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Benutzername: 
Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 161 Bewertungen
Bewertung vom 24.08.2023
Karnstedt verschwindet
Häusser, Alexander

Karnstedt verschwindet


ausgezeichnet

Als Simon erfährt, dass ausgerechnet er den Nachlass seines verschwundenen Jugendfreundes Karnstedt verwalten soll, kann er das zunächst gar nicht recht glauben. Immerhin hatte er seit mehr als 20 Jahren überhaupt keinen Kontakt mehr zu diesem. Dabei waren sie einst die besten Freunde: der haarlose Karnstedt und der schmächtige Simon - zwei Außenseiter, die nur gemeinsam den zahlreichen Gemeinheiten ihrer Mitschüler:innen entkamen. Doch wie kam es überhaupt zum Ende dieser Freundschaft? Und was soll Simon jetzt auf diesem verlassenen Bauernhof in Dänemark? Darüber schreibt Alexander Häusser in seinem bewegenden Roman "Karnstedt verschwindet".

Die Erstausgabe des Werks erschien bereits 2007, nun ist die überarbeitete Ausgabe bei Pendragon veröffentlicht worden. Eine kluge Entscheidung des Verlags mit dem freundlichen kleinen Drachen, denn "Karnstedt verschwindet" ist zeitlos gut. Auf gerade einmal 220 Seiten gelingt es Häusser, eine Vielzahl aktueller Themen wie Individualität, Homosexualität, Freundschaft und Verrat so passend miteinander zu verknüpfen, dass der Roman nicht einmal ansatzweise überfrachtet wirkt.

Liest man ein Buch mit einem Figurennamen im Titel, erwartet man zweifelsfrei, einen besonderen Charakter kennenzulernen. Man denke nur an Douglas Stuarts "Shuggie Bain" oder Eva Romans Coming-of-Age-Wunder "Pax". Und diese Erwartungen werden auch bei "Karnstedt verschwindet" nicht enttäuscht. Besagter Titelheld entpuppt sich nicht nur wegen seines komplett haarlosen Körpers als exzentrisch, sondern setzt auch durch sein Verhalten Akzente. Karnstedt hat schon im Jugendalter erheblichen Einfluss auf Simons Leben, nun greift er durch sein Verschwinden und das Benennen Simons als Nachlassverwalter erneut massiv ein. "Karnstedt hat mit seinem Auftrag mein Leben unterbrochen. Er hat einen Staudamm im Fluss der Zeit errichtet, Gott gespielt, wie damals", lässt Häusser Simon sagen. Mit diesem Satz sollte man bereits ein Gespür bekommen, für die leise, aber umso eindringlichere Erzählart des Autors.

In der Folge gelingt es Häusser, drei unterschiedliche Erzählstränge parallel verlaufen lassen, ohne die Gefahr, dass man sich als Leser:in darin verfangen könnte. Denn tatsächlich differieren sie nicht nur in der Perspektive, sondern auch im Tonfall komplett. Während in Dänemark Ich-Erzähler Simon versucht, einen Überblick über das von Karnstedt hinterlassene Chaos zu bekommen, wirft ein allwissender Erzähler einen Blick auf die letzten Schultage der beiden Protagonisten vor dem Abitur. Garniert wird das Ganze mit einem kleinen Ausflug ins Genre des Abenteuerromans, wenn Simon Karnstedts Anwalt dessen letzte Aufzeichnungen vorliest. Während die Jugendfreundschaft typische Merkmale des Coming-of-Age-Romans wie Sexualität und Entwicklung aufweist, verströmt die Dänemark-Episode zeitweise gar ein gewisses Mystery-Flair. Denn der verschwundene Karnstedt scheint im wahrsten Sinne des Wortes allgengenwärtig zu sein.

Ein weiterer Pluspunkt des Romans ist die Figurenzeichnung - übrigens auch dank der Überarbeitungen, die erstmals in dieser neuen Ausgabe so erscheinen. Nicht nur Karnstedt überzeugt in seiner Darstellung, auch Simon und die anderen wichtigen Nebenfiguren wie der Lieblingsfeind der beiden - Tischlersohn Tummer - weisen zahlreiche Grautöne auf. Jede einzelne Figur begeht schwerwiegende Fehler, aber keine von ihnen kann man am Ende des Romans komplett verurteilen. Das liegt auch an der Empathie, die Alexander Häusser seinen Charakteren entgegenbringt.

Und so werden im höchst überraschenden und wahrlich dramatischen Finale alle drei Erzählstränge kongenial miteinander verbunden. Ein Finale, das nicht nur durch einen sich ständig steigernden Spannungsbogen überzeugt, sondern mich ungemein bewegt und aufgewühlt hat. Ein Finale, das bisweilen sogar an eine antike Tragödie erinnern mag.

"Karnstedt verschwindet" ist ein eindrucksvoll stiller, doch umso intensiverer Roman, der durch seine Konstruktion, die Sprache, die Atmosphäre und die Figuren gleichermaßen zu punkten weiß. Ein unbedingt lesenswertes und wuchtiges Statement für die Individualität.

Bewertung vom 22.08.2023
Zwielicht 17
Blackwood, Algernon

Zwielicht 17


sehr gut

Ob klassische Schauergeschichte, zeitgenössisches Psychogramm eines Serienkillers oder modernster Science Fiction-Horror - das deutsche Horrormagazin "Zwielicht" liefert in seiner 17. Ausgabe eine umfassende und bunte Mischung aus deutscher und internationaler Genre-Literatur.

Dabei sticht zunächst das wirklich sensationelle Cover des Schweizers Björn Ian Craig ins Auge. Mit einer gehörigen Portion Retrocharme spielt es so gruselig mit den Urängsten eines Kindes, wie es zuletzt vielleicht Blind Guardian in ihrem denkwürdigen Video zu "Mr. Sandman" gelang. Oder der genialen TV-Verfilmung von "Stephen Kings Es", gegen die der zweiteilige Kino-Blockbuster "Es" von Andrés Muschietti trotz modernster Special Effects nicht einmal ansatzweise anstinken konnte.

Mit Christian Blums "Arsénique" gelingt dem Zwielicht dann auch ein gelungener Einstieg mit einem Ausflug ins Metal-Genre. Zwar nicht zu den bereits angesprochenen Blinden Gardinen, dafür aber zur charismatischen Titelheldin, die ihren mehrstimmigen Gesang auf ganz eigene Art und Weise einzusetzen vermag. Insgesamt warten auf die Leserschaft 15 Geschichten, die sich sowohl stilistisch, als auch thematisch stark voneinander unterscheiden. Dass es bei einer solch umfassenden Anthologie dabei auch recht deutliche Qualitätsunterschiede gibt, scheint unvermeidlich. Während beispielsweise Algernon Blackwoods "Traumpfade" von 1911 auch sprachlich traumwandlerisch sicher daherkommen, verlieren sich einige wenige zeitgenössische Geschichten in einem Wust aus Genreklischees und Groschenroman-Flair. Zum Glück bilden letztere die eindeutige Minderheit.

Das größte Verdienst des Magazins ist ohnehin die unermüdliche und unglaublich liebevolle Recherche, mit der eher vergessene Autor:innen wie eben Blackwood, Arthur Machen oder Maurice Level wieder ins Zwielicht gerückt werden. Auf dem dazugehörigen Blog der Herausgeber Michael Schmidt und Achim Hildebrand finden sich nicht nur schier unfassbar umfangreiche Übersichten zu den genannten Schrifsteller:innen, sondern auch äußerst informative Interviews mit den Übersetzer:innen oder Autor:innen der Anthologie. Ein Blick auf defms.blogspot.com lohnt sich als Ergänzung zur Lektüre also ungemein. Dort wird man nicht nur feststellen, dass mittlerweile sogar schon "Zwielicht 18" erschienen ist, sondern dass es auch diverse Sonderveröffentlichungen - wie eben zu Algernon Blackwood - gibt.

Etwas irreführend ist in meinen Augen übrigens die Bezeichnung "Horrormagazin", denn "Zwielicht 17" kommt eher wie eine klassische Anthologie daher. Zwar gibt es am Ende der 15 Stories noch zwei Artikel mit Bezug zum Horrorgenre, doch auch hier hält sich der Einsatz von Bildern stark in Grenzen. Da sich der Titel aber in mittlerweile 18 Ausgaben bewährt hat, wird er wahrscheinlich nur noch Neueinsteiger:innen wie mich überraschen.

Insgesamt bietet "Zwielicht 17" über seine 280 Seiten eine unterhaltsame und gruselige Atmosphäre, die man mit wenigen Ausnahmen durchaus am Stück genießen kann. Für diejenigen Leser:innen, die dem klassischen Horrorgenre in den letzten Jahren vielleicht abhanden gekommen sind, empfehle ich vor allem die Geschichten, die sich nicht um Genregrenzen scheren und dabei sowohl sprachlich, als auch inhaltlich überraschen. Hier seien als Lesetipps neben den mehrfach erwähnten "Traumpfaden" von Algernon Blackwood vor allem auch Arthur Machens "Folter" von 1924, Maurice Levels "Babel" von 1910 und von den zeitgenössischen Geschichten Torsten Scheibs "Ein besonderes Näschen" zu empfehlen.

Bewertung vom 14.08.2023
Die Einladung
Cline, Emma

Die Einladung


ausgezeichnet

Als die 22-jährige Alex gegen Ende des Sommers von ihrem reichen und viel älteren Liebhaber Simon vor die Tür gesetzt wird, scheint ihr bisheriges Leben vorbei zu sein. Nach ihrer Zeit als Escortgirl schien Simon wie die Chance auf einen Neuanfang - und wie der Eintritt in die Welt der Reichen und Schönen in den Hamptons. Doch nach mehreren Fehlern der jungen Frau ist die gemeinsame Zeit abgelaufen. Während Alex sich irgendwie durchschlagen muss, rückt der Tag näher, auf den sie all ihre Hoffnungen setzt: der Labour Day, an dem Simon eine große Party schmeißen möchte. Alex muss auf diese Party kommen, um mit Simon Versöhnung zu feiern - koste es, was es wolle...

"Die Einladung" ist nach "The Girls" der zweite Roman der Kalifornierin Emma Cline, der jetzt in der deutschen Übersetzung von Monika Baark bei Hanser erschienen ist. Ihm dürfte eine ebenso große Aufmerksamkeit und Kontroverse gewiss sein wie dem Debüt. Denn "Die Einladung" ist alles andere als ein Wohlfühl- oder Sommerroman mit einer liebenswerten Hauptfigur.

Vielmehr ist Alex eine klassische Antiheldin. Sie lügt, stiehlt und nutzt ihre Mitmenschen ganz nach ihrem Belieben aus, um an ihr Ziel zu gelangen. Und trotzdem gelingt es Emma Cline verblüffenderweise, dass man eine Art Komplizenschaft mit ihr eingeht. Man hofft nämlich, dass Alex mit all diesen Dingen durchkommt, bangt mit ihr, dass ihr erneuter Fehltritt keine Konsequenzen haben wird. Vornehmlich erreicht Cline dies mit ihrem einnehmenden und flüssigen Schreibstil. Man folgt dieser jungen Frau auf Schritt und Tritt. Am Ende wird Cline sie kein einziges Mal aus den Augen gelassen haben. Selbst vergangene Momente werden aus der Gegenwart heraus erzählt, so dass die Erzählstimme ins unliterarische Plusquamperfekt wechselt, nur um die gegenwärtige Alex nicht allein stehen zu lassen. Dabei erzeugt die Autorin nicht besonders viel Empathie für ihre Hauptfigur und bringt ihr selbst auch keine entgegen. Auch der eher nüchterne Stil trägt zu diesem Empfinden bei. Umso erstaunlicher, dass trotzdem diese Bindung zur Protagonistin erreicht wird.

Alex' Geschichte ist im Grunde eine tieftraurige, auch wenn wir über ihre weiter zurückliegende Vergangenheit kaum etwas erfahren. Sie wirkt wie eine verlorene Seele, irrt heimatlos umher wie ein Geist, als den sie sich selbst manchmal bezeichnet. Und in der Tat erinnert "Die Einladung" in gewissen Momenten an eine abgebrühtere Variante des genialen David Lowery-Films "A Ghost Story", in dem ein Gespenst sich ein Bettlaken umlegt, um zumindest für das Publikum sichtbar zu sein. Auch Alex bleibt über weite Strecken des Romans unsichtbar bishin zur kompletten Selbstaufgabe ihrer Identität. Sie ordnet sich unter, um zu gefallen, setzt in den unpassendsten Momenten ein Lächeln auf. Nur in ganz wenigen Momenten schimmert die echte Alex durch die glatte Oberfläche: Immer dann, wenn Alex im Pool oder im Meer schwimmen geht, scheint sie ganz bei und für sich zu sein.

Durch den immer wieder aufblitzenden subtilen Humor ist "Die Einladung" zudem auch eine Gesellschaftskritik. Die Scheinwelt der Reichen und Schönen besticht durch ihre Oberflächlichkeit, durch die Ausgrenzung der Menschen, die nicht dazugehören können oder wollen. Das ist zwar nicht neu, doch wie Emma Cline ihre Protagonistin als Wandlerin zwischen den Welten - da ist wieder das Geistmotiv - einsetzt, gibt dem Roman etwas zutiefst Eigenständiges.

Clever ist auch, wie lässig Cline die Spannung aufbaut. Erst nach und nach erzählt sie, wie Alex eigentlich in diese offenbar ausweglose Situation hineingeraten konnte. Dazu bedarf es nicht vieler Worte, manchmal reicht ein einfaches Auflegen von Alex' Gesprächspartnern am Telefon.

Möchte man etwas an dem Roman kritisieren, ist es vielleicht die fehlende Entwicklung der Protagonistin in der zweiten Hälfte. Trotz diverser Rückschläge bleibt Alex mit Ausnahme der Wasserszenen eigentlich immer gleich. Vielleicht passt das aber eben auch umso besser zu einer Figur, die ihre Identität ohnehin schon nahezu aufgegeben hat. Sprachlich schien mir zudem die Übersetzung an der einen oder anderen Stelle etwas zu knirschen.

Insgesamt ist "Die Einladung" aber ein sehr überzeugender und hochaktueller Roman, denn die Scheinwelt der Reichen und Schönen lässt sich sehr gut auch auf die Sozialen Medien und ihre Auswirkungen auf Kinder und junge Leute übertragen. Zudem ist er mehr als eine schnöde Gesellschaftskritik, weil er mit Blick auf Alex als verlorenes Individuum psychologisch subtil, aber dennoch tief in die Seele seiner Hauptfigur hineinschaut, ohne mit ihr zu fühlen, aber auch ohne sie zu verurteilen. Um es auf die Leserschaft zu übertragen: Man bangt mit Alex und man ärgert sich über sie, aber sie lässt einen nie kalt. Das ist das Hauptverdienst von Emma Cline.

Bewertung vom 01.08.2023
Sommerwasser
Moss, Sarah

Sommerwasser


sehr gut

Da ist Justine, die morgens um 5 Uhr aufsteht, um sich den Kopf freizulaufen und um sich zumindest mal ein wenig von ihrem Mann Steve zu entfernen. Da sind Lola und Jack, zwei gelangweilte Kinder, deren depressive Mutter viel zu sehr mit sich und ihrem Unglück beschäftigt ist, um sich um die beiden zu kümmern. Da ist Alex, ein pubertierender Jugendlicher, dem die Eltern peinlich sind und der sich trotz des schlechten Wetters lieber mit dem Kajak aufmacht, um ganz allein bei sich zu sein. Und da sind der pensionierte Arzt David und seine Frau Mary, deren Demenz immer offensichtlicher wird. Sie alle eint dieses völlig verkorkste Wetter an einem schottischen See, die Langeweile in ihrer jeweiligen Hütte und der Ärger über die fremde Familie, in deren Haus abends immer und immer wieder laute Musik lärmt. Und sie alle sind die Hauptfiguren in Sarah Moss' neuen Roman "Sommerwasser", der in der deutschen Übersetzung von Nicole Seifert jüngst im Unionsverlag erschienen ist.

Wobei das nur die halbe Wahrheit ist. Denn eigentlich sind alle genannten Personen und der Rest des umfangreichen Ensembles nur Nebenfiguren. Protagonist ist zweifelsohne das Wasser, oder besser gesagt der Regen. Unaufhörlich prasselt er auf den schottischen See und die dazugehörige Natur hernieder. Wer also beim Titel des Romans an einen beschaulichen Sommerurlaubs-Roman denkt, der sei gewarnt. Denn hinter dem Wasservorhang befindet sich der ein oder andere menschliche Abgrund.

EIn großer Vorzug des Romans ist, wie nah sich die Autorin an ihre Charaktere heranwagt. Moss nimmt die Leser:innen mit in die Köpfe der Figuren und zeigt mit großer Präzision die Gedankengänge auf, die mal mehr, mal weniger interessant sind. Stark beispielsweise, wie intensiv man den Fluchtwunsch der Läuferin Justine fast am eigenen Leib spürt oder wie verworren und gleichzeitig äußerst realistisch einen die Gedankengänge der demenzkranken Mary berühren. Andererseits gibt es das Pärchen Josh und Milly, dessen Hauptanliegen ein gemeinsamer Orgasmus zu sein scheint und das doch eher ein wenig belanglos oder gar überflüssig erscheint.

Sprachlich setzt Sarah Moss immer wieder auch auf poetische Vergleiche, die ihr besonders gut gelingen, wenn sie in kleinen Zwischenstücken die Auswirkungen des Regens auf die Natur und ihre Bewohner beschreibt. In den zwischenmenschlichen Beziehungen wirken die Sprachspiele manchmal ein wenig aufgesetzt und zünden dementsprechend nicht immer. Als störend habe ich vor allem zu Beginn die fehlenden Anführungszeichen in der direkten Rede empfunden, denen außer einem gewissen Manierismus keine Funktion zukommt. Außerordentlich originell ist das übrigens auch nicht, weil man es mittlerweile schon ziemlich häufig gelesen hat.

Während das erste Drittel des Buches im wahrsten Sinne des Wortes auf der Handlungsebene ein wenig dahinplätschert, gewinnt es mit einem plötzlichen Spannungsbogen mit zunehmender Dauer immer mehr hinzu. Konkret geht es um das Mädchen Violetta, welches in der Hütte wohnt, die die anderen Bewohner:innen als störend empfinden. Was als Spiel beginnt, endet für das Kind in einer außerordentlichen Bedrohung. Klug spielt Sarah Moss hier mit politischen und gesellschaftlichen Themen wie der Angst vor dem Fremden, aber auch dem Brexit und konkretem Rassismus. Während die einzelnen Perspektiven zuvor noch recht beliebig wirkten, erhalten sie außerdem mit zunehmender Dauer ihre jeweilige Berechtigung.

Und so nähert sich "Sommerwasser" seinem dramatischen Höhepunkt, einem wahrlich überraschenden und in jeder Hinsicht spektakulären Finale, still und heimlich, aber mit immer größer werdender Intensität.

"Sommerwasser" von Sarah Moss ist ein leiser, atmosphärischer Episodenroman, der zwar nicht über seine gesamten 180 Seiten gleichermaßen überzeugt, die Leserschaft aber dafür ungläubig staunend und berührt mit seinem sehr gelungenen Finale und der zuvor aufgebauten Spannung zurücklässt. Ein Roman, der gerade wegen des vermeintlich schlechten Wetters andererseits zudem große Lust macht: auf den Regen, aber auch auf weitere Werke von Sarah Moss.

Bewertung vom 18.07.2023
Das Summen unter der Haut
Lohse, Stephan

Das Summen unter der Haut


ausgezeichnet

Hamburg, 1977: Die Sommerferien stehen bevor, und der 14-jährige Julle verbringt seine freie Zeit am liebsten im Freibad. Neuerdings ist das Ganze sogar noch ein bisschen aufregender, denn für seinen neuen Klassenkameraden Axel empfindet Julle mehr als nur Freundschaft. Als die beiden im nahen Wald eine abgebrannte Hütte mit dubiosen Röntgen-Aufnahmen finden, weckt dies in den Jungen den Abenteuergeist. Wer war jener ominöse Karl Siebert, von dem diese Aufnahmen stammen?

Stephan Lohses Romane waren für mich bislang eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Mit seinem Debüt "Ein fauler Gott" aus dem Jahre 2017 traf er mitten in mein Herz. Das Buch ist neben Florian Knöpplers "Kronsnest" wahrscheinlich der schönste deutschsprachige Coming-of-Age-Roman des 21. Jahrhunderts und zählt bis heute zu meinen absoluten Lieblingsbüchern aller Zeiten. Umso ernüchterter war ich vom 2020er-Nachfolger "Johanns Bruder", bei dem in meinen Augen überhaupt nichts zusammenpasste. Mit dem jüngst im Insel Verlag erschienenen "Das Summen unter der Haut" behält der Hamburger Autor seinen Drei-Jahres-Rhythmus bei - und macht glücklicherweise einen großen Schritt zurück in Richtung des melancholischen Entwicklungsromans.

Denn, so viel sei vorweggenommen, "Das Summen unter der Haut" ist ein sehr gelungener Roman geworden. Und das, obwohl er gleich im ersten Satz mit einem der vielleicht hässlichsten Wörter der deutschen Sprache beginnt: Brustwarzen. Vorangestellt ist dem Buch ein Zitat von Maik Klingenberg, womit der Leserschaft gleich die Richtung vorgegeben wird. Denn das Motto der "Tschick"-Hauptfigur ist nicht die einzige Verbeugung vor dem modernen Klassiker von Wolfgang Herrndorf.

Ich-Erzähler Julle ist ein liebenswerter Protagonist, der sich seiner Homosexualität erstaunlich früh bewusst ist. In nahezu jedem Satz spürt man die große Empathie des Schriftstellers für seine Hauptfigur. Vielleicht liegt es an dieser Empathie, dass Julle es trotz seiner "Andersartigkeit" erstaunlich leicht hat. Seiner älteren Schwester gegenüber hat er sich bereits geoutet, ein versehentliches Verplappern in einer Notsituation hat für ihn keine negativen Folgen. Die Freundschaft zu Axel verläuft - trotz der Gefühle Julles - reibungslos. Womit wir bei einem der Vorzüge des Romans wären, der sich bei näherer Betrachtung jedoch als Schwäche entpuppt. "Das Summen unter der Haut" ist ein Wohlfühlbuch. Fernab jeder Art von Zynismus mit nur wenigen Konflikten, die sich erstaunlich schnell in Luft auflösen. Das ist einerseits schön und vielleicht genau das Richtige für eine Sommerlektüre. Andererseits fehlen dem Buch dadurch ein paar Ecken und Kanten. Fast fühlt man sich ein wenig eingelullt. 1977, als die 14-Jährigen noch Queen hörten, ihre meiste Zeit draußen verbrachten. Als man sich gegenseitig Mixtapes schenkte oder selbstklebende Fotoalben. Ja, als 14-Jährige sich noch als Kinder bezeichneten - und sogar Kinder waren. Die pure Nostalgie, ohne jedoch kitschig zu sein. Höchstens ein bisschen glatt. Früher war zwar alles anders. Aber auch einfacher?

Das ist Kritik auf hohem Niveau, denn "Das Summen unter der Haut" ist so liebevoll, dass man Autor und Buch kaum böse sein kann. Gleichzeitig freut man sich über die zahlreichen Verneigungen vor Klassikern der Coming-of-Age-Literatur. Der Roman beginnt ausgerechnet in einem Freibad, womit Stephan Lohse vielleicht selbst voller Nostalgie auf sein eigenes Debüt zurückschaut. Es wird in Kapitel 19 eine weitere Freibadszene geben, die den romantischen Höhepunkt des Romans darstellt. Es gibt eine Tankstellenszene krimineller Natur, die vielleicht nicht ganz so verwegen endet wie in Herrndorfs "Tschick". Und wer denkt nicht an Stephen Kings "Die Leiche" (aka "Stand By Me"), wenn Julle und Axel in der verbrannten Hütte Karls Röntgenbilder betrachten - und dabei Angst haben, den verbrannten Karl selbst zu finden?

Zudem ist der Roman ein Mutmach-Buch, das gerade junge Leser:innen ansprechen sollte und vielleicht auch deshalb in weiten Strecken an einen sehr guten Jugendroman erinnert. Es füllt eine Nische, denn queere Literatur für sehr junge homosexuelle Kinder und Jugendliche gibt es auch heute noch viel zu wenig. Wahrscheinlich wäre ich 1988 komplett ausgeflippt, wenn ich Julles Satz auf Seite 30 hätte lesen dürfen: "Ich wusste schon mit elf, dass ich schwul bin." Das ist hinreißend und hätte mir und vermutlich einer ganzen Generation unvorstellbar gut getan. Insofern ist Julle ein Vorbild. Und seine Liebe zu Axel übrigens absolut verständlich und nachvollziehbar, denn diese Figur ist in ihrer Mischung aus Witz, Güte und Vernunft vielleicht schon ein wenig zu perfekt.

Ein weiterer Höhepunkt des Romans ist zweifellos das Finale. Während zuvor ein überwiegend heiterer Tonfall vorherrscht, den Stephan Lohse mit feinem Humor zeichnet, schlägt die Melancholie auf den letzten Seiten gnadenlos zu - und lässt offene Fragen und wirbelnde Emotionen zurück.

Bewertung vom 05.07.2023
Das Fest
Kennedy, Margaret

Das Fest


ausgezeichnet

Cornwall, im August 1947: Im etwas heruntergekommenen Hotel Pendizack trifft sich eine bunte Mischung von Personen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten. Da ist beispielsweise die sehr arme Witwe Mrs. Cove, die mit ihren drei Töchtern sogar im selben Zimmer wohnt, um nur eines bezahlen zu müssen. Da ist Kanonikus Wraxton, ein zorniger Mann, dessen Tochter Evangeline offenbar an "Hysterie" oder Ähnlichem leidet. Oder die schwer kranke Lady Gifford, die sich mit ihrem Mann und den vier Kindern am Meer ein wenig von ihren Leiden erholen will. Sie alle eint nur eine einzige Sache: Sie haben sich in einem Hotel eingenistet, das dem Untergang geweiht ist. Denn in wenigen Tagen wird ein Felssturz das Gebäude unter sich begraben und nur diejenigen verschonen, die sich an jenem Abend zu einem Fest am Strand versammelt haben.

Wer glaubt, dass mit diesem Hinweis schon zu viel gesagt wurde, liegt falsch, denn schon das genial umgesetzte Cover, das in einem einzigen Bild den gesamten Klappentext darstellt, setzt den Felssturz und das dazugehörige Unglück als bekannt voraus. Vielmehr geht es um die Frage, wer überlebt und wer stirbt - und natürlich, wie es überhaupt zu diesem Unfall kommen konnte? Oder ist es vielleicht gar kein Unfall gewesen?

"Das Fest" von Margaret Kennedy (1896 - 1967) stammt ursprünglich bereits aus dem Jahre 1950. Nun ist es bei Schöffling & Co. in der deutschen Übersetzung von Mirjam Madlung erschienen. Der Verlag bezeichnet es im Klappentext als "nostalgischen Sommerkrimi aus England". Vielleicht ist es aber sogar noch mehr: ein hochspannender Pageturner, das Porträt einer vom Zweiten Weltkrieg gezeichneten Gesellschaft - oder einfach nur ein Fest der Literatur.

Denn Kennedy gelingt es nahezu spielend leicht, die Leserschaft hineinzuziehen in diese merkwürdige Ansammlung von Figuren und das drohende Unheil, das wie ein Damokles-Schwert über den Hotelgästen schwebt. Kennedy setzt dabei vor allem zu Beginn des Romans auf unterschiedliche literarische Stilmittel wie Briefe, Tagebucheinträge und erzählende Passagen. Das sorgt einerseits für Abwechslung und spielt andererseits mit zahlreichen Perspektivwechseln, so dass die Leser:innen gezwungen sind, ihre vorgefertigten Meinungen im nächsten Kapitel schon wieder zu überdenken, weil eine Figur plötzlich in einem ganz anderen Licht erstrahlt. Die Sprache, die sie dafür verwendet, verzichtet nahezu komplett auf literarische Spielereien und strahlt dennoch eine gewisse Eleganz aus. Das sorgt dafür, dass sich "Das Fest" unglaublich flüssig und unterhaltsam lesen lässt, ohne jedoch jemals in die Banalität abzurutschen. Denn dafür ist der Roman viel zu gewitzt und klug konzipiert. Margaret Kennedy fesselt ihr Publikum nicht nur durch die sich stetig und langsam aufbauende Spannung, sondern begeistert zwischendurch auch immer wieder mit sprachlichem Witz und Komik, die allerdings fern davon ist, sich über die Figuren lustig zu machen.

Ohnehin ist die Figurenkonzeption ein weiteres Plus des Buches. Obwohl es keine klassische Hauptfigur gibt, gelingt es der englischen Autorin, eine Bande zu den lieb gewonnenen Charakteren wie Zimmermädchen Nancibel oder den drei Cove-Töchtern zu knüpfen, die immer stärker wird, so dass man sich mehr oder weniger klammheimlich wünscht, dass diese doch vom Felssturz verschont bleiben mögen und stattdessen andere dran glauben sollen. Das ist clever, auch weil man sich als Leser:in moralisch hinterfragen muss: Ist es legitim, der einen oder anderen Figur den Tod zu wünschen, damit eben Nancibel davon verschont bleibt? Kennedy erreicht dies durch Empathie zu ihren erkennbaren Lieblingen, die sich in berührenden zwischenmenschlichen Szenen auf die Leserschaft übertragen.

Ausgerechnet im letzten Viertel des Buches schwächelt "Das Fest" erstmals ein wenig. Die Bewohner:innen ergötzen sich in Diskussionen über die britische Nachweltkriegspolitik, die für das damalige zeitgenössische Publikum sicherlich interessanter gewesen sein dürften als für uns heute. Zudem fehlt dem Finale - trotz eines eingefügten sehr gelungenen Nervenkitzels - vielleicht der ganz große Überraschungseffekt, da man bei der Lektüre mit der Zeit doch ein ganz gutes Gespür dafür bekommt, wer wohl zu den Todesopfern zählen wird. Letztlich haben mich diese kleineren Schwächen aber nicht besonders gestört.

Was den Roman für mich nämlich noch lesenswerter macht, ist, dass ich ein Faible für Geschichten habe, die entweder in Hotels oder in Zügen spielen, wie beispielsweise zuletzt "Was geschieht in der Nacht" von Peter Cameron, "Das perfekte Grau" von Salih Jamal oder "Ein Hummerleben" von Erik Fosnes Hansen. Ein Hotel erlebt so viele unterschiedliche Menschen und deren persönliche Schicksale, dass wohl nahezu jedes von ihnen selbst Schriftsteller werden könnte. Auch das Pendizack wüsste von den dunklen Geheimnissen seiner Bewohner und Besitzer zu berichten - wenn es nicht durch den Felssturz für immer schweigen müsste...

Bewertung vom 24.06.2023
Der letzte Sessellift
Irving, John

Der letzte Sessellift


sehr gut

Es ist schwer, John Irvings neuen Roman "Der letzte Sessellift", der jüngst bei Diogenes in der deutschen Übersetzung von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg erschienen ist, in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Dafür ist das Werk schlicht zu lang und ein wenig unübersichtlich, denn Ich-Erzähler Adam widmet sich nicht nur seiner eigenen Lebensgeschichte und Weltanschauung, sondern schweift auch immer wieder ab. Zudem ist das Personal unglaublich umfangreich, schließlich erstreckt sich "Der letzte Sessellift" nicht nur über knapp 1.100 Seiten, sondern auch über einen Zeitraum von etwa 70 Jahren. Freunde des 81-jährigen Irving kommen dabei durchaus auf ihre Kosten. Beliebte Zutaten eines jeden Irvings tauchen auch hier wieder auf: homosexuelle Männer und Frauen, eine Transfrau, ein Ringerteam, Politik- und Gesellschaftskritik, Schenkelverkehr. Eine Bibliothekarin spielt hingegen nur eine Nebenrolle und den Bären findet man eventuell nur versteckt und wenn man etwas um die Ecke denkt.

Seine Stärken hat der Roman im Unerwarteten. Vermeintlich lieb gewonnene Hauptfiguren verabschieden sich auf nicht gerade glimpfliche Weise und sehr plötzlich aus der Handlung. Oder Irving streut von Zeit zu Zeit immer mal wieder die Drehbücher von Hauptfigur Adam, seinerseits Schriftsteller, ein, um von Ereignissen zu erzählen, die so schrecklich sind, dass er offenbar selbst eine gewisse Distanz benötigt, um darüber berichten zu können. Die Drehbücher lesen sich fast wie eigene "Bücher im Buch" und erstrecken sich zweimal sogar über jeweils knapp 100 Seiten. Mutig und unkonventionell und für mich die Highlights des Romans. Denn Irving gelingt es durch seine Drehbücher das Gefühl einer permanenten Bedrohung zu schaffen. Mit dem Wechsel ins erzählerische Präsens erfährt "Der letzte Sessellift" in diesen Momenten eine große Unmittelbarkeit. Man hat von Beginn an das Gefühl, einer oder mehreren Figuren könnte in diesen Szenen etwas Schreckliches widerfahren - nur wem und wie bleibt dabei unklar. Das sorgt für unterschwellige Spannung.

Außerordentlich berührend wird der Roman in den Momenten, in denen Irving besonders persönlich wird und man den Autoren hinter seiner Hauptfigur erkennt. Folgt man den Gerüchten, soll "Der letzte Sessellift" ja angeblich der letzte große Roman von Irving sein. Hat man dies im Hinterkopf, wird man auf den letzten Seiten fast überwältigt von der großen Melancholie, die dem Altmeister hier gelingt. Den letzten Satz kann man wohl nicht lesen, ohne mindestens eine Gänsehaut zu bekommen. Ohnehin hat das Buch seine starken Momente in den ernsten Szenen. Hervorzuheben ist in dieser Hinsicht die wunderbar zärtlich und liebevoll geschilderte Vater-Sohn-Beziehung zwischen Adam und dem kleinen Matthew, der im letzten Viertel den Roman bereichern darf.

Die Suche nach Adams leiblichen Vater entpuppt sich hingegen als Enttäuschung. Von mir lange Zeit als zentrales Element des Werks ausgemacht, erscheint die Auflösung doch recht lapidar. So wird allgemein nicht ganz klar, was die zentrale Aussage des Buches überhaupt sein soll. Es gibt viel Politik, viel Sex, viel Gewalt, viele Tote, viele Tränen. Und natürlich gibt es erneut Irvings großen Einsatz für Minderheiten und seinen Kampf für die Anerkennung der LGBTQ-Community, die sicherlich nicht nur für diesen Roman, sondern für sein gesamtes Lebenswerk mit in die Bewertung dieses Buches einfließen kann.

Dennoch hat "Der letzte Sessellift" auch erhebliche Schwächen. Viele der Figuren zeigen kaum Anzeichen einer Entwicklung. Das lesbische Stand-up-Comedy-Duo Nora und Em wirkt beispielsweise in Teenager-Jahren genauso wie im fortgeschrittenen Alter, so dass es nicht immer leicht ist, dem Roman bei seinen zahlreichen Sprüngen zeitlich zu folgen. Der Humor begibt sich teilweise in recht brachiale Gefilde und lässt selbst die Fäkalschiene nicht aus. Der Umgang mit unsympathischen Figuren ist bisweilen zu despektierlich. Wenn beispielsweise der demenzkranke Großvater permanent als "Windelträger" bezeichnet und ihm auch nur ein slapstickhafter Abgang aus dem Buch gestattet wird, werden die Grenzen des guten Geschmacks schon mal unterschritten.

Zudem ergötzt sich das Buch in permanenten Wiederholungen. Damit sind nicht nur Handlungsbögen gemeint, die mehrfach erzählt werden, sondern auch ständig wiederkehrende Bezeichnungen der Figuren. So war ich dem "Schneeläufer", der "kleinen Englischlehrerin", der "Pistenpflegerin" und vielem mehr doch irgendwann arg überdrüssig. Auch dadurch wird "Der letzte Sessellift" in seiner Gesamtheit viel zu lang und hätte gut und gerne um 200 oder 300 Seiten gekürzt werden können.

Alles in allem ist "Der letzte Sessellift" wahrscheinlich nicht John Irvings stärkster Roman. Er ist aber auch mitnichten eine Enttäuschung. Dafür zeigt sich der Altmeister einfach in zu guter (Erzähl-)Form und Fabulierlust. Und dafür ist auch diesmal sein Einsatz für Minderheiten wieder zu groß.

Bewertung vom 16.05.2023
Mistral
Borrély, Maria

Mistral


ausgezeichnet

In einem Dorf der Haute-Provence zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebt die junge Marie im Kreise ihrer Familie. In ihrer täglichen Arbeit hilft sie beim Sammeln von Oliven und Mandeln und bei der Herstellung von Öl. Zuhause kümmert sie sich liebevoll um ihre kleineren Geschwister. Als sie den Müllersgehilfen Olivier Roure kennenlernt, spürt sie sofort eine besondere Verbindung zwischen sich und dem jungen Mann. Bei einem gemeinsamen Ausflug kommen sich die beiden näher. Doch, was Marie nicht weiß: Olivier ist bereits einer anderen versprochen...

Als die Übersetzerin Amelie Thoma bei einem Sommerurlaub in der Provence eher zufällig auf Maria Borrélys (1890 - 1963) kleinen Roman "Sous le vent" aus dem Jahre 1929 stieß, machte sie sich "auf eine ländlich-pittoreske Erzählung gefasst". So erfahren wir es im ausführlichen und informativen Nachwort des jüngst im Kanon Verlag als deutsche Neuübersetzung erschienenen "Mistral". Doch, was sie entdeckte, war "ein echtes literarisches Kleinod", das ausgerechnet in jenem Dorf spielte, in dem sie sich gerade befand. Ein Glücksgriff, auch für die deutsche Leserschaft.

Ein unglücklich verliebtes junges Mädchen, ein Wetterphänomen im Titel und eine Frau als Urheberin. Wer jetzt an Emily Brontës "Sturmhöhe" denken mag, liegt nicht ganz falsch, da es durchaus Parallelen zwischen den Beziehungen Cathy/Heathcliff und Marie/Olivier gibt. Allerdings ist Olivier eher eine Art Anti-Heathcliff. Denn während der emotionale "Sturmhöhe"-Bösewicht selbst wie ein Orkan durch die Wuthering Heights fegte, entpuppt sich Olivier als laues Lüftchen, der die Liebesbotschaft seiner Verehrerin kurzerhand zerreißt. Die Naturbeschreibungen Maria Borrélys übertreffen diejenigen Emily Brontës hingegen sogar noch um ein Vielfaches. Womit wir auch schon bei der großen Stärke von "Mistral" angekommen sind. Tatsächlich entpuppt sich der Roman als regelrechte Sprachgewalt. Ob nun der Titelheld oder seine Schwester, die Montagnère, ob die Hitze des Sommers oder die eiskalten Fallwinde - Maria Borrély ist eine Meisterin des Nature Writing, das es damals so allerdings noch gar nicht gab. Auf nahezu jeder Seite zischt und grollt es und man ist als Leser geneigt, zu überprüfen, ob der Hut noch sitzt. Wenn man denn beim Lesen einen trägt. Allein diese Beschreibungen machen aus "Mistral" ein überwältigendes Ereignis, das ich in dieser Art noch nicht kennengelernt habe. Allenfalls Lafcadio Hearns "Chita" mag diesbezüglich in seinem eindringlichen ersten Teil mithalten können, oder ansatzweise Irene Solàs "Singe ich, tanzen die Berge". Wobei Maria Borrély im Vergleich zur Katalanin glücklicherweise auf zu viel Lautmalerei verzichtet.

Eine weitere Qualität von "Mistral" ist die völlig unkonventionelle Erzählstruktur. Denn Maria Borrély scheint sich um literarische Konventionen überhaupt nicht zu scheren. Da wird in den Zeiten hin- und hergewirbelt, als hätte hier der Mistral selbst seine Hände im Spiel. Vom Präsens ins Präteritum und wieder zurück, manchmal innerhalb eines Absatzes. Eine kleine Brise Perfekt darf natürlich auch nicht fehlen. Das ist einerseits gerade zu Beginn anstrengend, doch andererseits auch herrlich erfrischend und eben anders. "Eigentümlich", wie es Literatur-Nobelpreisträger André Gide formulierte, der übrigens einen erheblichen Anteil daran hatte, dass "Sous le vent" 1930 bei Gallimard erscheinen durfte. "Merkwürdig und seltsam" würde sicherlich auch passen. Oder auch perfekt unperfekt und dabei voller Leidenschaft.

Wenn man "Mistral" kritisieren möchte, bietet der Roman durchaus Angriffspunkte. Die Figuren bleiben mit einer noch zu erwähnenden Ausnahme eher blass. Die poetischen Vergleiche Borrélys passen nicht immer, sie gleiten manchmal ins Schwülstige ab und werden zu häufig eingesetzt. Auf der Handlungsebene passiert über weite Strecken verhältnismäßig wenig. Nur störte mich all dies mit zunehmender Dauer überhaupt nicht mehr, da es "Mistral" irgendwann und klammheimlich gelang, mich komplett für das Werk und die Autorin einzunehmen. Fast so, als hätte ein besonders gewaltiger Sturm irgendwann eine nicht mehr zu durchdringende Staubschicht auf diese Kritikpunkte gelegt.

Neben der wirklich wundervollen - und sicherlich nicht einfachen - Übersetzung von Amelie Thoma möchte ich abschließend noch die wohl stärkste Figur des Romans vorstellen. Es handelt sich dabei um den fast 80-jährigen Moisson, Maries Großonkel, dem zwar nur wenige Auftritte gestattet werden, die dafür aber umso erstaunlicher sind. Denn dieser Moisson spricht nicht nur wie ein biblischer Prophet, er scheint auch einer zu sein. Moisson klagt in einer kurzen Zornesrede die Menschheit an, zu wenig für den Umweltschutz und das Tierwohl zu tun. In einem Roman, der fast 100 Jahre alt ist. Das ist nahezu unglaublich und genial, denn seine Ausführungen sind von so erschreckender Aktualität, dass ich mich erst einmal vergewissern musste, ob sich beim Jahr der Erstveröffentlichung nicht doch irgendwo ein Zahlendreher eingeschlichen hat...

Bewertung vom 09.05.2023
Stories
Williams, Joy

Stories


sehr gut

Da gibt es den Prediger, der seiner sterbenskranken Frau nicht von der Seite weicht. Oder die beiden Mädchen, die durch einen Zug stromern und dabei einen Haufen merkwürdiger Menschen treffen. Und natürlich auch die Mütter verurteilter Mörder:innen, die sich an einem Ort irgendwo in den USA niedergelassen haben. Sie alle eint eine große Einsamkeit, der sie trotz aller Bemühungen offenbar nicht entfliehen können. Und sie alle sind Protagonist:innen der "Stories" von Joy Williams, die kürzlich in der deutschen Übersetzung von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz bei dtv erschienen sind.

In den Feuilletons der deutschen Tageszeitungen und im Literarischen Quartett des ZDF wurden die "Stories" fast schon überschwänglich besprochen, und auch auf der Rückseite des Buches huldigen zahlreiche zeitgenössische amerikanische Erzähler:innen Joy Williams. Umso überraschender, dass es sich bei dem Erzählband tatsächlich um die erste auf deutsch erscheinende Veröffentlichung der fast 80-jährigen Autorin handelt. Man kann bereits jetzt voraussagen, dass es nicht die einzige bleiben wird. Insgesamt 13 Kurzgeschichten umfasst die Ausgabe, die damit ein breites Schaffensspektrum der Autorin von 1972 bis 2014 abdeckt.

Ein kluger Schachzug des Verlags ist es, mit "Liebe" die wohl zugänglichste von ihnen ganz an den Anfang zu stellen und zudem als Leseprobe anzubieten. Nicht nur wegen des gewaltigen Titels, sondern auch, weil sie im Vergleich mit den meisten anderen Stories trotz des tieftraurigen Grundthemas einer krebskranken Frau und der unbändigen Liebe ihres Ehemannes fast schon etwas Hoffnungsvolles ausstrahlt. Eine Hoffnung, die vielen anderen Geschichten eher abgeht. Ohnehin wirkt die Reihenfolge in der deutschen Ausgabe - wie bei einem stimmigen Album der Rock- oder Popmusik - alles andere als beliebig, auch wenn sie sich nicht an die Chronologie des amerikanischen Erscheinens hält. So kann es wohl auch kein Zufall sein, dass uns Joy Williams mit der letzten der gesammelten Erzählungen "Auswege" aufzeigt. Auswege, die Protagonistin Lizzie ergreifen möchte, die aber auch die Leserschaft mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis nehmen dürfte, denn Joy Williams' "Stories" sind alles andere als Wohlfühllektüre. Zieht man erneut die Musik als Vergleich heran, ist die Grundtonart eindeutig mehr Moll als Dur. Oder vielleicht auch eher Tschaikowsky als Händel.

Der rote Faden aller Erzählungen ist wohl die Einsamkeit der Hauptfiguren. Sei es der kleine Tommy, der in "Letzte Generation" nacheinander seine Mutter, seinen Bruder und seine beste Freundin verliert. Oder der 13-jährige Bomber Boyd in "Die blauen Männer", dessen Vater hingerichtet wurde, weil er einen Hilfssheriff und dessen Hund erschoss. Hinzu kommt eine gehörige Portion an Skurrilität, die sich in einigen Geschichten bis ins Groteske hineinsteigert, so zum Beispiel in den Dialogen zwischen Gwendal und Gloria in "Der kleine Winter" oder in der bereits kurz angerissenen Geschichte "Im Zug", in der die beiden Mädchen einem Haufen Irrer ausgesetzt zu sein scheinen. Zumindest auf den ersten Blick. Denn blickt man hinter die Fassade des Wahnsinns, offenbart sich dem Leser erneut ein zutiefst einsames Kind.

Dies ist ein Kritikpunkt, den man den insgesamt lesenswerten Stories machen könnte. Sie sind thematisch recht eindimensional. Fast überall lauern irgendwelche Abgründe, fast überall drückt die Einsamkeit der Figuren aufs Gemüt. So sind sie vielleicht eher häppchenweise als am Stück zu ertragen. Hinzu kommt, dass mich nicht alle Geschichten gleichermaßen überzeugen konnten. Während mich beispielsweise "Letzte Generation", "Die blauen Männer" oder auch "Besuchsrecht" sehr berührten, ließen mich "Rost", "Kongress" oder "Der Geliebte" eher kalt. Zentral für Williams sind jedoch immer die zwischenmenschlichen Beziehungen, die auf irgendeine Art in "Stories" durchgehend gestört sind.

Noch eine kleine Anekdote zum Schluss: Freunde seltsamer Namen und Alliterationen kommen in "Stories" ganz wunderbar auf ihre Kosten. Denn Bomber Boyd, Gloria und Gwendal sind nur der Anfang...

Bewertung vom 21.04.2023
Das Bildnis des Dorian Gray
Wilde, Oscar

Das Bildnis des Dorian Gray


ausgezeichnet

England, im späten 19. Jahrhundert: Für den Maler Basil Hallward ist der junge Dorian Gray nicht einfach nur ein Modell, das sich von ihm porträtieren lässt. Vielmehr erkennt Basil in ihm eine Art Muse, die ihn zu ungekannten Höchstleistungen antreibt. So ist es nicht verwunderlich, dass das Bildnis seine wohl beste Arbeit aller Zeiten wird. Und auch Dorian ist verliebt in sein Porträt und seine eigene Schönheit. In einem beseelten Moment äußert er den Wunsch, dass seine Schönheit und Jugend doch für alle Zeiten existieren und stattdessen das Bild altern möge. Ein faustgleicher Pakt ganz ohne Mephistopheles, aber mit ähnlich fatalen Folgen. Denn Dorian hat in diesem Moment offenbar seine Seele verkauft. Während sich nach einer unglücklich endenden Liebesbeziehung erste Falten im Porträt zeigen, erstrahlt Dorian im alten, jungen Glanz...

Oscar Wildes einziger Roman aus dem Jahre 1891 sorgte seinerzeit nicht nur wegen der zahlreichen homoerotischen Anspielungen für einen Skandal. Der Ire wurde 1895 wegen "homosexueller Unzucht" zu zwei Jahren Haft mit Zwangsarbeit verurteilt. Verarmt und gebrochen starb er 1900 im Alter von nur 46 Jahren in Paris.

"Das Bildnis des Dorian Gray" gilt als Klassiker der Weltliteratur. Seit 1901 wurde er über zwei Dutzend Mal ins Deutsche übertragen und vielfach neu aufgelegt. Braucht es also eine weitere Neuausgabe, noch dazu zu einem recht stattlichen Preis von 28 Euro? Unbedingt, wenn sie so kunstvoll illustriert ist, wie die jüngst bei Reclam erschienene Ausgabe in der Übersetzung von Ingrid Rein. Denn die Illustrationen der italienischen Zwillingsschwestern Anna und Elena Balbusso machen aus dem Buch fast schon ein eigenes Kunstwerk. Nur dass sich auf ihren Bildern glücklicherweise keine Spuren des Verfalls zeigen. Bereits das Cover deutet die Detailverliebtheit der erstmals auf dem deutschen Buchmarkt erscheinenden Künstlerinnen an. Für die Leserschaft lohnt es sich, den Blick schweifen zu lassen. Da blickt beispielsweise Edvard Munchs "Madonna" im Hintergrund gemeinsam mit Basil und seinem Freund Lord Henry Wotton, einer der wohl schillerndsten Figuren der Literaturgeschichte, auf Dorians Porträt. So kühn wie überraschend, wenn man bedenkt, dass die "Madonna" erst 1894/95 entstand - und damit vier Jahre jünger ist als Oscar Wildes Roman. Später bekommen die Bilder passend zur Geschichte nicht nur in den Farbtönen eine düsterere Note. Insgesamt entfalten die Bilder in Verbindung mit der Lektüre eine erstaunlich intensive Wirkung.

Nun ist eine Buchrezension, die sich lediglich auf die Bilder aber nicht auf den Text bezieht, wohl keine vollständige. Deshalb der Hinweis, dass sich die Lektüre des Buches selbstverständlich auch seinetwegen lohnt. Wilde fabuliert so ausschweifend und manieriert, wie seine Figuren leben. Diese Ansammlung dekadenter Dandys, die, ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer oder auf Verluste, in der Regel nichts tut und sich täglichen Vergnügungen hingibt, ist schon ein ganz spezielles Ensemble. Und während der Titel-"Held" Dorian Gray auf immer dunklere Pfade gerät, scheint die Wurzel allen Übels doch seine Freundschaft zu dem oben bereits kurz erwähnten Lord Henry Wotton zu sein. Tatsächlich bleibt Wotton dadurch als eigentlicher Antiheld in Erinnerung - und als interessanteste Figur eines insgesamt schillernden Casts. Zudem weist "Das Bildnis des Dorian Gray", anders als bei Klassikern manchmal üblich, einen veritablen Spannungsbogen auf, der bisweilen an klassische Schauergeschichten erinnert. Und letztlich weist Reclam im Klappentext nicht zu Unrecht auf die Aktualität des Werks hin. In Zeiten zahlreicher Selbstdarstellungen und dem Streben nach Jugend und Schönheit, sind wir nicht vielleicht selbst eine Gesellschaft vieler kleiner Dorians?

Die neue Reclam-Ausgabe von "Das Bildnis des Dorian Gray" ist eine hinreißend gelungene, die ich jedem ans Herz legen kann. Dem bibliophilen Bücherfreund, weil er mit ihr ein wirklich besonderes Kunstwerk seiner Sammlung hinzufügen kann. Dem Liebhaber des Romans, weil er mit den Illustrationen eine ganz neue Perspektive erhält. Und dem Erstleser ohnehin, weil es in naher Zukunft wohl keine annähernd so schöne Ausgabe wie diese geben wird.