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evaczyk
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Frankfurt

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Insgesamt 275 Bewertungen
Bewertung vom 13.12.2023
Mord auf hoher See / Miss Merkel Bd.3 (2 MP3-CDs)
Safier, David

Mord auf hoher See / Miss Merkel Bd.3 (2 MP3-CDs)


sehr gut

Egal wie man zu Angela Merkel oder zur CDU steht - die Romanreihe von David Safier um die verrentete Ex-Kanzlerin als Hobbydetektivin sind liebenswerte und unterhaltsame Cozy-Krimis mit ironischen Seitenhieben auf die Alphamännchen der Weltpolitik, auf die Angela Merkel im Ruhestand mit abgeklärter Distanz blicken kann. Ich habe mich also gefreut als mit "Miss Merkel: Mord auf hoher See" der nunmehr dritte Band der Reihe als Buch und Hörbuch erschien. Im Fall der Hörbuch-Version insbesondere deshalb, weil Sprecherin Nana Spier so wunderbar merkeln kann und die Sprechweise der Ex-Kanzlerin perfekt drauf hat.

Wie der Titel schon verrät verlässt Angela Merkel mit der eingeschworenen Gruppe bestehend aus Ehemann Joachim, Bodyguard Mike, Bestie Marie samt Söhnchen Adrian sowie natürlich Mops Pupsi (ehemals Putin) die heimische Uckermark, um auf Kreuzfahrt zu gehen. Noch ein Klima-Faux-pas der Ex-Kanzlerin? Nein, diesmal hat sie alle ökologischen Gewissensbisse wegen des CO2-Abdrucks aus einem guten Grund hinter sich gelassen: Bei der dreitägigen Mini-Kreuzfahrt in der Ostsee (mit Bahn-Anreise) handelt es sich um eine Krimi-Kreuzfahrt mit mehreren bekannten Autoren, die auch Workshops geben.

Hier liegt denn auch das eigentliche Motiv für die Reise, denn die Ex-Kanzlerin ist im Ruhestand ein wenig gelangweilt und nicht völlig ausgelastet, nachdem es schon seit Monaten keine ungeklärten Mordfälle mehr zu lösen gab. Heimlich schreibt sie an einem Kriminalroman, doch gründlich wie Frau Merkel nun mal ist, will sie von den Besten lernen und nicht dilettantisch etwas verfassen, was womöglich gründlich daneben geht.

Anders als in der Politik verzichtet Safier bei den prominenten Autoren auf Name-Dropping, aber die Beschreibung der Autoren erinnert schon an die eine oder andere Parallele in der Verlagswelt, wobei sich da sicherlich die Ähnlichkeiten erschöpfen. Denn natürlich kann es auch in diesem Roman nicht ausbleiben, dass Leichen den Weg der Ex-Kanzlerin pflastern und sie wieder zu ermitteln beginnt. Und natürlich bleiben Komplikationen und kleine menschliche Dramen in der Nebenhandlung nicht aus.

Das Rezept Safiers ist bewährt, doch das ändert nichts daran, dass Angela Merkel zwischen Schreibblockade und Detektivarbeit einmal mehr eine Sympathieträgerin ist. Die Kosenamen Puffel und Puffeline zwischen dem Ehepaar Merkel/Sauer finde ich zwar auch im dritten Buch unnötig klamaukig und gelegentlich klingt Nana Spier arg überdramatisch, aber das sind letztlich nur kleinere Mäkeleien - hier überwiegt die Unterhaltung und ein Humor, der niemandem weh tun will. Das Ermittlerteam jedenfalls ist liebenswert-verschroben und dürfte auch künftig nicht langweilig werden.

Bewertung vom 30.11.2023
Der große Wunsch
Fatah, Sherko

Der große Wunsch


ausgezeichnet

Murad ist kein Abenteurer, kein risk taker und auch kein junger Backpacker. Und doch ist der eher nachdenklich-reflektierte Intellektuelle und Sozialarbeiter aufgebrochen in eine Region, vor deren Besuch das Auswärtige Amt auf seiner Seite warnen dürfte. Im Niemandsland an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien wartet er nach einer beschwerlichen Anreise in die kurdische Region. Die karge und doch dramatische Landschaft mit ihren steilen Bergstraßen und Dörfern, in denen die Zeit stehen geblieben scheint, müsste ihm eigentlich etwas sagen: Murads Familie stammt aus diesen Bergen, die er aus den Erzählungen des Großvaters kennt.

Doch Murad fühlt sich als Fremder und es ist keine sentimental journey, sondern die verzweifelte Mission eines Vaters, die Sherko Fatah in seinem eindringlichen Roman "Der große Wunsch" beschreibt. Murad ist auf der Suche nach einem Lebenszeichen seiner Tochter, einer Tochter, die ihm nicht nur nach der Scheidung von seiner deutschen Ex-Frau fremd geworden ist. Denn die junge Frau, die nach westlichen Werten erzogen worden ist, die sich als Jugendliche nie für den Islam zu interessieren schien, hat einen französischen Glaubenskrieger geheiratet und ist mit ihm in das IS-Kalifat gezogen.

Murad bezahlt Vermittler, die seine Tochter ausfindig machen und ihn letztlich zu ihr bringen sollen. Er will sie heimholen. Doch will sie das? Und ist die tiefverschleierte Frau, deren Bilder man ihm zeigt, seine Tochter? Selbst das Audio-Tagebuch, das man ihm zuspielt, kann seine Zweifel nicht beenden. Ist das ihre Stimme? Ist sie überzeugt von ihrem neuen Leben, zweifelt sie? Hat sie sich mitschuldig gemacht, billigt sie die Versklavung der Jesiden, die grausamen Enthauptungen, mit deren Videos der IS um Nachwuchs wirbt und seine Glaubenskrieger rühmt?

Die Ausflüge in die Region, die er in den Wochen des Wartens unternimmt, verstärken nur Murads Gefühl der Fremdheit und Isolation. Er spricht die Sprache der Menschen in den Bergtälern, zu einigen baut er nachbarschaftliche Beziehungen auf, und doch fühlt er sich wie auf dem falschen Planeten.

Fatah schildert die inneren Nöte Murads, die spröde Schönheit der Landschaft, das ruhige isolierte Leben in den Dörfern, in denen manche Geheimnisse gehütet werden, in einer ruhigen und eindringlichen Erzählweise und lüftet manche offene Frage erst ganz zum Schluss. Trotz der dramatischen Situation, in der Murad sich sieht, vermeidet er plakative Darstellungen und überzeugt dadurch nur noch mehr. "Der große Wunsch" ist ein Buch, auf das man sich einlassen und für das man sich Zeit nehmen sollte.

Bewertung vom 19.11.2023
Neben wem du erwachst / DCI Jonah Sheens Bd.3 (eBook, ePUB)
Lodge, Gytha

Neben wem du erwachst / DCI Jonah Sheens Bd.3 (eBook, ePUB)


sehr gut

Verkatert und mit Filmriss aufzuwachen ist unangenehm, für die Harfenistin Louise aber nicht gerade unbekannt. Im Gegenteil - nur unter Alkoholeinfluss fühlt sie sich selbstbewusst und liebenswert. Dass allerdings ein regloser Mann in einer Blutlache neben ihr liegt, vergrößert die Katerstimmung und die Probleme der durch ein immer chaotischeres Leben schwankenden Frau. Gytha Lodges Krimi "Neben wem du erwachst" löst gleich im ersten Kapitel zahlreiche Fragen aus und sorgt in Folge für immer neue Aha-Effekte und Zweifel.

Lodge erzählt in zwei Perspektiven - zum einen aus der Sicht Louises, die einen langen Brief an ihren Mann Niall schreibt, zum anderen aus einer beobachtenden Perspektive, die die Arbeit der Ermittler verfolgt, denen eine Leiche in einem Vorgarten gemeldet wird. Der erstochene Mann, der offenbar woanders starb - man ahnt, es ist Louises Bettnachbar. Hatte sie etwas mit seinem Tod zu tun? Hatte sie ein Verhältnis oder in einer Notwehrsituation gehandelt? Gab es einen Dritten im Haus, der für den Tod des Mannes verantwortlich war? Fragen über Fragen, die man sich nicht nur als Leser*in stellt, sondern die in diesem spannenden psychologischen Krimi auch bei Louise, Niall und den Ermittlern aufkommen.

Lodge sorgt für zahlreiche Wendungen und Überraschungsmomente in diesem intelligenten Thriller, der immer wieder überraschen kann. Denn sowohl das Opfer als auch dessen Umfeld hatte ein paar Geheimnisse, Die Autorin schafft es, alles bis fast zum Schluss im Ungewissen zu lassen und Verdacht gegen fast jeden aufkommen zu lassen. "Neben wem du erwachst" ist ein vielschichtiger Spannungsroman, in dem auch die Nebenfiguren Profil und Tiefe haben. Mich hat das Buch sowohl überrascht als auch gefesselt. Wer intelligente Spannung und psychologische Tiefe mag, ist hier richtig.

Bewertung vom 04.11.2023
Schwachstellen
Sarid, Yishai

Schwachstellen


gut

Technik, Sicherheit und (der Mangel an) Moral - mit "Schwachstellen" hat der israelische Autor Yishai Sarid einen verstörenden Thriller geschrieben, der den Missbrauch der (Daten-)-Technik durch staatliche Sicherheitsunternehmen und die Verstrickungen des Einzelnen zum Thema hat. Ich-Erzähler Siv ist ein begnadeter Hacker, hat schon beim Militär bei einer Spezialeinheit gedient, die Gegner durch Datenüberwachung infiltrierte, wohl auch bei gezielten Tötungen durch Handy-Überwachung und -ortung die entscheidenden Informationen lieferte. Über seine Rolle dabei und die ethischen Fragen hat er wohl damals nicht nachgedacht und tut es auch jetzt nicht, als ihn nach der Entlassung aus dem Militärdienst ein früherer Vorgesetzter für ein privates Sicherheitsunternehmen rekrutiert.

Für Siv ist dieser Job die Möglichkeit, endlich ein eigenständiges Leben zu führen: Er hat bisher bei seinen Eltern gelebt, die Situation in der Familie ist von Spannungen geprägt. Die Eltern haben Geheimnisse voreinander, Siv wird verantwortlich gemacht für ein traumatisches Erlebnis seiner Schwester in Kindertagen. Sie hat das Erlebnis nie verwunden, ist drogenabhängig in einer ständigen Abwärtsspirale. Auch sonst ist Sivs Privatleben eher von Tristesse geprägt. Er hat keine Freundin und mit seinem nerdigen Verhalten bleiben seine Versuche, bei Frauen auf Gegeninteresse zu stoßen, erfolglos.

Der Job bei seinem alten Kameraden Bulka bringt gutes Geld - endlich eine eigene Wohnung! und Respekt der Kollegen. Schnell steigt Siv auf, bekommt Spezialaufträge, reist auch ins Ausland. Die Technologie, die er mitentwickelt hat, erlaubt dem Unternehmen, sich in die Handies anderer Menschen einzuloggen, deren Daten aufzusaugen und sie in Echtzeit zu überwachen. Das Handy wird Kamera und Mikrofon, Privatsphäre gibt es nicht und dank einer heimlichen "Hintertür" kann Siv diese Technik auch für private Zwecke einsetzen.

Je weiter Siv avanciert, desto häufiger merkt er, dass die Technik, die er so beherrscht, auch von Kunden angewandt wird, die damit vielleicht schlechte Absichten verfolgen. Wer sind sie eigentlich, die Menschen, die da überwacht werden? Lange lässt sich Siv mit der Erklärung abspeisen, dass es sich um Perverse, Kriminelle, Terroristen handelt. Eine Reise allerdings offenbart staatliche Überwachung, Folter, Hinrichtung. Und dann wird die Technik plötzlich auch im eigenen Land angewandt und Siv kommt an den Punkt, an dem er nicht länger wegschauen und sich die Dinge verharmlosend schnönreden kann...

Vom Schreibstil ist "Schwachstellen" eher spröde, Siv ist kein emotionaler Erzähler, Dialoge sind selten. Das passt durchaus zu der nerdigen Hauptfigur, zu deren Stärken definitiv nicht Emapthie gehört. Alles nur eine Dystopie? Dass soziale Medien, die digitalen Endgeräte, von denen sich heutzutage kaum jemand trennen will, auch Tür und Tor für alle möglichen Lauschangroiffe öffnen, ist schließlich längst bekannt. Dass smarte Elektrogeräte, Alexa und Co. theoretisch tief in die Privatsphäre ihrer Nutzer eindringen können, ebenso. die meisten Menschen nehmen das mehr oder weniger achselzuckend in Kauf - man hat ja nichts zu verbergen. Doch wer entscheidet, was für "Späher" interessant ist oder nicht? Ab wann hört das Private auf, privat zu sein? Bloß weil vieles nicht erlaubt ist, heißt das nicht, dass es nicht auch passieren kann - das unterstreicht "Schwachstellen" mit leisem Horror. Die Daten-Büchse der Pandora ist längst offen.

Bewertung vom 04.11.2023
Irgendwen haben wir doch alle auf dem Gewissen / Die mörderischen Cunninghams Bd.1
Stevenson, Benjamin

Irgendwen haben wir doch alle auf dem Gewissen / Die mörderischen Cunninghams Bd.1


sehr gut

Mordsstimmung beim Familientreffen

"Die mörderischen Cunninghams" von Benjamin Stevenson mag in Australien spielen, aber dieser Familienkrimi trieft vor britischem Humor und angelsächsischem Understatement. Mit seinen leicht exzentrischen Protagonisten erinnert es mich an die detektivische Altenheim Gang von Richard Osmans Donnerstags-Mordklub. Allerdings stehen die Cunninghams, so verrät Ich-Erzähler Ernest Cunningham gleich im ersten Kapitel, mehr auf dem Grundsatz: Irgendwen haben wir doch alle auf dem Gewissen. Inwieweit das zutrifft, wird dann mit Augenzwinkern und nicht ganz ohne Dramatik auf einem mordsmäßigen Familientreffen in einem eingeschneiten Skihotel ausgeführt.

Ernest, mäßig erfolgreicher Autor eines Lehrbuchs zum Verfassen von Detektivromanen, ist so etwas wie das schwarze Schaf der Cunninghams, jahrelang zeigte ihm die Familie die kalte Schulter. Schließlich hat Ernest getan, was keinem Cunningham einfallen sollte: Er hat seinen großen Bruder bei der Polizei verraten und dafür gesorgt, dass dieser jahrelang im Gefängnis saß wegen des Tod eines Mannes, den er erst überfuhr und dann obendrein erwürgte, nachdem er Ernest überredet hatte, die angebliche Leiche zu entsorgen. Wie gut, dass Stiefpapa Carlos, ein mit allen Wassern gewaschener Anwalt, die Mordanklage gerade noch abschmettern konnte!

Dennoch, die Familie hat Ernie nicht verziehen. Zur Homecoming Party seines Bruders darf er dann aber doch erscheinen. Zur Stunde der Abrechnung? Doch noch ehe der sich dem Familientreffen anschließt, wird eine Leiche im Schnee gefunden. Ernest fragt sich: Hat jemand aus der Sippschaft damit zu tun? und wird nicht jeder Ermittler, der sich durch den Schnee kämpft, genau dies annehmen, weil die Cunninghams eben die Cunninghams sind?

Es wird nicht die einzige Leiche bleiben und Ernest muss immer wieder die goldenen Regeln des klassischen britischen Kriminalromans zitieren, während er als allwissender Erzähler die Ereignisse sowohl beschreibt wie kommentiert. Komplizierte Beziehungen innerhalb des Familienverbands, Eifersüchteleien, jede Menge Geheimnisse - Stevenson hat offensichtlich Spaß daran, seinen Lesern so manchen "red herring" vorzuwerfen und Hinweise zu streuen, die wichtig sein können oder eben einmal mehr in die Irre führen.

Klassische Zutaten wie bei Hitchcock oder Agatha Christie - das isolierte Hotel, das plötzlich von der Außenwelt abgeschnitten ist - werden hier mit Humor und einem Hauch Exzentrik gewürzt. Insgesamt ein sehr unterhaltsamer Kriminalroman mit einer mörderisch komplizierten Familie.

Bewertung vom 29.10.2023
Kein guter Mann
Izquierdo, Andreas

Kein guter Mann


sehr gut

Bittersüße Weihnachtsgeschichte

Mit "Kein guter Mann" hat Andreas Izquierdo einen bittersüßen Weihnachtsroman geschrieben, der Liebhaber von happy ends verstören dürfte. Gleichwohl passt die melancholische Note. Der Buchtitel geht allerdings ein wenig unfair mit Titelfigur Walther um, spiegelt er doch nur den äußeren Blick auf ihn wider.

Tatsächlich erscheint der 60 Jahre alte Briefträger zunächst einmal wenig liebenswert: miesepetrig, überkorrekt, seine Fehden mit Kollegen, Vorgesetzten, Kunden pflegend. Ein einsamer, freud- und freundloser Mann, dem das Leben, wie sich bald zeigen wird, übel mitgespielt hat. Gleich mehrfach hat Walther die für ihn wichtigsten Menschen verloren. Nun ist seine Tochter die einzige, die noch an Kontakt mit ihm bemüht ist.

Als Walther zum Christkindel-Postamt abgeordnet wird, ist das eigentlich eine Strafversetzung. Doch einer der Briefe rüttelt Walther auf: der zehnjährige Ben will kein neues Handy, er benötigt Lebenshilfe - und beschwert sich, als "Gott" bzw Walther eine recht beliebige Antwort schickt. Walther beginnt einen Briefwechsel mit dem einsamen Jungen, der sich nach Freunden sehnt und dessen alleinerziehende Mutter schwer depressiv ist.

Mit seinen Versuchen, Bens Probleme zu lösen, schafft Walther noch ein paar zusätzliche Verwicklungen. Die Brieffreundschaft, die er vor seiner Vorgesetzten geheim halten muss, bricht ein wenig den Panzer auf, den Walther in den vergangenen Jahren entwickelt hat, um die Außenwelt auf Distanz zu halten. In Rückblenden wird erzählt, wie es zur großen Entfremdung von der Familie kam, welche Träume Walther eigentlich hatte und welche Schuldgefühle ihn seit Jahrzehnten begleiten.

Ist ein Neuanfang möglich? Wie verhärtet sind die verletzten Gefühle und Vorwürfe der Vergangenheit? Bekommt Walther eine zweite Chance? Izquierdo schafft es, die Handlung nicht in Weihnachtskitsch abgleiten zu lassen. Der brummige Walther darf sich bewähren, doch Glück ist etwas Trügerisches. Und nicht jedes Weihnachtsmärchen endet mit "und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage".

Bewertung vom 29.10.2023
Glutspur / Liv Jensen Bd.1
Engberg, Katrine

Glutspur / Liv Jensen Bd.1


sehr gut

neue Kopenhagen-Reihe macht neugierig

Katrine Engberg war mir schon durch ihre im Diogenes Verlag veröffentlichten Kopenhagen Krimis ein Begriff. Nun gibt es wohl einen neuen Verlag - und mit "Glutspur" den ersten Band einer neuen Serie um die Privatdetektivin Liv Jensen, die nicht nur versucht, in der Branche Fuß zu fassen und in der dänischen Hauptstadt heimisch zu werden - sie arbeitet auch auf eine Rückkehr in den Polizeidienst hin.

Bis die Leser Liv kennenlernen, dauert es allerdings eine Weile, denn gleich mehrere Erzählstränge werden eingeführt sowie Personen, die auch künftig eine Rolle spielen könnten. Da ist der Selbstmord eines Mannes, der sich als der Sohn von Livs künftigen Vermieter herausstellen wird. Der unter einer bipolaren Störung leidende Mann befand sich wegen des Mordes an seiner Ex-Frau in der forensischen Psychiatrie. Erst Monate nach dem Selbstmord wird bei der Renovierung seines Zimmers bekannt, dass er hinter einer Schrankwand Botschaften in einer ausgestorbenen Sprache hinterlassen hat. Seine Schwester, ebenfalls Psychiaterin, versucht herauszufnden, was sich in den letzten Monaten im Leben ihres Bruders ereignete.

Dann ist da noch der Automechaniker Nima, der seine Werkstatt auf dem Grundstück betreibt, auf dem Liv leben wird. Seine Ex-Freundin wird ermordet aufgefunden, und Nima, der als Junge mit seiner Mutter und seiner Schwester aus dem Iran geflohen ist, gerät unter Mordverdacht.

Als Liv für ihren alten Chef und Mentor Ermittlungen in einem anderen Fall anstellt, muss sie sich einerseits einem eigenen Trauma stellen, stößt aber auch auf Spuren in dem anderen Mordfall, die bisher niemand auf dem Schirm hatte.

Und als wäre das nicht schon genug mit Erzählsträngen und Figuren, die hier zusammenfinden müssen gibt es noch einen weiteren Handlungsstrang in der Vergangenheit, zur Zeit der deutschen Besatzung Dänemarks im Zweiten Weltkrieg und verfolgten jüdischen Familien, die sich verstecken müssen, um der Deportation zu entgehen. Es geht um Fragen der Moral, um Kollaboration und Widerstand. Eine Vergangenheit, die schließlich auch Bezüge zur Gegenwart herstellen wird. Erst im Lauf des Lesens wird klar, dass "Glutspur" von der Bedeutung her auch auf den Holocaust hinweist.

Engberg schafft es, das alles am Ende schlüssig und eingängig zusammen zu fügen. Es kommt allerdings recht geballt zusammen, was sich möglicherweise in Folgebänden dann noch weiter vertiefen wird - und da gibt es ganz unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten. Möglich, dass sich die Autorin hier verschiedene Optionen offen halten wollte, aber es wird doch ziemlich zwischen den verschiedenen Figure n und Erzählsträngen gesprungen und ist zunächst noch nicht ganz klar, wer außer Liv auch künftig eine feste Größe in weiteren Bänden der Reihe sein wird.

Davon abgesehen hat Engberg einen intelligenten und spannenden Plot mit dichter Atmosphäre und einem bildhaften, aber auch zurückgenommenen Schreibstil verbunden. Mit der jungen Privatdetektivin hat sie eine diverse Protagonistin gefunden, die tough und sensibel ist. die sich gegen Widerstände behaupten muss und gegen eigene Dämonen kämpft. Auch die Menschen in ihrem Umfeld werden als komplexe Charaktere geschildert. Noch ist hier vieles im Fluss, aber ich bin jetzt schon neugierig auf den Folgeband. Der Begriff Scandinavia Cool passt jedenfalls auch auf Katrine Engberg.

Bewertung vom 01.10.2023
Andy Africa
Buoro, Stephen

Andy Africa


ausgezeichnet

Es ist gar nicht so leicht, 16 Jahre alt zu sein und mit den Herausforderungen des Erwachsenwerdens zu kämpfen, der ersten Verliebtheit und der eigenen Selbstwahrnehmung. Umso mehr, wenn man gerne wüsste, wer sein Vater ist, wenn man zwar begabt ist, aber in eher recht bescheidenen Verhältnissen lebt wie Andy Aziza, Ich-Erzähler und Hauptfigur in Stephen Buoros Roman "Andy Africa". Der Debütroman ist eine Coming of Age Story aus Nigeria, und wer das bevölkerungsreichste Land Afrikas nicht kennt, bekommt quasi nebenher einen Einblick in die Probleme des Landes.

Denn Andy und seine alleinerziehende Mutter leben im muslimisch geprägten Norden des Landes. Die Mutter gehört der mehrheitlich christlichen südnigerianischen Volksgruppe der Ososo an. Das Nebeneinander der Ethnien und Religionen kann gut gehen - zu Andys Freunden gehört die Muslima Fatima, die ebenso wie er von einer engagierten und panafrikanischen Ideen zugeneigten Lehrerin gefördert wird. Doch dann gibt es wieder Zeiten, in denen sich ein Mob zusammenrottet, um mit Macheten und Fackeln Jagd auf die andere Gruppe zu machen.

So auch an einem Abend, als der katholische Pfarrer Andy und andere Messdiener zu einer Gartenparty für seine englische Nichte Eileen einlädt. Auch Andys Mutter ist dort und macht als Fotografin Bilder von der Feier. Bei einem Pogrom gegen Christen wird sie schwer verletzt - ausgerechnet kurz nach einem Streit mit Andy.

Andy leidet unter Schuldgefühlen, aber auch unter beträchtlichem Herzrasen. Denn er hat eine Schwäche für weiße Mädchen. Nicht, dass er in Person viele kennengelernt hätte. Doch Eileen, platinblond und sehr weiß, ist gewissermaßen seine personifizierte Traumfrau.

Buoro legt bei dieser Liebesgeschichte (oder ist es ein Fetisch, fragt sich Andy) einen ziemlichen Spagat hin. Denn auf der einen Seite wird mit der Person der Lehrerin stolze afrikanische Identität und Schwarzes Bewusstsein hervorgehoben - auf der anderen Seite schwärmt Andy von einer jungen Frau, die mit weißem Privileg daherkommt und obendrein zum Volk der ehemaligen Kolonialherren gehört. Ich könnte mir denken, dass Andys Minderwertigkeitsgefühle beim Zusammensein mit Eileen bei schwarzen Lesern durchaus kritisch gesehen werden. Oder findet hier eine ähnliche Exotisierung statt wie beim Blick mancher weißer Menschen auf Afrikaner oder Asiaten?

Nollywood, Korruption, Religionskonflikte, die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft in Europa. das sich durch den Alltag lavieren und die Träume Andys und seiner beiden besten Freunde, seiner "Droogs", die Begegnung mit einem Onkel, dessen Existenz ihm die Mutter stets verschwiegen hatte und der als Monsignore in einem Luxus lebt, von dem Andy nur träumen kann: Buoros Nigeria ist laut, heiß, gewalttätig, aber auch voller Hoffnung. Selbst wenn die dann immer wieder enttäuscht wird. Christiliche, Muslimische und animistische Spiritualität kommt ebenso vor wie krasser Materialismus und Überlebenskampf in einem Land mit kaputtem Gesundheitssystem und brutalen Sicherheitskräften.

"Andy Africa" it lyrisch, dramatisch, tragisch, bunt und lebenshungrig, feiert Familie und Freundschaften und erinnert daran, wie schwer sich das Erwachsenwerden anfühlen kann. Besonders in einem Land, das schon für sich genommen kompliziert genug ist. Klare Leseempfehlung.

Bewertung vom 01.10.2023
Alles schweigt
Harper, Jordan

Alles schweigt


ausgezeichnet

Wahrheit ist immer etwas, was man in der Wahrnehmung gestalten kann. Das jede nfalls ist die Erfahrung von PR-Spezialistin Mae Pruett, zuständig für die Krisenkommunikation der Schönen, Reichen und Berühmten. Als sie aus dem Mittleren Westen nach Los Angeles gekommen ist, führte ihr Weg sie nach Hollywood, wenn auch etwas anders als bei den vielen, die nach Leinwandruhm streben. In Jordan Harpers Roman "Alles schweigt" ist Mae diejenige, die Probleme zurecht biegt - mit der Exklusivnews für gefügige Journalisten, mit viralen Social-Media-clips, die Alkohol- oder Drogenausfälle ihrer Klienten in Vergessenheit geraten lassen.

Illusionen über ihre Arbeit hat sie längst nicht mehr, aber das Geld, das sie bei dem "Ungeheuer" verdient, ist gut. Und das Ungeheuer ist nicht nur die Firma, für die Mae arbeitet, es ist das ganze System, in dem jede Schweinerei zum Verschwinden gebracht werden kann, wenn man nur die richtigen Leute kennt.

Als ihr Mentor und direkter Vorgesetzter Dan sie zu einem Treffen bestellt, dass gefährlich nach Rendez-vous aussieht, ist Mae irritiert und enttäuscht. So was wollte sie eigentlich immer vermeiden. Doch in einem Geschäft, in dem Täuschung alles ist, ist auch das lauschige Treffen Verschleierung für einen ganz anderen Plan. Dan hat etwas vor, etwas, das beiden so viel Geld einbringen kann, dass sie die Arbeit für das Ungeheuer hinter sich lassen können, ein anderes Leben führen wollen. Was Mae dafür tun muss, soll sie am nächsten Tag erfahren. Doch auf dem Weg zum Treffpunkt wird Dan erschossen - angeblich bei einem missglückten Raubüberfall. Der Täter wird kurz danach von der Polizei erschossen.

Fall gelöst? Mae weiß, wie man die Wirklichkeit zurechtbiegt. Sie ist überzeugt: Es war Mord. Sie fängt an, heimlich zu ermitteln. Der einzige, dem sie traut, ist Chris Tamburro, ihr Ex, ein Ex-Polizist, einer, der ebenfalls für eine Variante des Ungeheuers arbeitet, im Bereich der raueren Jobs.

Es wird eine ganze Weile dauern, bis Mae und Chris das volle Ausmaß des Hornissennests erkennen, in das sie mit ihren Nachforschungen stechen. Es geht um Geld, um Macht, um berühmte Namen und die Vertuschung einer schon lange andauernden Missbrauchsserie. Alle tuscheln, niemand sagt etwas - doch Mae und Chris wollen nicht länger schweigen. Erpressung, Politik, Gefälligkeiten, ein schwangerer Teenager - und Menschen, die über Leichen gehen, um die Wahrheit verborgen zu halten: Es wird brandgefährlich für das Ermittlerduo in diesem bitterbösen, spannenden und oft auch zynischen Roman über ein Hollywood jenseits der strahlenden Lichter.

Harper sorgt immer wieder für neue Wendungen und Entwicklungen, so dass die ganze Komplexität des Falles, aber auch die Motive unterschiedlicher Player, erst nach und nach enthüllt werden. Genremäßig ist "Alles schweigt" schwer zuzuordnen - Gesellschaftsroman, Kriminalroman? Auf jeden Fall aber ein Buch, das fesselt und die dunkle Seite von LA zeigt.

Bewertung vom 23.09.2023
Verlogen / Mörderisches Island Bd.2
Ægisdóttir, Eva Björg

Verlogen / Mörderisches Island Bd.2


ausgezeichnet

Die Tote im Lavafeld

Seit einem halben Jahr ist eine junge Frau in einer isländischen Kleinstadt verschwunden, doch vermisst wird sie offenbar nicht einmal von ihrer 16-jährigen Tochter. Alkoholabhängig, nicht besonders zuverlässig, hat die alleinerziehende Mutter einen Abschiedsbrief hinterlassen. Wollte sie mit einem Suizid aus all ihren Problemen flüchten? Doch als in einem Lavafeld eine weibliche Leiche gefunden wird, scheidet für die ermittelnde Polizistin Elma und ihr Team ein Selbstmord oder Unfall schnell aus. Zu sehr wirkt die Tote wie abgelegt und versteckt. Doch wer könnte Interesse daran haben, eine Frau zu töten, die eh schon länger auf der Verliererseite des Lebens steckte?

In "Verlogen", dem zweiten Band von Eva Björg Aegisdottir Reihe um die isländische Polizistin Elma, ist der Titel bereits Programm. Denn zahlreiche Lügen müssen auf der Suche nach der Wahrheit aufgedeckt werden. Dabei versteht es die Autorin gut, ihre Leser*innen ebenfalls mit manchem Täuschungsmanöver zu überraschen, zu dem auch verschiedene Erzähperspektiven beitragen.

Denn da geht es einerseits um eine junge Mutter mit vielen Problemen, die ihr Kind nicht lieben kann und deren Tochter selbst verhaltensauffällig und aggressiv ist. Angesichts des Vermisstenfalls ist die Idee naheliegend, dass hier eine Vorgeschichte geschildert wird. Oder ist es doch alles ganz anders?

Motive, die problematische Mutter aus dem Weg zu schaffen, hätte selbst die eigene Tochter: Schließlich kann sie nun endlich ganz bei den Pflegeeltern leben, bei denen sie zuvor jedes zweite Wochenende verbracht hatte und die sie nur zu gerne adoptiert hätten. Pflegeeltern, die ihr zudem alle möglichen Statusartikel bieten können, die sich die Mutter nicht leisten konnte. Pflegeeltern, die auch alles tun würden, um "ihr" Kind ganz für sich zu haben?

Komplizierte Mutter-Tochter-Beziehungen, die Unfähigkeit zu Lieben, die Sehnsucht nach Freundschaften, Einsamkeit und Isolation - die Autorin entwickelt komplexe Beziehungsgeflechte und sorgt immer wieder für überraschende Wendungen. Dieses Buch hat mir sogar noch besser als der erste Band der Serie gefallen, es ist spannend und mit interessanten, vielschichtigen Figuren. Auch das Privatleben der Polizisten ist nicht ohne Höhen und Tiefen. Diese Island-Kriminalromane schüren Ungeduld auf einen weiteren Band der Reihe