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Bavvaria123

Bewertungen

Insgesamt 47 Bewertungen
Bewertung vom 27.07.2022
Die Ewigkeit ist ein guter Ort
Noort, Tamar

Die Ewigkeit ist ein guter Ort


gut

Drahtseilakt

Das Cover ist für mich schon ein Hingucker. Eine junge Frau bei einem Drahtseilakt vor dem Himmel. Ja, und in gewisser Weise passt dieses Bild auch zur Geschichte, mehr noch als der Titel "Die Ewigkeit ist ein guter Ort".

Den Anfang des Buches fand ich humorvoll, und auch nachvollziehbar. Als norddeutsche Seele hat man es nicht unbedingt so mit dem Karneval und empfindet manches dann etwas befremdlich. So wie es der Protagonistin Elke in Köln ergeht, so erging es mir, als ich in Mainz diese fünfte Jahreszeit erleben durfte.
Auch den Ansatz der "Gottdemenz", den die junge Theologin erfährt, ist zunächst einmal ein guter Ausgangspunkt. Elkes direkter Draht, ihre innere Verbindung zu Gott ist plötzlich gekappt und sie hat die Möglichkeit das auch als Chance zu sehen. Wo steht sie? Als Theologin beziehungsweise Seelsorgerin, als Tochter eines Pastors und seiner Frau, als Frau, aber auch als Mensch, der ein schweres Erlebnis der Vergangenheit verdrängt.

Der Schreibstil von Tamar Noort überzeugt mich sehr. Sie formuliert ausgesprochen lebhaft und mit vielen philosophischen Gedanken, wie zum Beispiel auf Seite 41 " Ich war wie ein Brummkreisel, so ein altes Blechding, das sich ausschließlich um sich selbst dreht und dabei niemals von der Stelle kommt."

Die Geschichte wird aus der Sicht der Elke in "Ich-Form" geschrieben. Und das ist vielleicht für mich genau der große Fehler. Ich konnte mich mit dieser in jeder Hinsicht sehr bequemen, egozentrischen, nölenden, sich dahin treibenden Frau so gar nichts anfangen.

In unserem Sprachgebrauch bedeutet die von mir eingangs zitierte Redewendung von einem Drahtseilakt, ein gefährliches oder schwieriges Unterfangen durch zu führen, bei dem der Agierende die Balance zwischen zwei Gegensätzen behalten muss.
Elke kommt in diese Lage, als sie zwischen ihrem Freund Jan und dem Artisten Lukas eine Balance halten müsste.

Am besten gefallen hat mir eigentlich das Papageienweibchen Gertrude, mit großer Klappe und dem Herz am rechten Fleck. Und dann Eva, eine Bekannte aus Elkes Jugendzeit.

Aufgrund dessen, dass ich mit der Protagonistin überhaupt nicht warm geworden bin und ihre Handlungsweise zum ganz großen Teil nicht nachvollziehen konnte, kann ich trotz der wirklich tollen Sprache dem Buch lediglich drei Sterne geben.

Bewertung vom 20.07.2022
Findelmädchen
Bernstein, Lilly

Findelmädchen


ausgezeichnet

Eierlikör - das trinken jetzt alle

Das Cover verrät einiges vom Inhalt des Buches. Die Geschichte spielt in Köln und erzählt von zwei Mädchen.
So ist es dann auch. Das eine Mädchen ist Helga, die zusammen mit ihrem Bruder Jürgen, endlich wieder bei dem aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Vater in Köln leben kann. Das kleine Mädchen ist Bärbel, ein Besatzerkind. Helga lernt Bärbel während eines Praktikums in einem Waisenhaus kennen.

Das Buch beginnt im Dezember 1954 in Frankreich. Lilly Bernstein schreibt so lebendig und packend, dass ich sofort ins Geschehen hinein gezogen worden bin. Ehrlich gesagt fiel es mir richtig schwer, das Lesen für die normalen Dinge des Alltags weg zu legen.

Die handelnden Personen werden sorgfältig und präzise beschrieben, so habe ich sie direkt vor mir gesehen. Besonders mochte ich die ehrliche Helga, die so sympatisch ist. Abstoßend dagegen war Tante Meta, mit ihrem schroffen Charakter.

Auch die Nachkriegszeit, das Leben als "Besatzerkind", die frauenfeindliche Lage und der Beginn des Wirtschaftswunder wurden gekonnt beschrieben. Hier hat die Autorin gut recherchiert und wohl auch aus Erzählungen ihrer Mutter schöpfen können.

In die gegenwärtige Geschichte von Helga und ihrem Bruder fließen auch immer mal wieder Tagebucheinträge von deren Mutter ein, die verschwunden ist. Das gibt dem Roman viel Spannung. Zudem warten auf die Leserschaft einige Überraschungen und unvorhersehbare Wendungen. So ist das Buch absolut kurzweilig und unterhaltend.

Sehr gern vergebe ich alle fünf Sterne und empfehle das Buch jedem, der emotionale und gut eruierte Unterhaltung schätzt.

Bewertung vom 11.07.2022
Was ich nie gesagt habe / Gretchen Bd.2
Abel, Susanne

Was ich nie gesagt habe / Gretchen Bd.2


ausgezeichnet

Wenn über Wesentliches nicht geredet wird

Ich war sehr überrascht, dass es ein weiteres Buch von Susanne Abel über die Kölner Familie Monderath gibt. Wenn es auch durchaus logisch ist, denn wurde in "Stay away from Gretchen" Greta und damit die Mutter von Tom vorgestellt, geht es nun um seinen Vater Konrad, genannt Conny.
So war ich wirklich gespannt auf "Was ich nie gesagt habe", denn Gretas Geschichte war für mich ein Lesehighlight in 2021.

Das Cover knüpft eine starke Verbindung zwischen den beiden Werken und auch der Untertitel "Gretchens Schicksals Familie" weist darauf hin.

Die Autorin schreibt auch hier in zwei Handlungssträngen, der eine beginnt mit Tom im Jahr 2016 und der andere befasst sich mit der Geschichte von Conny ab Mai 1933. Sie nehmen beide ungefähr den gleichen Umfang ein und ich finde diese Vorgehensweise hier absolut perfekt. In beide Stränge werden historische Ereignisse eingeflochten, was gelungen und gutrecherchiert wirkt.
In der Erzählung um Conny sind das beispielsweise die Reproduktionsmedizin und die Lebensborn-Heime des nationalsozialistischen Systems. In der näheren Gegenwart unter anderem der Absturz einer Boing 747 auf der Pazifikinsel Guam oder der Unfall von Lady Di.

Der Schreibstil von Susanne Abel ist ruhig, die Personen wirken lebendig und man sie sich bildlich vorstellen. War mir im ersten Buch Tom eher als eingebildeter Schnösel herüber gekommen, hat er sich zu seinem Vorteil verändert und nun weiß ich auch, warum die Figur der Jenny erschaffen wurde, die mir eim ersten Teil fast ein wenig überflüssig vorkam.

Die Geschichte von Toms Vater hat mich beeindruckt, die um Tom selbst war auf jeden Fall interessant. Sein Halbbruder Henk van Dongen ist ein netter Charakter, der der Handlung auch ein wenig Humor verpasst.

Man kann das Buch auch ohne Kenntnisse des ersten lesen, wird aber sicher dann neugierig auf Gretchens Erlebnisse werden. Und wenn ich so darüber nachdenke, werde ich wohl auch noch mal ihre Geschichte lesen, weil dann einiges sicher noch runder wird.

Ich vergebe 5 Sterne und empfehle diesen Roman allen, die gerne gut geschriebene, akribisch recherchierte Bücher mögen, die eine fiktive Handlung in historische Gegebenheiten einbinden.

Bewertung vom 09.05.2022
Die sieben Schalen des Zorns
Thiele, Markus

Die sieben Schalen des Zorns


ausgezeichnet

Wenn die Lesereise endet


Das Buch hat ein schlichtes, aber absolut passendes Cover. Mir gefällt es sehr.

Kurz nachdem ich das Buch bekommen hatte, gab es in meiner Familie einen Todesfall, weshalb ich teilweise nur langsam in dem Buch voran gekommen bin. Das lag allerdings einzig und allein an den Themen: Leben, Sterbehilfe, Tod.

In dem bewegenden Roman gibt es vier Protagonisten. Da ist der fünfzigjährige Allgemeinmediziner Dr. Max Keller, die demente und schwer kranke Tante Maria und ihre Tochter Agnes sowie den Staatsanwalt Jonas.
Während Max mir durchaus sympatisch erscheint, eckt die sehr von Hass erfüllte Agnes bei mir eher an.

Die Geschichte wird in zwei Strängen erzählt, zum einen befinden wir uns in der Gegenwart um das Jahr 2021 und zum anderen in der Vergangenheit der handelnden Personen. Ich finde es als Orientierungshilfe ausgesprochen angenehm, dass der jeweilige Ort und die Zeit vor den Kapiteln angegeben werden.

Das Buch ist relativ sachlich geschrieben, was daran liegen mag, dass der Autor nicht nur Schriftsteller sondern auch Rechtsanwalt ist. So findet auch ein längerer Abschnitt im Gericht statt.
Trotz dieser Sachlichkeit entwickelt sich aber ein Sog, der mich schnell in das Geschehen hinein gezogen hat.

Markus Thiele spricht das schwierige, komlexe und aktuelle Thema des selbstbestimmten Sterbens absolut gelungen an. Er hinterfragt die in Deutschland derzeit geltenden Gesetze und bringt den Leser bzw. die Leserin dazu, sich eine eigene Meinung bilden zu können.

Mich haben die "Sieben Schalen des Zorns" zum einen spannend unterhalten, zum anderen aber auch sehr nachdenklich gemacht.

Gerne empfehle ich mit allen fünf Sternen dieses Buch jedem Menschen, der sich Gedanken um sein eigenes Ableben macht.

Bewertung vom 22.03.2022
Für diesen Sommer
Klönne, Gisa

Für diesen Sommer


sehr gut

Kommen, Gehen, Sterben, Leben, Bleiben

Vom Cover her würde ich meinen, ich habe hier einen leichten beschwingten Roman in der Hand. Eine sanfte Sommerlektüre für mal so zwischendurch, wenn mir die Wärme der Sonne nicht viel Lust zum Denken macht.
Tja, aber hinter dem Cover steckt eine tiefer greifende Geschichte mit vielen, nicht leichten, Themen und Charakteren.

Es wird die Geschichte der Familie Roth erzählt. Vater Heinrich, Mutter Johanne und die beiden Töchter Monika und Franziska. Heinrich ist mittlerweile 84 Jahre und eine fortschreitende Erkrankung der Nerven erschwert ihm den Alltag immer mehr. Eigentlich kümmert sich nach dem Tod von Johanne Monika um ihren Vater, der noch immer in dem Haus lebt, in dem auch die Mädchen aufgewachsen sind. Dann braucht Monika selbst eine Auszeit und so steht Franziska vor dem Haus und neben ihrem Vater.

Den Schreibstil von Gisa Klönne zu beurteilen, fällt mir nicht sehr leicht. Denn zum einen schreibt sie sehr lebendig, so dass ich vor allem die Hauptprotagonisten Franziska und Heinrich direkt neben mir sitzen gehabt habe. Teilweise durchwebt auch ein Faden von Poesie ohne Kitsch die Erzählung, was mir gut gefällt.
Gestört haben mich allerdings die manchmal doch heftigen Zeitsprünge. Da hätte ich eine etwas andere Einteilung der Kapitel besser gefunden, vielleicht mit Jahreszahlen oder zumindest Hinweisen auf die Zeit. So hatte ich im Lesen doch den einen oder anderen Ruckler.


Die Autorin greift eine Vielzahl von Themen auf. Politik, in der globalen Welt, aber auch innerhalb einer Familie, Ängste, Krankheiten, Zumutungen, Krieg, Tod, Trauer, Verdrängungen und einiges mehr. Das wird erstaunlicherweise aber nicht zu viel, hat mich aber zum Nachdenken gebracht und auch zum Reflektieren der eigenen familiären Geschichte.

Sehr gern vergebe ich diesem Buch vier Sterne und eine Leseempfehlung für jeden, der einen Roman mit viel authentischem Lebensgefühl schätzt.

Bewertung vom 12.03.2022
Vertrauen
Mishani, Dror

Vertrauen


sehr gut

Wer die Wahrheit sagt braucht keinen Rechtsanwalt


Ich bin ein Fan von den Covern des Diogenes Verlags. Auch hier finde ich es wieder einmal richtig gut gelungen.

Dror Mishani nimmt uns mit in einen Vorort von Tel Aviv. Dort wird in einer Tasche ein ausgesetztes Baby gefunden. Gleichzeitig gibt es einen Vermissten in einem Strandhotel. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Fällen, die letztlich auch nach Paris führen?

Der Autor hat einen sehr bildlichen Schreibstil in der Beschreibung der Handlungsorte. Auch die Charaktere stellt er so dar, dass man die Personen direkt vor sich sieht.
Inspektor Avi Avraham ist mir dabei durchaus sympathisch, seine Kollegin Esthi Wahabe kommt mir ein wenig emotionsarm vor.

Die Spannung entwickelt sich allmählich und bleibt dann auch bis zum Ende.
Es geht nicht nur um die beiden Kriminalfälle, sondern auch Themen wie Kindeswohl, religiöse Konflikte, der Mossad, das Leben in Israel allgemein und auch das titelgebende Vertrauen werden aufgegriffen. Dabei versteht Mashani es, das Buch nicht zu überfrachten.
Er geht in seiner Schilderung über die eigentlichen Verbrechen hinaus und übt durchaus auch ein wenig gesellschaftliche Kritik.

Die Auflösung der Fälle ist in meinen Augen nicht ganz stimmig. Ich hätte gern mehr über das "Warum" erfahren.

Wer einen unblutigen, sehr dichten und daher eher ruhig wirkenden Kriminalroman lesen mag, der findet in "Vertrauen" genau das geboten. Und man bekommt zudem noch eine Beschreibung der politischen und sozialen Verhältnisse in Israel in einer spannenden Geschichte.
Für ein paar offene Fragen, die mir geblieben sind, ziehe ich einen Stern ab.

Bewertung vom 04.03.2022
Das Fundbüro der verlorenen Träume
Paris, Helen Frances

Das Fundbüro der verlorenen Träume


sehr gut

Verlust ist saisonabhängig

Das Cover finde ich wirklich schön, diese nicht ganz perfekte Tulpe an der lilafarbenen Tasche. Das hat mich richtig angesprochen, zusammen mit dem Titel " Das Fundbüro der verlorenen Träume".

Die Geschichte ist in 29 Kapitel, plus Prolog und Epilog eingeteilt. Das finde ich gut gewählt, zumal die Kapitel nicht zu lang sind und jeweils mit einem kleinen Hinweis beginnen. Darin steht, was verloren, oder gefunden wurde, die Beschreibung und der Ort des Verlustes.

Erzählt wird der Roman in "Ich-Form". Dot, eigentlich Dorothea Watson, arbeitet in einem Fundbüro in London, nachdem sie ihr Studium in Frankreich abgebrochen hat als ihr Vater tragisch verstorben ist.
Obwohl Dot die Geschichte, und damit auch ihre eigene Geschichte, erzählt, ist sie mir ein wenig unsichtbar geblieben. Zumindest äußerlich. Innerlich ist sie ein sehr emotionaler Mensch und sie entwickelt sich im Laufe der Handlung, was ich positiv empfinde.
Dann sind da beispielsweise noch ihre Kollegin Anita, die mir sehr sympathisch ist, Dots Schwester Philippa und beider Mutter Gail.

Der Schreibstil von Helen Francis Paris ist ausgesprochen mitfühlend und teilweise herrlich poetisch. Die Geschichte anhand von verlorenen Dingen zu schreiben finde ich gut gewählt.
Allerdings ist das Buch kein leichter Wohlfühlroman, er beinhaltet auch ernst betrachtete Themen wie Demenz oder Selbstmord.

Eigentlich würde ich gerne 5 Sterne vergeben, aber an manchen Stellen hat mich die etwas zu heftig ins Mystisch abgleitende Stimmung dann doch gestört. So bleiben vier Sterne und eine Empfehlung für jeden, der verlorene Träume sucht und dabei auch etwas Ernstes verkraftet.

Bewertung vom 24.02.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


ausgezeichnet

Mach keine Dummheiten, Tell

Das Buch trägt ein klares Cover. Einfach nur ein stilisierter Apfel auf grünem Grund. Das ist so typisch für den Diogenes Verlag und ich mag diesen Wiedererkennungswert sehr. Und man denkt bei "Tell" natürlich auch sofort an einen Apfel. Das Äußere ist also schon mal gelungen.

Wie sieht es mit den inneren Werten des Buches aus?

Gegliedert ist die Geschichte um Tell in 10 große Kapitel. Hier erzählen dann verschiedene Personen das Geschehen aus ihrer Sicht, also wird immer die Ich-Erzählform genutzt und doch hat man als Leser*in ganz unterschiedliche Perspektiven. Allein im ersten Kapitel lernt man somit sechs handelnde Personen kennen. Da manche Unterkapitel wirklich sehr kurz sind, muss man erst einmal dafür ein gewisses Lesegefühl entwickeln. Das hat bei mir ein wenig gedauert, dann aber habe ich dadurch ein spannendes Leseerlebnis entwickelt.
Die Kapitel werden mit besonderen Gedanken eingeleitet. Gefallen hat mir schon der erste: Der Mensch ist doch nichts weiter als eine Heuschrecke. Passt auch in die heutige Zeit.

Der Autor hat sich mit diesem Buch also dem Tell gewidmet, jenem Mann, der auch schon 1803/1804 Titelheld im Drama von Friedrich Schiller gewesen ist. Schiller ging es vor allem darum, den Freiheitskampf in der Schweiz darzustellen. Natürlich hat sich die Sprache seit 1804 sehr verändert und so war ich auf die Umsetzung für die heutige Zeit sehr gespannt.

Während Schiller Tell als wirkenden Held und Freiheitskämpfer darstellt, ist sein Auftreten bei Joachim B. Schmidt eher ein anderes. Er ist ein nörgelnder Einzelgänger, ein geplagter Bauer, der vor allem ein ruhiges Leben möchte. Und einen gefüllten Bauch. So musste er sich bei mir auch erst Sympathie erarbeiten. Das hat er mit seinem prinzipientreuen Verhalten und dem Beschützen seiner Familie erreicht.

Tell soll ja im 13. / 14. Jahrhundert gelebt haben. Und aus dieser Zeit weht auf jeden Fall ein starker Wind der Gewalt, der Willkür, den großen Standesunterschieden in die Erzählung. Und der Gestank, der in jener Zeit in der Luft gelegen haben muss. Teilweise waren mir die Beschreibungen schon fast zu real.

Dem Autor ist auf jeden Fall ein spannendes Buch gelungen. Schillers Drama wurde von ihm verdichtet, neu interpretiert und in einem besonderen Schreibstil verpackt. Egal, ob man nun Tells Drama schon kennt oder nicht, diese Fassung lohnt sich, gelesen zu werden. Daher auch alle fünf Sterne von mir.

Bewertung vom 20.02.2022
Die Feuer
Thomas, Claire

Die Feuer


ausgezeichnet

Was sollst du bedeuten?

Das Cover ist ein Hingucker. Es passt zum Titel und zur Geschichte. Ein Kleid wie ein Feuer, und auf der Rückseite brennt es förmlich ebenfalls. Darunter verbirgt sich noch ein feuerroter Einband. Ja, das finde ich schon mal sehr gelungen.

Mich hat die Inhaltsangabe dann auch ausgesprochen neugierig auf das Buch gemacht. Drei Frauen sind in einem Theater in Melbourne um ein Stück von Samuel Beckett zu sehen während in den Bergen die Buschfeuer wüten. Was wird dieser Abend mit den Frauen machen? Die Geschichte beginnt ziemlich direkt vor Beginn der Theateraufführung und endet kurz nachdem der Vorhang nach dem zweiten Akt fällt. Das Stück, das aufgeführt wird, ist "Glückliche Tage".

Dieses Bühnenwerk kenne ich als Buch. Laut Anweisung wird die Bühne die gesamte Zeit über in gleißendes Sonnenlicht getaucht. Das passt zu den Bränden, die draußen wüten. Protagonistin ist eine etwa 50jährige Frau namens Winnie, die in einem Erdhügel gefangen ist und ihr Leben, ihren Untergang und ihr Sterben reflektiert.

Wir begleiten drei weitere Frauen bei dieser Aufführung. Die etwa 70jährige Literaturprofessorin Margot, deren Mann an Demenz leidet. Ivy, die 40 jährige Kunstmäzenin, die noch immer nicht über den plötzlichen Kindstod ihres ersten Kindes hinweg gekommen ist. Und dann ist da noch die dunkelhäutige Platzanweiserin Summer, 20 Jahre jung, die an Angststörungen leidet und sich um ihre Lebensgefährtin sorgt.

Während des Schauspiels hängen die drei Frauen ihren eigenen Gedanken immer wieder nach. In der Pause zwischen den Akten kommt es zu einem zufälligen Treffen.

Ich finde es eine hervorragende Idee, gerade dieses Beckett Stück zu solch einer Geschichte zu nutzen. Es brennt. Auf der Bühne, in den Köpfen und draußen. Auf diese Art können Themen wie Klimakrise, Älterwerden, Rassismus oder auch Angst aufgegriffen werden. Im Prinzip passiert gar nicht viel und doch ist nach dem Stück so vieles ganz anders. Das hat bei mir noch lange im Kopf nachgearbeitet.
Diese drei Frauen, die alle jeweils ihr Päckchen zu tragen haben, waren mir jede für sich sympathisch und ihre Charaktere wurden gut, lebendig und bildhaft dargestellt.

Claire Thomas, schreibt in einem feinen und bewegenden Schreibstil. Sie lässt auch eine Prise Humor einfließen, was aber nicht albern wirkt.

Mich hat dieses Buch ausgesprochen berührt und so empfehle ich es nicht nur Theaterfans.

Bewertung vom 14.02.2022
Die dritte Hälfte eines Lebens
Herzig, Anna

Die dritte Hälfte eines Lebens


sehr gut

Der Krimmwinger Kirschkernhügel

Eines gleich zu Anfang: Lange ist es mir nicht so schwer gefallen eine Rezension über ein Buch zu schreiben, wie bei "Die dritte Hälfte eines Lebens" von Anna Herzig.

Die Plastikhülle außen herum darf beim nächsten Mal gern fehlen.
Das Cover ist sehr klar. Einfach ein Tisch mit einem nicht ganz so frischen Apfel. Fertig. Schlicht, aber schön. Allerdings sehe ich keine direkte Bindung zum Inhalt des Buches.
Der Titel ist dann schon nicht mehr so klar. Sind nicht zwei Hälften ein ganzes? Wo kommt die dritte Hälfte her und wann findet sie statt?

Mit 130 Seiten kommt das Buch eher schmal daher und ich dachte zunächst, dass es sicher in ein paar Stunden ausgelesen ist. Aber ganz schnell musste ich zugeben, ein zügiges Lesen war mir hier gar nicht möglich.
Zum einen liegt das am Schreibstil. Der ist einfach anders. Bei wörtlicher Rede beispielsweise wird einfach mit Bindestrichen verfahren, ohne alles. Dann wechseln auch mal die Namen, mit denen die Figuren angesprochen werden. Das musste ich zunächst begreifen.
Manche Passagen haben mich dann auch einfach mit einer solchen Wucht getroffen, dass ich gar nicht weiter lesen konnte. Und dann fragte ich mich, was Hypothese und was wirklich war.

Die Geschichte spielt in Krimmwing, einem fiktiven Dorf in Österreich. Es könnte aber auch in vielen anderen realen Dörfern spielen. Als Dorfkind darf ich das so behaupten.
Es gibt die großen Abschnitte "Was man gehört hat" und "Was die Leute sagen". Diese sind wiederum in kleine Kapitel unterteilt. Da sie mit dem jeweiligen ersten Satz des entsprechenden Kapitels anfangen, finde ich das auch eine Besonderheit.

Im Dorf leben besondere Menschen. Da ist der Seppi mit seiner nicht nur im Sommer dunkleren Haut, die alleinerziehende Rosa Steinbacher oder auch die Liesel mit ihrer körperlichen Eigentümlichkeit.
Die Protagonisten und Protagonistinnen sind anders, speziell.
Aber sie leiden, sind einsam, spüren Gewalt. Absolut menschlich eben.
Sie werden beobachten, sie beobachten. Sie werden verurteilt und sie urteilen.

Was mir ein wenig gefehlt hat, war, dass es nicht nur Unterdrückung in einem Dorf gibt. Nicht nur das Reden hinter vorgehaltenen Händen. Nicht nur das Bespitzeln.

Alles in allem hat mich "Die dritte Hälfte des Lebens" total überrascht und hallt noch lange in mir nach. Und das mit gerade einmal diesen 130 Seiten. Möglicherweise ist genau das die dritte Hälfte eines Lebens.

Ich gebe vier Sterne und empfehle das Buch auf jeden Fall, nicht nur Dorfbewohner*innen.