wagen verstört und irritiert angeschaut hat - deshalb: ich habe das Buch wirklich „in vollen Zügen“ genossen)!

Bewertung vom 11.07.2021
Die Sprache des Lichts
Kramer, Katharina

Die Sprache des Lichts


ausgezeichnet

Vom Zauber der Sprache...

… egal, ob gesprochen, gepfiffen oder gebärdet... In diese Welt der Sprachen entführt uns Leser*innen Katharina Kramer in ihrem Debütroman „Die Sprache des Lichts“.
1582: in Europa herrschen fast überall Religionskriege und wie immer und überall behaupten die jeweiligen Anhänger, Gott sei auf ihrer Seite und nur sie hätten Recht.
In Thüringen macht sich Jacob, ein protestantischer mittelloser Lehrer für Latein, Griechisch und Hebräisch auf die Reise, um einer drohenden Kündigung zuvorzukommen. Jacob ist Synästhetiker, d.h. akustische und visuelle Reize verknüpfen sich bei ihm, er nimmt Sprachen farbig wahr – dadurch fällt es ihm auch leicht, neue Sprachen schnell zu erlernen. Er trifft bald auf Edward einem englischen Alchimisten, der ihm vom Buch Soyga erzählt, dies soll die Sprache der Schöpfung in codierter Form enthalten. Jacob ist fasziniert und macht sich auf den Weg, das Buch zu finden und zu studieren.
Zeitgleich verdingt sich die Übersetzerin Margarète in den von Calvinisten besetzten Pyrenäen als Spionin bei der radikalen katholischen Liga, deren Ziel es ist, die Calvinisten mit allen Mitteln aus ihrer Provinz zu vertreiben. Margarète ist äußerst erfolgreich in ihrer „Arbeit“ als Spionin, sie schafft es, Einlass bei einem Ball des (protestantischen) Königs Heinrich von Navarra zu erhalten, mit dem König zu tanzen und – nebenbei - wichtige Informationen für die Liga zu erlauschen. Auch Margarète ist außergewöhnlich sprachbegabt.
In zuerst getrennten Strängen zeichnet die Autorin die beiden Hauptpersonen, ihre jeweiligen Lebensbedingungen, ihre Ziele, Hoffnungen / Träume in einer bildgewaltigen Sprache nach, so dass das Kopfkino immer schnell anspringt – teilweise habe ich sogar gemeint, die Szenen zu riechen…
Auf die Handlung möchte ich hier bewusst nicht näher eingehen, nur so viel sei gesagt: die Autorin hat akribisch recherchiert, so dass wir Leser*innen viel an geschichtlichen Zusammenhängen „nebenbei“ – eingebettet in eine spannende Handlung – präsentiert und erklärt bekommen. Auch die Pfeifsprache am Beispiel der Hirten von Aas in den Pyrenäen (wohl vergleichbar mit der Pfeifsprache El Silbo auf der Kanareninsel La Gomera) wird detailliert geschildert. Die „Erfindung“ der Gebärdensprache könnte so tatsächlich so stattgefunden haben – ist wohl aber eine nette Fiktion…
Aber mich hat in diesem Buch besonders die Sprache beeindruckt, mit der die Autorin trefflich zu jonglieren weiß (und sie fängt alle „Bälle“ – Worte – perfekt auf). Selten habe ich mir in einem Buch so viele zitierfähige Sätze markiert, hier nur mal ein Beispiel: „Warme Wellen des Glücks pulsierten durch Jacobs Körper. Die Brücke war zu Stein gewordene Silben. Sie war mehr Wort als Stein. Der Stein vermochte nichts, die Worte alles. Doch zu sehen war nur noch die Brücke. Worte arbeiteten unauffällig und hinterließen keine Spuren. Sobald ihr Werk getan war, schlichen sie sich davon.“ (S. 373)
Einzig der Schluss hat mich nicht zu 100 % überzeugt, aber das ist wirklich Jammern auf hohem Niveau… Aber ein Personenverzeichnis zu Beginn, ein Glossar und ein ausführliches Kapitel „Zum historischen und faktischen Hintergrund des Romans“ am Schluss haben mich wieder versöhnt…
Ansonsten ein wahrer Festschmaus für alle Menschen, die Sprache lieben und für alle Freunde historischer Romane. Mir hat es sehr gut gefallen und deshalb möchte ich hier unbedingt eine Leseempfehlung aussprechen.

Bewertung vom 04.07.2021
Wiener Blut / Die Totenärztin Bd.1
Anour, René

Wiener Blut / Die Totenärztin Bd.1


ausgezeichnet

Fanny, Sisi und Marillenknödel...

Nein, Marillenknödel spielen in den ersten Band „Die Totenärztin – Wiener Blut“ von René Anour tatsächlich nur eine untergeordnete Rolle – für mich aber sind sie ein Synonym für all die österreichischen Köstlichkeiten, die in diesem Buch so nebenbei erwähnt wurden!
Fanny ist eine junge Ärztin (im Gegensatz zu Preußen „durften“ Frauen in Österreich schon damals studieren!), die 1908 als Prosekturgehilfin – Assistentin bei Obduktionen - in der Wiener Pathologie arbeitet. Obwohl ausgebildete Ärztin, hat ihr Chef, Professor Kundera, verboten, dass sie als Frau Obduktionen durchführt („Auch besitzt eine Frau, deren Naturell im Nährenden und Fürsorglichen begründet ist, weder die Fähigkeit noch den Willen zu einer strukturierten Arbeitsweise.“ S. 21). Überhaupt: dass sie überhaupt die Stelle bekommen hat, hat sie Kunderas Frau, Leontine, zu verdanken... Aber so waren eben damals die Zeiten...
Aber Fanny hat ihren eigenen Kopf und ihre eigenen Ideen: als ein toter Obdachloser eingeliefert wird, fallen Fanny Hinweise auf, die ihr Kollege Franz ignoriert – Fanny schleicht sich dann nachts in die Pathologie und obduziert heimlich die Leiche – und sticht damit in ein riesengroßes Wespennest!!!
Nur unterstützt von ihrer Freundin Tilde beginnt Fanny ihre „Recherchen“, die sie u.a. zu einem exklusiven Ball des Grafen Waidring ins Palais Coburg, aber auch in die „Unterwelt“ Wiens führen. Aber mehr sei hier über die Handlung nicht verraten...
Wir lernen sympathische Menschen kennen, wie z.B. Fannys Cousin Schlomo, der sich jetzt François nennt und zum Entsetzen seiner Eltern als Maskenbildner am Burgtheater arbeitet. Tante Agathe macht sich große Sorgen, dass Fanny mit ihren 25 Jahren immer noch nicht verheiratet ist: „Das ist schon nicht mehr Gold, sondern nur noch Silber und Bronze steht vor der Tür.“ (S. 42) Lange rätseln wir, ob „Blaumeise“ ein „Guter“ oder doch ein „Böser“ ist... Und ich habe einiges über Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn („Sisi“) erfahren, was ich noch nicht wusste.
Gut gefallen hat mir auch das Nachwort mit dem Stichwort „Was ist echt, was ist Fiktion?“. Dies finde ich gerade bei historischen Kriminalromanen ausgesprochen wichtig: ich nehme es einem Autor / einer Autorin keineswegs übel, wen er /sie z.B. mal eine Erfindung oder ein historisches Ereignis um ein paar Jahre verschiebt – aber wissen möchte ich es hinterher...Ein Glossar und ein Wiener Stadtplan aus 1908 haben meinen Wissensdurst perfekt erfüllt.
Der Autor hat es auch hervorragend geschafft, dass mir bei vielen Szenen mein Kopfkino die entsprechenden Bilder lieferte: in der Pathologie habe ich mir die Nase zugehalten und nur durch halbgeöffnete Augen „gelinst“, dafür bin ich gern mit Fanny durch den Volkspark spaziert und habe freudig Schlomo (oh, Pardon: François) im Burgtheater besucht.
Manchmal musste ich den Kopf schütteln über Fannys und Tildes Naivität und Leichtsinn, habe mich dann aber auch wieder mit ihnen gefreut, wenn sie sich aus „brenzligen“ Situationen befreit haben – na ja, manchmal mit Hilfe...Auch die Entwicklung von Fanny hat der Autor schön herausgearbeitet: sie gewinnt immer mehr an Selbstbewusstsein und ich bin mir sicher: sie wird ihren weiteren Weg mit hoch erhobenem Haupte gehen!
Insgesamt kann ich sagen: ein sehr empfehlenswertes Buch, dass mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt hat, es hat mir spannende und interessante Lesemomente beschert – und alles gewürzt mit einer feinen Prise Humor! Ich drücke dem Autor die Daumen, dass viele Leser*innen das Buch kaufen – dies aber nicht ganz uneigennützig: wenn Fanny bei vielen Menschen gut ankommt, werden weitere Bücher folgen– und das wünsche ich mir!

Bewertung vom 15.06.2021
Strahlender Sieg
Franke, Erich H.

Strahlender Sieg


ausgezeichnet

Wenn das die Realität wäre...

Erich H. Franke hat mit seinem 7. Band um die amerikanische Geheimagentin Karen C. Mulladon wieder mal einen bemerkenswerten Coup gelandet. Ich habe bisher alle Bücher dieser Reihe gelesen, bin mir aber sicher, dass auch „Quereinsteiger“ die Handlung gut nachvollziehen können, weil die Fälle immer in sich abgeschlossen sind.
Der Einstieg besteht aus mehreren Handlungssträngen, aber wir erfahren schnell, dass der gemeinsame Nenner „radioaktives Material“ ist. Aber diesmal wird es besonders perfide: die verschiedenen Geheimdienste / Nachrichtendienste werden gegeneinander ausgespielt, wir hören ein Telefonat eines Unbekannten: “Ich werde dafür sorgen, dass die Behörden, äh, miteinander beschäftigt sind. Wir dürfen nicht zulassen, dass irgendein übereifriger Beamter... Nun! Lassen wir das!“ (S. 46)
Erste Leidtragende ist Karen selbst, der vorgeworfen wird, zwei deutsche Agenten erschossen zu haben – und dadurch in erheblichen Erklärungsbedarf gerät. Sogar ihr deutscher Kollege, Martin Weilmann, zweifelt an ihr. Doch zum Glück kann Karen ihre Unschuld beweisen. Aber das Chaos ist perfekt, wie Martin einem Vorgesetzen von Karen erklärt: „Nach all diesem Mist redet unser Laden nicht mehr mit Euch, weil wir Euch misstrauen und denken, Ihr killt unsere Leute. Der Verfassungsschutz redet nicht mehr mit meinem Laden, weil die denken, wir klüngeln mit Euch und stecken in der Mordsache selbst mit drin. Jerusalem redet nicht mehr mit uns, weil sie denken, wir unterstützen irgendwelche verrückten Terroristen und haben die Sache fingiert. Und als Zugabe steckt bei Euch auch noch der Ku-Klux-Klan mit drin! All das zieht unsere und Eure Glaubwürdigkeit in den Gully.“ (S. 95/96). Tja, ein heilloses Durcheinander… Karen wird aus dem Verkehr gezogen, um nicht weiter angreifbar zu sein – aber es fällt ihr zunehmend schwer, nicht aktiv zu sein! Als nächstes werden falsche Informationen über Martin verbreitet, so dass er in höchste Gefahr gerät… Und die Zeitbombe tickt – im wahrsten Sinne des Wortes – aber mehr wird hier nicht verraten… Nur so viel: es bleibt spannend bis zur letzten Seite!
Ich liebe die Bücher von Erich H. Franke, obwohl Agententhriller eigentlich nicht zu meinem bevorzugten Genre gehören. Aber seine Bücher behandeln immer Themen, die so tatsächlich vorkommen könnten, die technischen Möglichkeiten sind real und vorhanden (und werden immer so gut erklärt, dass sogar ich sie als Technik-Muffel verstehen kann!), es gibt einen nachvollziehbaren politischen Hintergrund (ohne Zeigefinger!) und alles ist eingebettet in eine äußerst spannende und aufregende Rahmenhandlung mit sehr sympathischen Protagonisten, die mir als „Wiederholungstäterin“ zugegebenerweise schon ans Herz gewachsen sind!
Also wird es jetzt niemanden verwundern, dass ich dieses Buch nur allzu gern weiterempfehlen möchte!