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LichtundSchatten

Bewertungen

Insgesamt 241 Bewertungen
Bewertung vom 11.06.2024
Das Jahrhundert der Toleranz
Precht, Richard David

Das Jahrhundert der Toleranz


weniger gut

Wir lesen in diesem Buch wunderbare, hochmoralische Sätze wie: „Das Leben eines Menschen ist gleich viel wert, egal welchen Geschlechts er ist, welche Hautfarbe er hat und wo auch immer in der Welt er lebt.“

Gleich darauf folgt die Anklage Richtung Abendland bzw. seiner eigenen Herkunft: „Und doch stufen wir, wenn Europa wichtiger ist als Afrika, implizit die Menschenwürde ab in Wir, die anderen und die ganz anderen.“

Aha, hier hätte ich eigentlich aufhören können mit dem Lesen, ging aber weiter und gab Precht noch einige Chancen. Nicht jeder hat Enzensberger gelesen oder die Rhetorik Frantz Fanons bzw. ihre Gegenaggression verstanden.

„In der Abenddämmerung der Sozialdemokratie hat dagegen Rousseau noch einmal gesiegt. Sie haben nicht die Produktionsmittel, sondern die Therapie verstaatlicht. Dass der Mensch von Natur aus gut sei, diese merkwürdige Idee hat in der Sozialarbeit ihr letztes Reservat. Pastorale Motive gehen dabei eine seltsame Mischung ein mit angejahrten Milieu- und Sozialisationstheorien und mit einer entkernten Version der Psychoanalyse. Solche Vormünder nehmen in ihrer grenzenlosen Gutmütigkeit den Verirrten jede Verantwortung für ihr Handeln ab.“ („Aussichten auf den Bürgerkrieg“, 1994, S. 37)

Es ist grundsätzlich unmöglich zu definieren, was denn überhaupt "Gerechtigkeit" ist, sie herzustellen ist universell für alle Kulturen unmöglich. Aus diesem Grunde ist es hoch-notwenig, Europa werteorientiert zu definieren, die anderen Kulturen zu erfassen und die ganz anderen in ihren Differenzen zu verstehen.

Diese dramatischen Differenzen im Islam nimmt Precht nicht zur Kenntnis, er meint im Kapitel „Unzeitgemäße Feindbilder“ der Islam würde sich nicht als Gegenpol bzw. neuer Konkurrent eignen. „Vom vermeintlich gleichen Weltherrschaftswahn getrieben, trat im Deutungsmuster des Westens nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus in Osteuropa der Islam auf den Plan.“ Den von Huntington beschriebenen Kulturkampf sieht Precht nicht, weil „die islamische Welt bildete auch damals ein völlig zerstrittenes Ensemble und keine politisch und kriegerisch geschlossene Einheit.“

Vermutlich würde Precht, wenn er denn den Islam je gelesen und verstanden hätte, diesen auch kritisieren und seine überdauernde Einheit und Gefahr dann erkennen, wenn er diese Religion und Ideologie auf öffentlichen Plätzen endlich analysieren würde. Ob die von Precht postulierten Werte aus dem Oberkommando Weltmoral auf das Verhältnis zu Frauen passt, könnte er studieren in diesem Buch eines türkischen Verfassungsrechtler: "Frauen sind Eure Äcker", von Ilhan Arsel.

Wir alle schreiben ab und zu, besonders gut kann dies Precht. Das 21. Jahrhundert ist keine Zeit der Toleranz, sondern ein harter Kulturkampf zwischen völlig unterschiedlichen Erklärungsmustern der Menschenrechte. Toleranz im westlichen Sinne wird von der islamischen Welt unter dem dramatischen Vorbehalt der Scharia gesehen. Nichts verbindet die Kultur des Islam mit der des Christlichen Abendlandes, auch wenn Herr Precht weiter sucht, eine Erd-Charta, ein einheitliches Weltethos ist unmöglich.


Nach einigen Konflikten mit dem Mainstream sehe ich dieses Buch als Wunsch der Wiedereingliederung des großen Philosophen Precht in die richtige Denkweise wertegeleiteter Außenpolitik, die schon dann versagt, wenn Bergkarabach von Deutschland alleine gelassen wird, um Gas in Aserbaidschan zu kaufen. Was mir in vielen Büchern/Veröffentlichungen auffiel: Precht hat in der differenzierten Betrachtung von Religionen und dem unverrückbaren Standpunkt des Islam wenig verstanden und kann seine Folgen nicht erkennen. Auch hier sei Enzensberger empfohlen: „Die Schreckensmänner. Versuch über den radikalen Verlierer" (edition suhrkamp)

2 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.06.2024
Machtübernahme
Semsrott, Arne

Machtübernahme


schlecht

Gleich zu Beginn lesen wir, dass die beschriebenen Inhalte einer Machtübernahme durch Rechtsextremisten eine Art Storytelling darstellen: „Diese stellen keine Tatsachenbehauptungen dar, sondern skizzieren als Meinung und stilistisches Mittel einen möglichen Verlauf der Zukunft.“

Nun, wie sieht eine gute Zukunftsprojektion für den Autor aus: „Die Investigativ Recherche von Correctiv hat alles, was eine gute Geschichte braucht: Rechtsextremismus, Neonazis, Superreiche, AfD- und CDU Politiker*innen, darunter auch der Gründer der Backwerk-Kette und Investor von Hans im Glück.“ (S.164)

Aha, und wieviel darf heute noch von der Investigativ Recherche behauptet werden?

Semsrott reitet auf dem weißen Elefanten ganz weit oben durch die Gegend, den Elefanten sieht er nicht mehr, sehr wohl aber jene, die nichts über Migration sagen dürfen. Hier wird explizit Jens Späth von der CDU genannt, der nun kein Recht habe über Migration zu reden, geschweige denn etwas zu fordern.

Nun, wer erlebtes Wissen im Bereich von Kulturen hat, die Homosexuellen äußerst feindlich gegenüber stehen, dürfte durchaus sachliche Kenntnisse der Grundlagen dieser Religion aufweisen. Vielleicht auch darüber, wer im Iran ab 1979 vermehrt an Baukränen hing. Es war nicht nur Linke und Kommunisten, nein auch Menschen mit gleichgeschlechtlicher Präferenz.

Ganz besonders gefallen hat mir der Tipp 6. Kündigen: „Wenn Sie es sich leisten können, kündigen Sie ihren Job in einem Unternehmen und versuchen Sie, Ihre Zeit stattdessen in Demokratiearbeit zu investieren.“

Selten habe ich etwas gelesen, das absurder klang. Am Ende sollen die Unaussprechlichen im Trash TV landen, das sei aber ein langer Weg. Sie werden regieren und eine Katastrophe sein für u.a.: „Menschen, die von Armut betroffen sind; Menschen mit Behinderungen; Frauen; Grüne; Linke.“ Eine spannende Reihenfolge.

Zu Mannheim wäre das zu zitieren?: „Wenn öffentliche Räume offen bleiben, gewinnt die Demokratie.?“
Oder das: „Wenn wir es schaffen, nicht nur offene, sondern sichere Räume zu schaffen, kann daraus etwas Neues entstehen.“ Nun, Herr Semsrott, dann schaffen Sie mal schön, aber studieren Sie vorher bitte alle Religionen und Kulturen und ihre Lebensbräuche. Schneller als man denkt, sind dann innere Grenzen notwendig.

So stehen dem Klientel von Herrn Semsrott nun alle Möglichkeitsräume offen, um endlich Vielfalt und Hochmoral einfältigst umzusetzen. Wie Correctiv vorgeht, hat Herr Steinhöfel in seinem neuen Buch gut beschrieben. Höchst interessant, wie Herr Schraven Correctiv durch Kaffee und Immobilien finanziert.

0 von 15 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.06.2024
Bedrohtes Israel
Primor, Avi

Bedrohtes Israel


weniger gut

Er bezeichnet die Hamas als eine „Idee und historische Bewegung“ und kein Wort finde ich in diesem Buch über die Religion des Islam, keine Analyse, nichts. Stattdessen wird der aktuelle israelische Regierungschef auf die Anklagebank gesetzt und als Ursache der Probleme angesehen.

Zudem wird insinuiert, dass die unsäglichen Angriffe der unmenschlichen Hamas am 7.10.23 der Regierung Netanjahu bekannt gewesen waren, ihnen dieser Terror also gerade recht kam. Netanjahu wird Geiz und Korruption unterstellt, geradezu überschwänglich wird vom rosa Champagner berichtet, in dem das Paar Netanyahu schwimmen könne. Zudem habe er sich als aufstrebender Politiker immer wieder die Restaurant Rechnungen bezahlen lassen.

Man kann den Hamas Terror nur verstehen, wenn man die religiöse Dimension und die Herkunft des tödlichen Hasses mit großen Schaudern ergreift. Eine alleinige Analyse aus rechtsstaatlich, demokratischen, bilateralen, staatlichen Gründen muss zu kurz springen.

Was die Geschichte Israels betrifft, erfährt man nichts Neues. Dieses Buch wird allen Redakteuren und Politikern in Deutschland gefallen, die in Netanyahu den kommenden Diktator sehen. Darf sich die Judikative die Aufgabe der Legislative bemächtigen? Darum geht es im aktuellen Streit in Israel und nicht um die Abschaffung des Justizsystems.

Sie sollte es nicht, wäre die vernünftige Antwort überall, auch in Deutschland. Wo aber immer mehr Gesetze vom Obersten Gericht korrigiert oder geändert werden (können), fährt eine Regierung oft Schlingerkurs und die Judikative wird zum Gesetzgeber..

In einer Demokratie sollte die Regierung Gesetzgeber bleiben und nicht wie auch immer gewählte Richter, die ihre Mandate nicht vom Volk erhalten.

Dieses Buch hat mir keinesfalls gefallen. Irgendwo lese ich, in den Kibuzen würden nur Sozialisten leben, der Traum von Primor möglicherweise. In diesem Zusammenhang empfehle ich alle Bücher von Chaim Noll, der die Lage in Israel für mich nachvollziehbarer und sachlicher schildert.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.05.2024
Weltreise eines Kapitalisten
Zitelmann, Rainer

Weltreise eines Kapitalisten


ausgezeichnet

Wenn ich eines bedaure, dann, dass ich in meinem Leben nicht mehr Nachrichten von anderen Länder gehört habe. Der Kontrafunk mit Sitz in der Schweiz bietet heute Informationen immerhin zu drei Ländern, die zumindest von der Sprache her zusammengehören. Und doch gibt es dramatische Unterschiede, z.B. in Sachen direkte Demokratie, die bei uns in Deutschland nicht opportun ist, weil wir nicht dafür geeignet wären, so erinnere ich eine Aussage von Schäuble. Von Frankreich dagegen weiß ich so gut wie nichts, die Sprachbarriere verhindert einen guten Austausch von gegenseitigem Wissen, obwohl das Elsass so nahe ist.

Demokratie bedeutet nicht zu allem Ja sagen, sondern misstrauisch zu sein. Denn die meisten Politiker in Deutschland melden sich nur kurz vor Wahlen bei ihrem Volk, zwischendrin darf man sie nicht stören und muss den vereinigten Propagandamedien lauschen. Aber in der Schweiz ist das anders, dort ist das Volk der Souverän und kann falsche Entscheidungen auch während einer Legislaturperiode korrigieren. Offensichtlich führt dies zu einer höheren Zufriedenheit aller und zu besseren Entscheidungen. „Im Index der wirtschaftlichen Freiheit steht die Schweiz zwei von 176 Ländern, nur 0,1 Punkte hinter dem Spitzenreiter Singapur.“

Das erste Reiseziel von Rainer Zitelmann war also die Schweiz, das kapitalistischste Land der Welt. In Zürich unterhält er sich mit Liberalen/Libertären, um den aktuellen Einstellungen auf die Spur zu kommen. Dr. Dr. Rainer Zitelmann hat mit eigenen Geld in allen besuchten Ländern Umfragen zum Kapitalismus durchgeführt, also zur wirtschaftlichen Freiheit und welche Zügel ihr angelegt werden bzw. was die Menschen darüber denken. Nicht alle Menschen in der Schweiz sehen die Volksabstimmungen jedoch positiv, ihre Ziele und Inhalte werden ebenso von großen Medienhäusern, NGOs etc. beeinflusst und gedreht wie das bei uns der Fall ist.

Tatsächlich ist man auch in der Schweiz dem Kapitalismus gegenüber eher kritisch gestimmt. Das hat mich überrascht. Die süßen Verlockungen des Sozialismus als einem Cocktail aus Gerechtigkeit, Integration und Vielfalt ziehen überall Menschen in ihren Bann, merkwürdigerweise vor allem auch dann, wenn man vom Staat profitiert, in dem man z.B. als Beamter oder sonstiger Begünstigter (Arzt, Rechtsanwalt) relativ weit oben an der Einkommensskala steht. Hier greift bei vielen die so gut aussehende sozial anheimelnde Scheinheiligkeit bzw. das schlechte Gewissen, um den Armen etwas „zukommen zu lassen.“ Gerne auch rein verbal.

Das Buch bzw. die Reisen von Rainer Zitelmann haben mich fasziniert und viele Hintergründe aufgedeckt, die ich nicht kannte. Insgesamt eine sehr gelungene Mischung aus persönlichem Erleben und dem Kampf gegen das zuckerige, immer scheiternde Gift des Sozialismus. Es ist leicht heute das Scheitern kollektiver Systeme (verbal) kennenzulernen, und doch unternehmen wenige die Reise dorthin. Alle Bücher von Rainer Zitelmann eignen sich dafür bestens, er hat Verbindungen aufgedeckt, die einfach bestechen. Empirie und persönliche Gespräche, nur so entstehen Bilder, die verdeutlichen und klar machen, wer letzten Endes die Menschheit aus der Armut geführt hat und Menschen mehr motiviert als alle Gleichmachereien.

Zum Thema Russland: Rainer Zitelmann war Mitglied der Russisch Orthodoxen Kirche, ist aber mit dem Ukraine Krieg dort ausgetreten. Ich sehe das Thema nicht so schwarz-weiss und würde die Literatur von Iwan Iljin oder Alexander Dugin als Kontrast empfehlen. Wer die Russisch-Orthodoxe Kirche kennt, muss um die völlig andere Kultur wissen, die Russland prägt. Die Menschen dort wurden zweimal vom kollektiven Wahn überfallen und wehrten sich dagegen. Heute sitzen sie einem wie auch immer gearteten Staatslenker auf, der ihnen wichtige Dinge vorenthält. Trotzdem atmet die russische Seele anders, sie hat eine ganze eigene Kraft, die den Oberen oben sein lässt, im Übrigen aber tut was sie für richtig hält.

Global denkende Unternehmen und Präsidenten/Kanzler wollen einen unipolare Welt, in der sich alle Menschen gleich verhalten und entsprechend mit Produkten versorgt werden können. Die russische Seele lehnt das ab und fordert, dass jede Kultur, jeder Nation die Anerkennung ihrer eigenen Wahl und Traditionen hat. Man stellt sich in der Person von Putin (über 70% der Bevölkerung steht hinter ihm) der Diktatur finanzorientierter Eliten, dem Great Reset und der verfallenden Kultur des Westens entgegen. Jeder mag dazu den letzten Eurovision Song Contest anschauen.

Wichtigste Erkenntnis des Buches: „Niedrigere Steuern führen zu höherem Wachstum und im Ergebnis zu höheren Steuereinnahmen für den Staat.“

Leichte Kritik: a) Gewünscht hätte ich mir eine kurze Zusammenfassung der Reisen. b)Lifestyle/sexuelle Präferenzen oder die Anzahl der Freundinnen/Partnerinnen interessieren niemanden.

Sehr gut an Dr. Dr. Zitelmann ist, dass er den fairen Austausch mit Andersdenkenden sucht und findet. Z.B. „Zitelmann und Herrmann an der Uni Tübingen.“

Bewertung vom 09.05.2024
Überlebenskünstler
Enzensberger, Hans Magnus

Überlebenskünstler


ausgezeichnet

Hans Magnus Enzensberger als Schriftsteller ist mir von allen seinen Büchern her bekannt. Ein unbestechlicher, klarer Denker ohne Eitelkeiten. Seine Aussichten auf den Bürgerkrieg (1994!) und die Schreckensmänner sind absolut weit blickende hellsichtige Bücher!

In diesem Buch der literarischen Vignetten gelingt ihm ein spannendes Werk mit Kurzskizzen von Schriftstellern, auf jeweils wenigen Seiten, von bekannt bis weniger bekannt, die alle auf eine ganz eigene Art und Weise überlebt haben. Gegen alle Widerstände und das Vergessen. Höchst eigensinnig willig dem Schreiben ergeben.

Günter Eich war mir vom Radio ein Begriff, ich habe seine Stimme immer geschätzt, ebenso die Hörspiele.
Wir sind mit ihm tief drin im Überleben während der Nazi Zeit. Und später in seiner Art und Weise, sich nicht mehr zu sehr auf andere oder Ideologien einzulassen. Sich um niemand zu kümmern, außer um sich selbst.

Heimito Doderer schrieb „Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre“, ein Werk, das eine langweilige Stiege in Wien weltberühmt machte. Inhalt: verwirrend, schwer fassbar. Doderer sagte: „Der Schriftsteller ist ein ekelhafter Kerl.“

Genau so war er und die Strudlhofstiege versuche ich seit Jahren zu Ende zu hören. Tatsächlich hat sein Verlag ein Doderer ABC herausgegeben, Untertitel: Ein Lexikon für Hermitisten. Es ist 487 Seiten stark und hat im Personenregister 337 Namen. Es gibt noch ein zweites Buch dieses schwer Begreifbaren, von Klaus Nüchtern!, „Kontinent Doderer, eine Durchquerung“.

Lesen werde ich Iwan Bunin, 1870-1953, dem literarische Moden völlig egal waren. „Auch nach ein paar Menschenaltern wirken seine Erzählungen sonderbar frisch. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie vom. Wichtigsten im Leben, vom Unvorhergesehenen, handeln. Stilistisch war er Dostojewski…weit überlegen.“

Enszensberger schreibt auf den Punkt, jene Trigger-Punkte, die einen neugierig machen auf ein Leben und Schreiben eines Anderen. Ein großartiges, gelungenes Buch.

Bewertung vom 09.05.2024
Das Grosse Erwachen gegen den Great Reset
Dugin, Alexander

Das Grosse Erwachen gegen den Great Reset


sehr gut

Die, die alles dekonstruiert hat, die Postmoderne, soll dekonstruiert werden. Weil sie mit ihrem Vorgehen dabei ist, ihre eigene Kultur auszulöschen. So Alexander Dagin, der in diesem Buch anmahnt, dass der Westen als eine der möglichen Zivilisationen nicht das Recht habe, seine Sicht auf alle anderen Völker zu übertragen. „Die Abschaffungskultur (die LGBT+, BLM und feministische Tendenzen einschließt) ist wie ein Aufruf zur Abschaffung aller anderen Arten von Kultur. Es ist der Völkermord an der westlichen Kultur.“

So sieht Dagin den Liberalismus in seiner aktuellen Ausprägung als ein Verbrechen gegen die Menschheit - schlimmer als Faschismus und Kommunismus. Nicht also die offene Gesellschaft und ihre Feinde, sondern verschiedene Gesellschaften, die sich in einer multipolaren Welt gegenseitig respektieren, ist sein Ziel für das Funktionieren eine Vielzahl von Zivilisationen.

Russland steht auf den Füßen einer mongolisch geprägten Zentralverwaltung und den christlichen Konzepten des byzantinischen Reiches. Die Verirrung des Kommunismus habe gezeigt, dass es richtig ist, an die ehemalige Größe des russischen Reiches anzuknüpfen, ohne jedoch Größe an sich als Wert zu sehen. Man möchte in Ruhe die eigene Kultur leben, nicht vom westlich dekadenten Liberalismus überrollt werden.

Global denkende Unternehmen und Präsidenten/Kanzler wollen einen unipolare Welt, in der sich alle Menschen gleich verhalten und entsprechend mit Produkten versorgt werden können. Dugin lehnt das ab und fordert jeder Kultur, jeder Nation die Anerkennung ihrer eigenen Wahl und Traditionen. Er sieht den Versuch einer weltweiten Diktatur der liberal-kapitalistischen Eliten, gegen die sich Russland stellt.

Dugin formuliert das große Kontra gegen Antichristen und alle völlig enthemmten Spielarten des westlichen Liberalismus, er möchte wertvolle Traditionen bewahren und den wahren Reichtum der menschlichen Vielfalt wieder aufleben lassen, in Kooperation und Toleranz. Dabei sieht er Russland zunächst als ein Gebiet mit eigener Kultur und Traditionen, die sich nicht per se in den Werten des Westens wiederfinden möchte.

Viele Aspekte kann ich nachempfinden und sehe sie als ein großes Damoklesschwert am Himmel von Menschen im liberalen Westen, die auch nicht den geringsten Zweifel an ihrem Vorgehen haben. Sie meinen die Menschheit mit ihren Sichtweisen von Menschenrechten und Demokratie beglücken zu müssen und allen das westliche Wertesystem aufzuzwingen. Dies ging schon im arabischen Frühling völlig schief und wird auch in Zukunft an seine Grenzen stoßen.

Dugin meint, dass der Kapitalismus schuld war am Sklavenhandel und der Ausbeutung von Menschen. Es mag in Teilen zutreffen, nicht aber zur Gänze. Auch religiöse Einstellungen spielten eine Rolle und leider hat es Sklaven in fast allen Gesellschaften gegeben, bis zum heutigen Tag. Der liberale Westen, d.h. die englische Demokratie hat die Sklaverei für Europa angegriffen und beendet. Eine einzigartige Leistung von Freiheit und Menschenrechten.

Das Buch zu lesen, war für mich eine Art von Schock. Der liberale Mensch aus dem Westen wird darin als Faschist beschrieben, der Bürgerkrieg schürt, für soziale Ungerechtigkeit sorgt sowie Besatzung, Kolonisierung und Entmenschlichung ausübt. Gerade, weil er es gut meint, aber nicht jeder andere dieses Gute als Gut ansieht, sondern als das Gegenteil seiner Kultur.

Die politische Theorie von Dugin sieht eine Rückkehr zur Erde vor, „das heißt, die Rückkehr zu den Menschen, die Rückkehr zu den Ursprüngen, die Rückkehr zu den Quellen.“ Seiner Ansicht nach sollten die Worte von Nietzsche Wirklichkeit werden: „Meine Brüder, bleibt der Erde treu.“ Der russische Mensch war nie ein Stadtmensch, er war meist seiner Scholle, seinem Land treu.

Hier sieht Dugin eine wichtige Komponente seiner politischen Theorie, die mit der gelebten Praxis des ländlich und bäuerlich russischen Menschen für ihn heute wieder seinen Anfang nimmt. Sie sind gerichtet gegen die sogenannten finalen Riten der westlich liberalen, städtischen Welt, als da wären: Schwulenparaden, BLM-Aufstände, Gendersprache, imperialistische LGBT+Angriffe, Regenbogenflaggen an Regierungsgebäuden, Aufstände des wilden Feminismus etc.

„Unser Imperium ist 1991 gefallen. Heute sind sie (die Globalsten) an der Reihe. Und es ist unsere Pflicht, als völlig souveräne und unabhängige geopolitische Einheit in die Geschichte zurückzukehren.“ (Letzter Satz dieses vor dem Ukraine Krieg erschienenen Buches).

Bewertung vom 05.05.2024
Unerhört - Esther Vilar und der dressierte Mann
Baur, Alex

Unerhört - Esther Vilar und der dressierte Mann


ausgezeichnet

Mehr noch als ihre Bücher haben mich schon immer ihre Interviews und Reden beeindruckt. Esther Vilar ist eine Ausnahmeerscheinung und ein erstes Beispiel für Cancel Culture.

Ihr erstes Buch, „Der dressierte Mann“, wurde von vielen nicht gelesen und trotzdem negativ besprochen, der Mob hatte sich mit dem linken Zeitgeist verbündet und alles gegen Esther Vilar unternommen, von ganz oben bis hinunter in die Straßenbahn. Als sie dort 1978 geohrfeigt wurde (im Auftrag einer Frau) schrieb Alice Schwarzer: „Die Vilar soll ja mal eine Ohrfeige eingefangen haben. Das kann ich gut verstehen. Mich würd’s auch mal reizen, ihr eine zu scheuern.“

Nun, wer wissen will, wieviel Frau Schwarzer einstecken musste, der lausche gebannt dem Interview vom 6. Februar 1975, Alice Schwarzer versus Esther Vilar. Die geradezu pistolenartig vorgebrachten Vorwürfe der Schwarzer gipfeln dort in dem Faschismusvorwurf gegenüber ihrer Kontrahentin. Für mich ist dieses Video Pflicht für den Umgang mit ideologisch erstarrten Personen wie Schwarzer. Einfach unvergleichlich, wie cool und gelassen sowie höchst sachlich Esther Vilar darauf reagierte. Hier zeigt eine Hochbegabte einer Populistin ihre Grenzen.

Alex Baur gelingt mit diesem Buch ein Meisterstück, es zeichnet eine Frau in jenen psychologischen Schichten nach, die Schwarzer in ihrer holprigen Art aus Esther Vilar heraus fuchteln wollte. Tatsächlich lebte Esther Vilar ein glückliches, weit gespanntes, spannendes Leben, völlig gleichberechtigt und gegen alle Anfeindungen, auch jener Frau, die der deutschen Frauenemanzipation niemals einen Gefallen tat. In dem oben beschriebenen Interview muss man nur in die beiden Gesichter und ihre grundverschiedenen Ausstrahlungen mitfühlen. Die bei mir auftauchenden Gegensatzpaare kann ich hier nicht anführen.

Der Unterschied zwischen männlicher Frauenemanzipation und der weiblichen wird mehr als deutlich, Alice Schwarzer verkümmert zu einer Person, mit der man trauern muss. Im Interview fragte sie Esther Vilar geradezu anklagend immer wieder nach ihrem Privatleben, eine ungeheuerliche Entgleisung, auch in der Nachbetrachtung, ja, sie möchte sie anklagen, sogar gerichtlich. Wie man darauf richtig reagiert, Esther Vilar vermittelt ein Lehrbeispiel für alle Menschen, die angegriffen werden. Trotzdem gehen die üblen Samen auf und nach ihrer Flucht 1978 in die Schweiz schreibt Esther Vilar: „Ich habe die Bundesrepublik nach vielen Monaten sadistischen Psychoterrors für immer verlassen.“

Dieses Buch führt ein Stück der von mir selbst erlebten Geschichte aus den 70ern bis heute vor, ohne dass ich damals alles in der Tiefe begriffen hätte. Esther Vilar ist eine bemerkenswert kluge Person, die nur nach einem Kompass lebte: der inneren und äußeren Freiheit. Sie hatte und hat den Mut, selbst zu denken und es nicht Personen wie Alice Schwarzer zu überlassen.

Tatsächlich wurde ich auch angeregt, das gesamte Werk von Esther Vilar zu lesen, ihr Denken vergleiche ich in einem sehr weiten Sinne mit Ayn Rand, die ebenfalls weitab von Zeitgeist ihren eigenen Stil lebte und dachte, auch weil sie zwischen allen Welten sah, fühlte und vermitteln konnte.

Frau Schwarzer versucht ein billiges Machtspiel zu etablieren. Sie beginnt mit einer Beleidigung, um dann durch dauernde Unterbrechungen, plumpe Angriffe, gespielten Sarkasmus ihr Gegenüber zu untergraben. Nicht ein Mal schafft sie es, sachlich zu kontern. Frau Vilar zeigt sich als die selbstbewusste, völlig in sich ruhende Persönlichkeit, die sie heute noch ist. Sie analysiert perfekt, frei von jeder Ideologie, so dass Frau Schwarzer sich nur in kindisches Kichern, Selbstbeweihräucherung und lächerliche Analogien flüchten kann. Ein Paradebeispiel für schlechte Kommunikation, die nur der Selbstdarstellung dient und von niederen Instinkten geleitet ist.

Bewertung vom 05.05.2024
Nichts als die Wahrheit
Gänswein, Georg;Gaeta, Saverio

Nichts als die Wahrheit


ausgezeichnet

Benedikt XVI war ein bescheidener, überaus kluger, intellektueller Kopf, den ich erst verspätet wahrgenommen habe. Umso mehr war diese Biografie aus der Nähe seiner Person wichtig und lesenswert. Die Erkenntnisse aus diesem Buch sind weit, viel weiter als man es vermuten könnte, sie sind eine Art reinste Erkenntnis, die mich faszinierte.

Der Katechismus der katholischen Kirche muss für ihn als Ganzes gelesen werden, dabei gilt die Grundaussage über den Menschen: er ist nach dem Ebenbild Gottes geschaffen, ihm also ähnlich. Die Zehn Gebote sind eine andere Form der Liebe, eine Auslegung davon, sie müssen mit Jesus interpretiert werden. Dieser wesentliche Eckpfeiler des Katechismus wurde vom Kardinal Ratzinger im Auftrag von Johannes Paul II formuliert und tatsächlich als Gesamtwerk von ihm selbst als Papst am 26.6.2005 der Öffentlichkeit vorgestellt.

Benedigt XVI verurteilte es, „das Christentum zu einem Moralismus, den Moralismus zu einer Politik umzuformen, Glauben durch das Tun zu ersetzen.“ Wie eine Voraussage in unsere Zeit sagt er: „Dadurch verfällt man in partikularistische Parteilichkeit, verliert vor allem die Kriterien und Orientierungen, und am Ende wird nicht aufgebaut, sondern gespalten.“

Jesus sagte: „Ich bin nicht gekommen , den Frieden zu bringen, sondern das Schwert“. (Matthäus 10,34) Übersetzt man diesen Satz tatsächlich aus dem Aramäischen in richtiger Weise, dann heißt er: Seid nicht gutgläubig, seid wachsam! Wenn Ihr Euch mit anderen zusammensetzt, zieht das "Schwert der Worte" und streitet für Eure Sache. Meine Aufopferung, mein Selbstopfer bedeutet nicht Frieden, Erlösung als Automatismus, sie ist eher der Beginn des Kampfes um Wissen und Wahrheit.

Benedigt XVI sagte im Gleichklang dazu: „Wer glaubt, muss auch durch die finstere Schlucht gehen, durch die finsteren Schluchten der Unterscheidung und damit auch der Widrigkeiten, der Widerstände, der ideologischen Gegensätze.“

Er ist überzeugt davon, dass die größte Problematik unserer Zeit die Abkehr von Gott ist, dem biblischen Gott. Dass der Gottesbezug in der Präambel der Europäischen Verfassung gestrichen wurde, war für ihn ein großer Fehler. Jeder, auch der größte Atheist, sollte sich in seinem Denken an den Werten von Jesus und der Bibel orientieren, weil sonst neuen Ideologien Tür und Tor offen standen, die Menschen eher verwirren als voranbringen werden. „Der zum äußersten geführte Versuch, die menschlichen Dinge unter vollständigem Verzicht auf Gott zu formen, führt uns immer näher an den Rand des Abgrunds, zur gänzlichen Zur ckstellung des Menschen.“

Papst Franziskus ist ein Gegenpol zu Benedikt und mit diesem Buch versteht man, warum das so ist. Es erfasst die Grundlagen des katholischen Glaubens und vermittelt m.E. jene Elemente, die für die katholische Kirche für morgen notwendig sind. Insgesamt spannend geschrieben, höchst lesenswert die Stationen dieser Nachricht in Szene gesetzt: „Wir sind Papst.“ Für ihn war Christusnachfolge in das Feuer der Liebe mithin in die Freiheit einzutreten.

Ein Buch, das er am Ende intensiv las: Kardinal George Pell’s Erinnerungen an seinen Prozess und die Inhaftierung in Australien: „Unschuldig angeklagt und verurteilt“, 3 Bände.

Bewertung vom 05.05.2024
Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben
Tauschwitz, Marion

Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben


ausgezeichnet

Czernowitz ist mir in anderen Büchern schon mehrfach aufgefallen, vor allem als eine Stadt der Bücher - so schreibt Zvi Yavetz als Titel für sein Buch: „Erinnerungen an Czernowitz, wo Menschen und Bücher lebten. Auch Selma Merbaum stammt aus dieser leidgeprüften Stadt.

Zvi Yavetz schrieb: „Heute bin ich fest davon überzeugt, dass ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung von Czernowitz den mündlich weitergegebenen Nachrichten mehr Glauben schenkte als den offiziellen Berichten der Tageszeitungen.“ Auch bei Selma Merbaum dürfte es nicht anders gewesen sein. Und spannenderweise sehen wir uns heute einer ähnlichen Entwicklung ausgesetzt.

Czernowitz war damals eine multikulturelle Stadt mit unterschiedlichsten Religionen, Sprachen und Bevölkerungsanteilen. Es war wenig Frieden und Glück, die Kommunikation wurde im Untergrund geführt und wenige trauten den anderen über den Weg. Für ein Kind ist dies manchmal Abenteuer, meist aber ein tiefer dunkler Graben, der depressiv macht. Selma Merbaum und ihre Angehörigen werden in diesem spannenden Buch zum Leben erweckt, ihre damalige Zeit und die Verarbeitung des Erlebten durch das junge Mädchen stehen vor uns.

„Heimelig war ein Zuhause dort nicht:
(Gedicht von Selma Merbaum vom 9. Juni 1939)

„…so viele Hühner und ein kleiner weißer Hund
Und Himmel der so farbenfroh und bunt -
Der kahle Baum wirkt so gespensterhaft
Und graue Häuser, wie ohne Kraft.

…Die Luft ist leis und voll von Sehnen.“

Das Schicksal von Selma Merbaum und ihre Kraft trotz allem Leid zu schreiben, machen einen fassungslos. Der Vernichtungswillen gegen Juden war in den Nazis zu einem Maß gesteigert, der allem widerspricht was Menschsein ausmacht, der auch im Abstand immer noch erschaudern lässt. Es sind ihre Gedichte, in denen alles mitschwingt, die ihr Leiden fassbar machen, die in alle Zeiten hinaus erkennen lassen, wie sehr die lebendige Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit alles durchzieht.

„Heute tatest Du mir weh.
Rings um uns war Schweigen nur,
Schweigen nur und Schnee.
Himmel war, nicht wie Azur,
Blau jedoch und voll mit Sternen,
Windeslied erklang aus fernsten Fernen.“

Bewertung vom 03.05.2024
Erinnerungen
Schäuble, Wolfgang

Erinnerungen


ausgezeichnet

Eine schöne Einleitung mit Helmut Schmidt als Schlusspunkt und seiner Aussage, die auf Schuld und Verstrickung hinweist bzw. die Tatsache, dass jeder seine Fehler erkennen sollte und niemand frei sei von Fehlern. Mehrfach erwähnt Wolfgang Schäuble noch den Altkanzler der SPD und zeigt die einheitlichen Werte auf.

Dann der Hinweis auf den Fußball zu Beginn des Buches, Bern 54 und seine ihn prägende Fußballleidenschaft. Wenn es ihm nicht passte damals, nahm er wohl den Ball auch mal mitten im Spiel nach Hause. Hier die typische Politikeraussage: weiß nicht mehr, ob es stimmt, aber wenn es wahr wäre, ist es nahe an mir. Ergo: immer schön im Vagen bleiben, andeuten, aber nichts zugeben.

Und WS beherzigte zeitlebens die Aussage eines Fußball-Mitspielers: „Wenn Du austeilst, musst Du nicht so viel einstecken.“

Wenn ich nur diese beiden Inhalte Revue passieren lasse und mit dem abgleiche, was mir von Schäuble in Erinnerung bleibt, dann sind es zwei Dinge: 1. Die Aktentasche voller Geld und 2. Das oft mürrische Austeilen von Aussagen und nicht immer intellektuell unterlegten Mitteilungen in Richtung Öffentlichkeit. Zum Beispiel: Inzucht wäre unser Schicksal, wenn nicht mehr Menschen von außen einwandern. Darüber hinaus ist mir die Schelte eines Mitarbeiters, öffentlich, in Erinnerung, der Akten nicht rechtzeitig vorlegte.

Sein Verhalten war immer ein Ritt auf der Rasierklinge: zwischen echter Peinlichkeit und lichten, großen Momenten. Er fühlte sich von Kohl immer unter Wert geschlagen und tatsächlich hätte dieser ihm 1998 den Vortritt als Kanzlerkandidat lassen müssen. Alles wäre dann ganz anders gekommen und Merkel wäre uns allen erspart geblieben. Kohl lässt er weitgehend gut aussehen, dieser haben den Mitarbeitern stets eine lange Leine gelassen, Merkel wollte alles bestimmen.

Am Ende des Krieges geboren, 1942, wächst WS in Hornberg im Mittleren Schwarzwald, unweit von Triberg auf. Sein Vater baut sich etwas auf (Steuerberatung) und ist früh in der CDU engagiert, so auch die drei Söhne. Die Familie ist engagiert, auch in der Kirche, und bringt etwas zuwege, mit Disziplin, Ausdauer und Können.

Wolfgang Schäuble war mir weder als aufstrebender Abgeordneter noch später als Minister wirklich sympathisch. Letzten Endes konnte ich meine eher negative emotionale Einstellungen ihm gegenüber in dieser Biografie ziemlich gut orten.

Interessant zu Beginn die Definition von Konservatismus, die leider nicht über alle meist belanglosen Aussagen hinausgeht. Sie sind oft hilflos, statt selbstbewusst eine Position zu vertreten wie ich das z.B. bei einem Mann wie Dr. Dr. Zitelmann wahrnehme. Schäuble lernte Hayek in Freiburg noch kennen, er erkennt wesentliche Eckpfeiler des Wirtschaftens und Wohlstand für alle, aber er ist doch eher Jurist, Mediator und Sich-Durchsetzer im Politiker-Gewerbe.

Karl Popper und seine Gesellschaftsphilosophie ist ihm Vorbild und Maßgabe, sich immer wieder in Frage zu stellen und den offenen Diskurs zu wählen. In vielen Absätzen des Buches ahnt man, wie intensiv in Ausschüssen des Bundestages gerungen wurde, um dann Satzbandwürmer aufzuschreiben, die viel und wenig sagen.

„Willst Du etwas gelten, komme selten“, gab ihm sein Vorgänger im Wahlkreis Offenburg mit auf den Weg, na ja, da wäre ich mir nicht sicher. WS kümmert sich aber intensiv um die Kontakte ins Elsass, nach Straßburg, das war mir nicht bekannt. Nicht umsonst wird Macron auf der Rückseite des Buches erwähnt, und er fasst diesen Mann sehr gut zusammen: „Ein sehr großer Diener Deutschlands, ein großer Europäer und ein großer Freund Frankreichs.“

Merkel darf sich mit diesem Satz auf der U4 einbringen: „Als junge Ministerin war Wolfgang Schäuble mir politischer Lehrmeister.“ Ich hätte das so geschrieben: Wolfang Schäuble war mir als junge Ministerin ein guter politischer Lehrmeister. Ein kleines Adjektiv hätte ich hier doch erwartet.

„Die simple Einsicht, dass es in der Politik um Geld geht, hatte ich früh verstanden.“ (S. 101) Schäuble arbeitet sich in das komplizierte Finanzsystem ein und behält darin die Übersicht, allerdings mit einer zentralen Einsicht: „Wer glaubt, er könne volles Wissen erwerben, das die Beherrschung des Geschehens ermöglichen würde, hat kein Wissen.“

Irgendwann in den 80ern attestiert ihm Kohl wirtschaftliches Können und überlässt Schäuble die Details. Dezidiert, ordnungspolitisch, punktgenau sowie Tag und Nacht arbeitend, ich kann mir gut vorstellen, dass sich Kohl auf ihn verlassen konnte, 100%.

Eine wirklich lesenswerte Biografie und ein Stück Deutschland seit den 70ern. Viele Hintergründe waren mir nicht klar. Schäuble stellt sich nicht zu sehr in den Vordergrund, er anerkennt und ordnet ein. Er litt wohl immer etwas darunter, dass ihm das große staatsmännische und intellektuelle Charisma eines Helmut Schmidt fehlte. Er war kein Glücksfall für die deutsche Geschichte, wie Steinmeier auf der Rückseite orakelt, sondern ein beharrlicher, kluger Mann aus der 2. Reihe, die jeder Staat dringend braucht.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.