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Magineer
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Köln

Bewertungen

Insgesamt 52 Bewertungen
Bewertung vom 01.05.2022
Love in the Big City
Park, Sang Young

Love in the Big City


ausgezeichnet

Twentysomething-Kult!

"Love in the Big City" ist keine New-Adult-Romance-Kladde, auch wenn sich Titel und Cover fast ein bisschen so anfühlen. Aber Sang Young Parks quasi-autobiographischer Bestseller über das Leben und Lieben unangepasster Twentysomethings in Südkorea ist schon ein anderes Kaliber: Er schert sich nicht um Strukturen und Spannungsbögen herkömmlicher Art, sondern malt ein breites, buntes, mal depressives und dann wieder lebensfrohes Sittengemälde eines Lifestyles zwischen traditionellen Kulturen und einer hochtechnisierten Umwelt. Seine Hauptfigur Young ist ein schwuler Mann Anfang 30, der jahrelang mit seiner besten Freundin zusammenlebt, sich nebenher um seinen Job und gleichzeitig die kranke Mutter kümmert und langsam seinen Weg ins Leben sucht. Der führt über zahlreiche kurze Bekanntschaften und ein paar intensive Flirts tatsächlich auch zu längeren Beziehungen, aber legt Young durchaus auch ein paar gesellschaftliche Hürden in den Weg. Und irgendwie vermisst er auch Jaehee, seine langjährige Mitbewohnerin, Freundin und engste Vertraute, die selbst an ihrer Zukunft arbeitet. Das Leben ist aufregend und voller Möglichkeiten ...

Fern von verkitschten Lovestories erzählt "Love in the Big City" in einer Sprache, die zugleich von spannender Nüchternheit und exotischer Lebensfreude dominiert wird, und genau deswegen mit höchster Detailversessenheit ein Lebensgefühl widerspiegelt, in dem man permanent Ziele aus den Augen verliert, während sich andernorts neue Herausforderungen auftun, in dem der Drang, im Augenblick zu leben, übermächtig wird im Angesicht all der erforderlichen Zukunftsplanung - und in dem Schwulsein dazu gehört, obwohl es längst noch nicht überall angekommen ist. Ein Buch wie ein Strudel. Gefangen in den Nichtigkeiten des literarischen Alltags mag man gar nicht zurück in die Wirklichkeit, deren Reiz aber gar nicht so fern liegt wie man meint. Ein Augenöffner - und ein phänomenales Leseerlebnis!

Bewertung vom 08.03.2022
Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
Leo, Maxim

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße


sehr gut

Michael Hartung, Ex-Stellwerkarbeiter bei der ostdeutschen Bahn, später Stasi-Inhaftierter und nach der Wende in diversen Geschäften mehr oder minder erfolglos, hat in seiner mittlerweile mies laufenden Videothek "Moviestar" zwar, wie bei ihm üblich, den Trend der Zeit verschlafen, aber lebt sein Leben genügsam und alten Erinnerungen nachhängend inmitten längst vergessener Filmklassiker und den gelegentlichen Feierabend-Bierflaschen. Als eines Tages ein Reporter bei ihm auftaucht und ein über 35 Jahre zurückliegendes Missgeschick als heldenhafte DDR-Fluchthilfe neu interpretiert, gerät Hartung als Retter wider Willen ins gleißend helle Licht einer medialen Öffentlichkeit auf der Suche nach neuer Beute. Ein irrer Trip beginnt ...

Maxim Leos "Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße" ist ein Stück neuer deutscher Literatur, das es sich mit unbeirrter Selbstsicherheit zwischen den sarkastischen Kalauer-Kladden auf den Bestsellerregalen der großen Buchhändler und der eher feinsinnigen Verschrobenheit eines Sven Regener gemütlich macht und seinen Antihelden Michael Hartung als moderne Kollage aus Münchhausen, Eulenspiegel und dem Simplicissimus anlegt. So wie die großen Vorbilder hält auch Hartung der deutsch-deutschen Wirklichkeit mit beißendem Spott einen Spiegel vor, demontiert die heutige Medienlandschaft ähnlich mitleidlos wie zuletzt Timur Vermes in "Er ist wieder da" und hat dabei einige sehr kluge Sätze zum Verhältnis der ehemals voneinander getrennten alten und neuen Bundesländer zu sagen. Letztendlich bleibt, abseits einer wirklich amüsanten Geschichte mit teils überzeichneten, aber (fast) immer sympathischen Figuren, die Erkenntnis eines gewollten Missverständnisses, mit dem sich die Öffentlichkeit ihr eigenes Bild von den Mentalitäten im geteilten Deutschland zurechtbastelt. Leo wird dieses Bild nicht geraderücken können, aber er lüpft gekonnt den Vorhang und legt den Finger auf alte Wunden, nostalgische Verklärung und verallgemeinerte Feindbilder gleichermaßen. Hüben wie drüben: Nicht alles war schlimm. Manches war schlimmer. Und einiges besser. Aber alles war anders.

Derzeitiger Top-Tipp für Leser unterhaltsamer deutscher Gegenwartsliteratur. Maxim Leo hat's drauf!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.11.2021
Die Brücke der Ewigkeit / Die Baumeister Bd.1
Hector, Wolf

Die Brücke der Ewigkeit / Die Baumeister Bd.1


sehr gut

Solides Mittelalter-Epos

Das elegant-verspielte Cover verrät es schon: Natürlich ist "Die Brücke der Ewigkeit" (hinter dessen Autorenpseudonym Wolf Hector ein bekannter Schreiber aus dem Krimi- und Fantasy-Bereich stecken soll) ein waschechter historischer Roman, der zum großen Teil auf geschichtlichen Fakten basiert. Genauer gesagt, geht es um den Bau der weltberühmten Karlsbrücke in Prag und die Menschen, die in ihrer Konzeption involviert waren.

Hauptfigur ist der junge Otlin, der als Kind die Zerstörung der alten Brücke durch unweigerliche Fluten miterlebt (und nur knapp überlebt) hat, aber natürlich fährt Wolf Hector über den Verlauf von 600 Seiten noch jede Menge anderes bunt-schillerndes Personal auf und wirft den Leser in eine aufregende spätmittelalterliche Welt zwischen Armut und Reichtum, Liebe, Hass, Verrat, Intrigen und unendlichem Erfindungsreichtum. Das Leben in der Mitte des 14. Jahrhunderts wird in vielen Details als kraftvoller Bilderbogen ausgebreitet und bietet allen History-Fans so einige unterhaltsame Stunden in einer längst vergangenen europäischen Epoche - inklusive der für dieses Genre mittlerweile schon üblichen Karten, Zeittafeln, Personenverzeichnisse und Glossare.

Ein Rundum-Glücklich-Paket also, zum Selberlesen und Verschenken (eine Hardcover-Ausgabe wäre toll gewesen) - und eine interessante Lehrstunde in mittelalterlicher Geschichte und Architektur. Ganz und gar empfehlenswert!

Bewertung vom 14.10.2021
Gesammelte Werke
Sandgren, Lydia

Gesammelte Werke


ausgezeichnet

Ein gewaltiges Werk

Der Göteborger Verleger Martin Berg steckt in einer Sinnkrise. Sein einst so renommiertes Verlagshaus läuft nicht mehr so, wie es soll, seine Frau Cecilia ist seit Jahren verschwunden, die beiden Kinder sind erwachsen geworden und leben ihr eigenes extrovertiertes Leben - und nun bricht auch der Kontakt zu seinem ehemals besten Freund Gustav ab. Während Martin sich wehmütig zurückerinnert an die unbeschwerte Sturm-und-Drang-Zeit seiner Jugend, an jenes in den 70ern und 80ern scheinbar unbesiegbare Trio der Lebensfreude, das aus ihm selbst, Gustav und Cecilia bestand und sich eine Welt eroberte, die sie sich zu eigen machen konnten, stößt seine Tochter Rakel bei der von ihrem Vater selbst bei ihr in Auftrag gegebenen Übersetzung eines deutschen Bestsellers auf Spuren ihrer Mutter und macht sich kurz entschlossen auf die Suche nach dem Autor des Werks.

"Gesammelte Werke" ist zwar unverkennbar ein (wild sprudelnder) Debütroman, aber gleichzeitig eine akribisch ausgearbeitete, epochale Saga von fast 900 Seiten Umfang, die über die volle Länge hinweg tatsächlich etwas zu sagen hat - auch wenn man das oft genug vergisst angesichts der ungeheuer spielerischen Fabulierfreude, die zwischen den Zeilen schwingt.

Lydia Sandgren hält ihre überbordende Liebe zu Sprache, Literatur und Zeitgeist dann tatsächlich über den ausladenden Umfang hinweg aufrecht: Selten fliegt ein Gesellschaftsroman so derart leichtfüßig und dennoch auf tiefgründige Art unterhaltsam vorbei wie diese Meta-Familiensaga, deren Charaktere trotz geballter literarischer Querverweise so real und anfassbar wirken wie unsere eigenen Nachbarn. Atemberaubend selbstsicher und auf trotzige Art stilbewusst - ein junges wildes Debüt, das man nicht mehr aus der Hand legen mag.

Bewertung vom 28.09.2021
Das Haus der Düfte
Lambert, Pauline

Das Haus der Düfte


sehr gut

Die große Duft-Saga

Im Paris der beginnenden 1950er Jahre träumt die junge Anouk davon, aufregende Düfte zu entwickeln und es als Parfümerie zu Erfolg zu bringen, doch noch steckt sie in der Apotheke ihrer Mutter fest, die eine andere Karriere für sie vorgesehen hat. Die Begegnung mit dem galanten Stéphane ändert alles, denn der Geschäftsmann gehört zu einer der bekanntesten Duftdynastien Frankreichs. Durch ihn, den sie mit den Fähigkeiten ihrer Nase beeindruckt, gelangt Anouk in die Parfümstadt Grasse und beginnt, bei der Familie Girard ihren Traum zu leben. Doch auch die Girards haben eine Vergangenheit, und bald schon ziehen dunkle Wolken über dem sorglosen Leben auf ...

In zwei Zeitebenen (vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zur Mitte der 50er Jahre) erzählt Pauline Lambert gekonnt eine klassische Familiensaga um Liebe, Macht und düstere Geheimnisse nach bewährtem Muster. Das wirkt zu keinem Zeitpunkt überraschend oder sonderlich innovativ, aber die Stärke von Lamberts Roman liegt auch nicht darin, das Rad neu zu erfinden. Stattdessen stattet sie ihren epischen Duft-Bilderbogen mit prallen und greifbaren Charakteren aus, die man gern durch die üblichen Höhen und Tiefen einer Glamour-Welt begleitet, so dass sich das "Haus der Düfte" schnell mit charmanter Leichtigkeit als klassische Wohlfühllektüre etabliert. Insbesondere Parfümliebhaber werden an den Erlebnissen der jungen Anouk ihre helle Freude haben, denn die Autorin spart nicht mit informativen Einsprengseln und Details zu den bekannten klassischen Düften jener Zeit, so dass es die geneigten Leser:innen nach dem Zuklappen des Buchs wohl unweigerlich in die nächste Parfümerie ziehen wird, um all den flüchtigen Gerüchen nachzuspüren, denen man im Laufe dieser epischen Saga begegnet. Feel good par excellence!

Bewertung vom 21.09.2021
Die vier Winde
Hannah, Kristin

Die vier Winde


ausgezeichnet

Ein amerikanisches Epos

Elsa wächst in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts im Norden von Texas auf und ist das Aschenputtel ihrer Familie, der man nicht zutraut, jemals einen Mann zu finden oder eine Familie zu gründen. Als sie sich in den jüngeren Italo-Amerikaner Raf verliebt, schwanger wird und ihre Familie sie verstößt, beginnt ein hartes Leben in einer neuen Familie für sie. Jahre später hat sie sich mit ihrem Schicksal arrangiert, doch die große Depression und die fürchterlichen Sandstürme des mittleren Westens haben das Land fest im Griff. Elsa und ihre Familie nehmen all ihren Mut zusammen, lassen ihre Verzweiflung hinter sich und ziehen westwärts. Eine gefährliche und abenteuerliche Reise beginnt ...


Kristin Hannah, unter den großen US-Gegenwartsautoren bereits eine der etablierten, hat mit "Die vier Winde" ihre eigene Version der "Great American Novel" realisiert. Atmosphärisch dicht und in ihrer ausladenden erzählerischen Vision irgendwo zwischen John Steinbeck und Colleen McCullough angesiedelt, schildert Hannah die epische Geschichte von der Realisierung des persönlichen amerikanischen Traums mit dem wissenden Blick einer Erzählerin, die schon alles gesehen hat. Im besten Sinne des Wortes ein klassischer Lebens- und Entwicklungsroman, fernab von den abenteuerlichen Histo-Schmökern für Frauen, die sonst so in den letzten Jahren den Markt überschwemmt haben. Hat das Zeug zum modernen Klassiker - unbedingt lesen!

Bewertung vom 12.09.2021
Die Tote mit der roten Strähne
Kent, Kathleen

Die Tote mit der roten Strähne


sehr gut

Hart & unkonventionell

Polizistin Betty verschlägt es aus New York in ihre neue Dienststelle beim Drogendezernat in Dallas/Texas - und kaum hat sie dort angefangen, da geht auch schon ein Einsatz schief und ihr Leben läuft aus dem Ruder. Nun ist ihr ein viel mächtigerer Feind als das Kartell auf den Fersen, und die rote Locke auf ihrem Bett ist eine erste ernste Warnung.

Kathleen Kent, bisher eher im gehobenen historischen Roman zu Hause, vollführt mit ihrem ersten Thriller eine knallharte Kehrtwendung. Dass sie eine erfahrene Autorin ist, beweist der Schreibstil ihres Frauenkrimis, der sich klar von ihren bisherigen Werken unterscheidet und dennoch uneingeschränkt authentisch wirkt. Dabei sticht vor allem ihre starke Protagonistin Betty Rhyzyk heraus, eine faszinierend andere Heldin, nicht nur wegen ihres flammendsten Haars. Als Frau in einer Männerdomäne und bekennende Lesbe muss sie mit den Wölfen heulen und sich jeden Respekt hart erarbeiten, was sich wirklich wohltuend abhebt von vielen anderen weiblichen Romanheldinnen, die oft genug Entscheidungen einzig und allein auf der emotionalen Ebene treffen.

Ein bisschen schießt Kent hier übers Ziel hinaus, denn die unverblümte Sprache und die sehr direkte Handlung sind sicher nicht jedermanns Sache, aber weniger sensible Naturen (die bei Thrillern eigentlich die Hauptzielgruppe bilden) werden an der an klassische Hollywood-Action angelehnten Rasanz (mit einem Hauch Schmiermilieu) ihre Freude haben.

Alles in allem ist "Die Tote mit der roten Strähne" ein gelungener und grimmiger Noir-Thriller, der ein paar Längen in der Erzählung und eine etwas einfachere Struktur im Plot mit einer faszinierenden Perspektive allemal wieder wettmacht. Augen auf, der zweite Teil ist bereits in Reichweite!

Bewertung vom 30.08.2021
Someone like you / Moonflower Bay Bd.2
Holiday, Jenny

Someone like you / Moonflower Bay Bd.2


gut

Die knuffige Wohlfühlwelt

Nora Walsh flüchtet aus ihrer Beziehung in die Kleinstadt Moonflower Bay und übernimmt dort eine Arztpraxis. Was als vorübergehende Auszeit für zwei Jahre gedacht war, könnte sich jedoch schnell als Wink des Schicksals entpuppen, denn gleich nach ihrer Ankunft trifft Nora auf den Traumtypen Jake, der an einem schweren Schicksalsschlag zu knabbern hat. Und da sind noch die restlichen Bewohner von Moonflower Bay, die sich nur allzu gern in allen Lebensfragen einmischen ...

Genau wie der zur Vorkenntnis nicht nötige erste Band der "Moonflower Bay"-Reihe (dessen Protagonisten hier als Nebenfiguren auftreten) ist auch "Someone like you" eine Wohlfühlpackung nach Rezept aus dem Romance-Lehrbuch. Das ist nicht zwangsläufig etwas Schlechtes, denn letzten Endes bekommt die geneigte Leserin hier genau das, was man von einer kurzweiligen Urlaubslektüre erwartet: eine niedliche Liebesbeziehung, ein hübsch romantisches Setting, skurrile Kleinstadt-Charaktere und ein paar Irrungen und Wirkungen als kleine Stolpersteine. Das Ganze ist professionell umgesetzt, liest sich auf dem Balkon genauso flüssig weg wie im Strandkorb und befriedigt die Lust auf den kleinen Kitsch-Snack zwischendurch auf jeden Fall. Innovationen oder irgendwelche bewussten Brechungen von Genrekonventionen sucht man natürlich vergebens, allerdings erwartet man die auch nicht. Stattdessen werden Fans, die inzwischen alle Folgen von Serien wie "Gilmore Girls" oder "Virgin River" durchgesuchtet haben, mit ähnlich Bewährten versorgt. Diese bewusst gewählte Nähe zu den genannten Wohlfühlwerken ist natürlich reine Berechnung, aber knuffig genug, um für kurze Zeit entspannt in eine heile Welt abzutauchen. Zweck erfüllt - gute drei Sterne sind hier allemal drin.

Bewertung vom 23.08.2021
Heimatsterben
Höflich, Sarah

Heimatsterben


ausgezeichnet

Dystopisch-aktuelles Drama

Als ihre Großmutter im Sterben liegt, kehrt Hanna Ahrens aus New York zurück nach Deutschland und gerät dort schnell in einen politischen Strudel, bei dem ihre Familie - besonders ihr Schwager Felix als Kopf einer rechtsnationalen Volkspartei - in den Mittelpunkt radikaler politischer Änderungen im Land rückt.

Was man bei Sarah Höflichs faszinierendem Debütroman gleich zu Anfang hervorheben muss, ist die optische Aufmachung des Buchs. Lob an den dtv-Verlag, denn "Heimatsterben" glänzt mit einem prägnanten und doch noch subtilen Cover, einer gelungenen Farbgebung und kommt als ungewöhnlich handliches Hardcover daher, das sich haptisch sehr angenehm anfühlt. Damit ist dem Werk bei der Präsentation im Buchhandel vermutlich schon eine grundsätzliche Aufmerksamkeit sicher.

Davon abgesehen liest sich "Heimatsterben" trotz seiner düster-komplexen Thematik grandios flüssig, denn Sarah Höflich verpackt ihren dystopischen Politthriller in eine dramatische Familiensaga und verleiht ihren zahlreichen Charakteren einen tiefreichenden Hintergrund, der ihre Geschichte personalisiert und gleichzeitig erdet. Hierbei erweist sich der im Innencover liebevoll platzierte Stammbaum vor allem zu Beginn, wenn sich die Vergangenheit einiger Figuren in einem prall erzählten Rückblick auf die Jahre seit dem Kriegsende entfaltet, als hilfreiche Übersicht innerfamiliärer Verbindungen.

Der Roman selbst verläuft dann mit einer strukturell fast zu erwartenden Dynamik auf die jeweiligen Höhepunkte zu und zieht dabei die Spannungsschraube fester: Natürlich gipfelt der bedrohlich populistische Wahlkampf in einem Erfolg für Felix, natürlich gerät Hanna dabei in den Dunstkreis ihres eher ungeliebten Schwagers und natürlich steuert Deutschland auf dunkle Stunden zu. Das ist die logische Konsequenz, nicht nur aus der im Roman erzählten Geschichte selbst, sondern auch aus der Übersetzung und Verdichtung der derzeit tatsächlich aktuellen Zustände in der deutschen Gesellschaft, die mehr denn je einen Diskurs um unsere politische und moralische Zukunft erfordern. Insofern schildert "Heimatsterben" fast schon erschreckend realistisch ein Was-wäre-wenn-Szenario, das momentan, kurz vor den Wahlen im Herbst, brisanter nicht sein könnte. Ein durch und durch lesbarer, wichtiger und vor allem extrem spannender Near-Future-Roman, den man so schnell nicht aus der Hand legen wird - und ein fulminanter Start in den kommenden Bücherherbst. Unbedingt lesen!

Bewertung vom 09.08.2021
Wild Card
Thompson, Tade

Wild Card


ausgezeichnet

Exzellenter African Noir

Weston Kogi, der sich in London als unterbezahlter Wachmann mehr schlecht als recht durchschlägt, kehrt zur Beerdigung seiner Tante nach Alcacia zurück, jenes von Unruhen geschüttelte westafrikanische Land, das er vor fünfzehn Jahren übereilt verlassen hat. Eigentlich sollte es nur ein kurzer Aufenthalt werden, aber dann flunkert Weston ausgerechnet gegenüber Church, dem Typen, der ihn damals in der Schule gemobbt hat, etwas von seiner angeblich steilen Karriere bei der britischen Polizei vor. Prompt verdonnert ihn Church mit ein paar Drohungen dazu, in einem Jahre zurückliegenden Attentat zu ermitteln, und als Weston widerwillig mit seinen Nachforschungen beginnt, stößt er in ein Wespennest. Bald steht er im Fokus verschiedener miteinander verfeindeter Parteien, und wenn er jemals heil aus Alcacia entkommen will, muss er mit den Wölfen heulen - oder sterben ...

Der eigentlich im Science-Fiction-Genre beheimatete britisch-nigerianische Autor Tade Thompson legt mit "Wild Card" seinen ersten Thriller vor und landet sogleich einen Volltreffer. Sein hitzeschwüler Hardboiled-Krimi steht in der Tradition früher amerikanischer Pulp-Literatur á la Dashiell Hammett und Raymond Chandler und bringt einen multikulturellen Twist in das Genre des postmodernen "crime noir". Sein Protagonist Weston Kogi, Sinnbild viriler Männlichkeit und einer gesunden Portion übersteigerten Egos, betätigt sich seinen Vorbildern gleich als fast schon stoischer Gänger zwischen den Welten, auf einem schmalen Pfad, auf dem die Grenze zwischen Moral und Gesetzlosigkeit permanent zu verschwimmen droht. Alcacia ist ein Albtraumland, in dem Brutalität und Korruption zum alltäglichen Geschäft gehören, und in dem man nur überlebt, wenn man sich den Gegebenheiten anpasst und ebenso brutal auf seine Umwelt reagiert. Das liest sich erschreckend und auch unterkühlt, weil zumindest an der Oberfläche Emotionalität nicht zum Repertoire von Weston Kogi zählt, aber Tade Thompson erschafft hier mit seltener sprachlicher Wucht ein dreckiges Verbrecher-Epos unter der sengenden Sonne Westafrikas, in dem Schlamm und Blut und Schweiß aus jeder Buchseite tropfen. Hier wird auch die Ausweglosigkeit gegenwärtiger Weltpolitik in Entwicklungsländern spürbar, die in ihrer Erlösermentalität meilenweit an den tatsächlichen Verhältnissen vorbeigeht.

Was dagegen bleibt, ist ein Roman, der einen erbarmungslosen Sog entfesselt - mitreißend, spannend und unglaublich atmosphärisch konstruiert und dabei von einer seltenen Klugheit, die sich unter einer ermatteten Abgeklärtheit erspüren lässt. Eine bewegende Sternstunde, bei der man nur hoffen kann, dass sie bald die (angedeutete) Fortsetzung findet! Leser mit einem Faible für erbarmungslos nihilistische Thriller und entsprechend starken Nerven/Mägen haben hier absolut keinen Grund, nicht zuzuschlagen - besser geht es in diesem Genre derzeit wirklich nicht.