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wortwandeln

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Insgesamt 34 Bewertungen
Bewertung vom 16.07.2021
Der Nachtwächter (eBook, ePUB)
Erdrich, Louise

Der Nachtwächter (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

September 1953, North Dakota, Reservat des Turtle Mountain Band of Chippewa. Stammesratsvorsitzender Thomas Wazhashk - benannt nach der tapferen Bisamratte - bewirtschaftet tagsüber sein Farmland und arbeitet nachts als Wächter der Lagersteinfabrik, deren Ansiedlung am Rande des Reservats den Bewohnern ein bescheidenes, aber stetes Einkommen ermöglicht. Zwischen den Kontrollgängen erledigt er die Post; Briefe an die Verwandten und die Politik, geschrieben in vollendet schönen Schwüngen und gewähltem Ausdruck. Thomas war einst Schüler in Fort Totten, einem jener Internate, in die viele Kinder der Ureinwohner zum Zwecke der Zivilisierung verschleppt wurden. Unsägliches ist ihnen dort widerfahren. Doch was er lernte, vermag sie jetzt vielleicht zu retten, denn den indianischen Nationen droht die Terminierung.
Der Kongress in Washington hat mit der sogenannten House Concurrent Resolution 108 beschlossen, sie zu "emanzipieren", allen US-Bürgern gleichzustellen. Die Reservate sollen aufgelöst, die Ländereien verkauft, die Bewohner - von der Autorin schlicht Indianer genannt - in die Städte umgesiedelt und damit ausgelöscht werden, als hätte es sie nie gegeben.
"Das ist es dann also, dachte Thomas, als er die nüchternen Satzgirlanden der Gesetzesvorlage vor sich sah. Wir haben die Pocken überlebt, die Winchester-Repetierbüchse, die Hotchkiss-Kanone, die Tuberkulose. Wir haben die Grippeepidemie von 1918 überlebt und in vier oder fünf Kriegen für die USA gekämpft. Und jetzt vernichtet uns diese Ansammlung knochentrockener Wörter. Die Veräußerung, das Einstellen, die Terminierung, Obiges, Folgendes, besagte."
Doch der Legende zufolge war es die tapfere Bisamratte, die ihr Leben gab, um die Welt entstehen zu lassen, auf der sie immer noch lebten. Die Bisamratte, die Thomas Wazhashk seinen Namen gab...

Mit dem vorliegenden Roman hat Louise Erdrich ihrem Großvater, der Ende 1953 den Protest der Ureinwohner mit einer kleinen Delegation von North Dakota bis in den Kongress nach Washington trug und dabei seine Gesundheit ruinierte, ein literarisches Denkmal gesetzt.
Wie sie das tut, hat zu Recht den Pulitzer Preis verdient. Ihre bild- und detailreichen Schilderungen der indianischen Lebenswelt zeugen von intimer Milieukenntnis, tiefer Liebe und Verwurzelung. Der Roman ist mit vielen wunderschönen poetischen Details - etwa der Geschichte von Thomas' Flickendecke - und zarten lyrischen Bildern ausgestattet, die Gesine Schröder ebenso sanft ins Deutsche übertragen hat. Mir fallen jetzt zur Nachtzeit nicht mehr nur die Augen zu, sondern ich "treibe auf den Flusslauf des Schlafes hinaus".

Obwohl ihre Charaktere, Lebende wie Geister, alle auffallend empathisch sind, zeichnet die Autorin sie keineswegs als idealisierte Heroen, sondern auch als Menschen in Zweifel und Zwiespalt. Sie irren, treffen fragwürdige, aber selten eigennützige Entscheidungen. Die Gemeinschaft, so die Botschaft, ist das einzige, was sie letztlich retten wird. Ein feiner untergründiger Humor durchdringt dabei fast den gesamten Text und lässt vor allem die Dialoge sehr lebendig wirken.
Louise Erdrich hat die historisch verbürgte Handlung mit einer fiktiven Story rund um die starken Frauenfiguren Patrice 'Pixie' Paranteau und ihre Mutter Zhaanat verknüpft. Deren (auch übersinnliche) Suche nach Pixies verschollener Schwester Vera (TW: sexuelle Gewalt) verleiht der Geschichte einen zusätzlichen Spannungsbogen und macht sie auch zu einem Familien- und Entwicklungsroman.
Ich habe das Buch fast atemlos und in einem Rutsch gelesen und wollte am Ende gleich wieder von vorn beginnen, um die Menschen nicht verlassen zu müssen, die einem wie Freunde ans Herz wachsen.
Unbedingte Leseempfehlung.

Bewertung vom 04.06.2021
Viktor
Fanto, Judith

Viktor


ausgezeichnet

Es gibt ein Schweigen, das so laut ist, dass es beim Leben stört. So in etwa muss Geertje es empfunden haben. Schon früh bemerkt sie, dass mit ihrer kleinen Familie etwas nicht stimmt. Über die einst so zahlreichen Verwandten und ihr Schicksal wird nur verbrämt gesprochen: "Die schöne Laura? Der musikalische Otto? Die leben nicht mehr." Wünscht der jüdische Nachbar über die Hecke frohen Schabbes, ist die Mutter einer Panikattacke nah. Der Vater wirft ihr in lauten Streitereien ihr "inneres Gericht, Selbstbestrafung und Minderwertigkeitskomplexe " vor. Wörter wie Transport, Lager oder Gas sind in jedem Kontext tabu. Dass man jüdisch ist, soll möglichst niemand wissen.
Es ist 1994 in Den Haag, als die 20-jährige Geertje das alles nicht mehr aushält. Die ausbleibenden Antworten, das unscharfe Selbstbild. Wem kann man sich zugehörig fühlen, wenn man nicht weiß, wer man ist? Ein "Paprika-Jantschi, laut, lebhaft, direkt, neugierig, präsent, unruhig, unbesonnen - kurz: auffällig"? Eine Viel- und Schnellleserin, wie alle Rosenbaums, aber nicht ganz so musikalisch? Ein bisschen so wie der rätselhafte, schillernde Onkel Viktor, der ebenfalls 'nicht mehr lebende' Bruder des Großvaters, mit dem sie manchmal verglichen wird ? Na bitte schön, dann eben Rebellin. Geertje flieht nach Nimwegen, ändert ihren Namen in Judith und begibt sich auf Abstand und eine radikale Suche - nach Identität, alten Familiengeheimnissen und - Viktor.
Angelehnt an die Historie ihrer Familie hat die 52jährige niederländische Autorin Judith Fanto einen preisgekrönten Debütroman geschrieben, den man nicht mehr aus der Hand legen kann.
In zwei parallelen Erzählsträngen verknüpft Fanto ein ungewöhnliches Coming-of-Age mit der um die Jahrhundertwende beginnenden Geschichte der großbürgerlichen Wiener Familie Rosenbaum, in deren Mittelpunkt der unangepasste wie großherzige Lebemann Viktor steht.
Wortgewandt, leicht und humorvoll treibt die Autorin die Handlung voran. Die detailreichen, atmosphärischen Beschreibungen, spritzige, prägnante Dialoge und ein empathischer Blick auf die versammelten Figuren, die allesamt Charakter besitzen, machen das Lesen zu einem Vergnügen, selbst als am Horizont das Unheil dräut. Und hier befinde ich mich im Zwiespalt.
Natürlich verfasst die dritte Generation eine andere Art Literatur zur Shoah als die erste oder zweite. „Wem gehört die Shoah?“ lässt Judith Fanto ihre Protagonisten denn auch an einer Stelle des Romans fragen.
Es gibt durchaus Passagen, bei denen man heftig schlucken muss, aber im Großen und Ganzen wird der Lesende etwas zu sehr vor der historischen Wahrheit bewahrt. Man muss nicht alles benennen, um es fühlbar werden zu lassen, aber hat die Autorin die Diskretion und Verbrämung stärker verinnerlicht als ihrer Roman-Judith lieb wäre? Und stammen die zitierten Erlebnisberichte des Urgroßvaters tatsächlich aus dem Familienarchiv der Fantos? Hierfür hätte ich mir ein Nachwort gewünscht.

Als Viktor wegen Rassenschande vor Gericht gestellt wird, die Anklage (trotz schwerer Misshandlungen während der Haft) mit unerschrockenen bis frechen Repliken pariert und sich sein Vater und Anwalt in seinem Plädoyer endlich zu seinen Gefühlen gegenüber seinem Sohn bekennt, klingt alles etwas zu sehr nach Hollywood.
Vielleicht schafft gerade das aber auch die wünschenswerte Zugänglichkeit zum Thema, dessen Komplexität Judith Fanto trotz allem erfasst:
Die von Außenstehenden schwer fassbare „Überlebensschuld“ der Davongekommenen, eine grausam anmutende Hierarchie der Opfer, das Schweigen, das noch die nachfolgenden Generationen prägt, und nicht zuletzt die immer gültige Frage, was uns als Menschen ausmacht. Das Buch berührt, bildet, unterhält und klingt nach. Lesen!

Bewertung vom 20.05.2021
Tote ohne Namen / Alice Vega Bd.1
Luna, Louisa

Tote ohne Namen / Alice Vega Bd.1


gut

Im südkalifonischen San Diego werden nahe der Grenze zu Mexiko zwei übel zugerichtete Mädchenleichen entdeckt. Die Autopsie weist auf Zwangsprostitution hin. Die Polizei geht von Menschenhandel aus und zieht die hartgesottene Privatdetektivin Alice Vega hinzu, nicht zuletzt weil eines der Mädchen einen Zettel mit deren Namen umklammert hält. Schnell kommt die clevere Ermittlerin dahinter, dass es noch vier weitere Opfer geben könnte, die es rechtzeitig zu finden gilt...Mit dem sensiblen Ex-Polizisten Max Caplan, den Vega aus einem früheren Fall kennt, ist das Team perfekt.
Ein ergreifender Einstieg, ein erschütternder Stoff, das ungleiche Duo - kein neues Setting, aber doch eines, das einen guten Thriller verspricht. Vor allem, wenn schon das Cover die "knisternde Spannung" und "atemberaubende Lektüre" feiert. Doch leider wird das Versprechen nicht gehalten.
Die Handlung versandet schnell in kleinschrittiger Ermittlungsarbeit samt behördlichem Kompetenzgerangel, die Protagonisten bleiben seltsam holzschnittartig, ihre Charaktere in Andeutungen gehüllt, die auch später nicht aufgelöst werden. Richtig schwierig wird das, als der Roman im letzten Drittel endlich Fahrt aufnimmt und mit der Spannung auch die Ungereimtheiten zunehmen. Planloser Haudrauf-Aktionismus, emotionale Ausbrüche, die eher auf Distanz gehen lassen bis hin zum erschöpfenden Einsatz des Bolzenschneiders, mit dem sich die anfänglich so scharfsinnige Alice Vega bis zum Ende durchprügelt. Dieses kommt dann doch etwas plötzlich daher und hat mich in Sachen Täterschaft so wenig überzeugt wie der Umgang mit dem Stoff selbst. Das Thema Mädchenhandel wird oberflächlich - quasi als Einzelfall- abgehandelt und dient der Geschichte lediglich als Aufhänger.
Auch sprachlich bewegt sich der Roman oft außerhalb des Thriller-Registers. All die abgebrühten Kerle, vom Cop bis zum Kartellboss, "sausen" und "flitzen" bis zu dreimal pro Doppelseite durch die Handlung - manchmal auch nur zum Snackautomaten - oder "kichern" auffallend viel in sich hinein.

Übersetzt wurde das Buch übrigens von Andrea O'Brien, die noch gut auf die Klappe gepasst hätte, was doch mittlerweile Usus sein sollte.

Der Suhrkamp-Verlag steigt hier mit dem zweiten Vega-Band der New Yorker Autorin Louisa Luna in die Reihe ein. Ob das Unbehagen beim Lesen daraus resultiert, dass man etwas verpasst zu haben glaubt? Ich fürchte, ich werde auch bei Gelegenheit das Versäumte nicht nachholen. ⭐️⭐️⭐️/5

Bewertung vom 05.05.2021
Wenn Haie leuchten
Schnetzer, Julia

Wenn Haie leuchten


sehr gut

Abgetaucht in ein Meer voller Rätsel

Wie groß ist der "Wortschatz" eines Delfins, wo schwimmen Haie ins Café und warum können einige von ihnen füreinander leuchten? Was sind Phantominseln und hat James Cook bei seinen Entdeckungen und ihrer Kartierung etwa geschummelt ?
Können Fische zählen ? Was macht Quallen unsterblich? Und vor allem - wie kann man das überhaupt herausfinden?

Diesen und anderen Fragen geht die Meeresbiologin Julia Schnetzer auf den Grund und nimmt die Leser*innen mit auf eine Tauchfahrt in rätselhafte Gewässer.

Mit dem vielstrapazierten Satz, dass der Mensch sich besser auf Mars und Mond auskenne als in den Meeren, die gerade mal zu fünf Prozent erforscht seien, räumt sie gleich im Vorwort auf, das für mich zu den spannendsten Kapiteln zählt. Darin geht es um die Kartierung des Meeresbodens, dessen Vermessung dank neuer Technologien in der jüngsten Zeit deutlich voranschritt und Überraschendes zur Geografie der Ozeane ans Licht brachte.

Das mag trocken klingen, doch die erfahrene Science-Slammerin versteht es, selbst komplizierte wissenschaftliche Sachverhalte unterhaltsam und vor allem anschaulich zu vermitteln. Denn eines muss man wissen: Hier steht ganz klar die Forschung mit ihren neuesten Methoden, Messtechniken und Technologien im Fokus, und zu deren Verständnis sind ein paar solide Grundkenntnisse in Physik und Biochemie nicht von Nachteil.
Dennoch kommen auch Leser*innen wie ich auf ihre Kosten, die sich mehr für die Entdeckung neuer Arten oder die Verhaltensbiologie (Die Sprache der Delfine) interessieren. Sehr sympathisch fand ich hier z.B. den Ansatz, den ohnehin schwammigen Intelligenzbegriff nicht länger am Menschen festzumachen.

Julia Schnetzer bringt ihr Publikum nicht nur auf den neuesten Stand der Forschung, sie zeigt auch deren Grenzen auf und dass diese nicht zum Selbstzweck geschieht. So dienen etwa Studien zum Alter von Meerestieren nicht dazu Rekorde aufzulisten, sondern nachhaltiger Fischerei.
Mit ihrem Buch schafft es die Wissenschaftlerin, für das Meer zu begeistern und appelliert zugleich eindringlich an uns, sich um dessen Erhalt zu sorgen. Es bedeckt 70 Prozent der Planetenoberfläche und ist sein wichtigstes Atmungsorgan.
Das Kapitel zum verlorenen Plastik - schätzungsweise 100 000 Tonnen befindet sich allein in Tieren - wird noch lange in mir nachwirken.

Nach dem Motto, das Beste kommt zum Schluss, widmet sich die Autorin im letzten Kapitel ihrer Königsdisziplin, der Mikrobiologie. Trotz der aktuellen Brisanz - nicht zuletzt für das Gleichgewicht unseres Ökosystems - bin ich bei Viren und Bakterien dann doch ausgestiegen. Aber ich weiß, wo ich bei Bedarf und mit der Aussicht auf Lesevergnügen jederzeit wieder eintauchen kann.