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Adelebooks
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Bremen

Bewertungen

Insgesamt 97 Bewertungen
Bewertung vom 11.04.2024
Unlearn Patriarchy 2
Amojo, Ireti;Borcak, Melina;Boussaoud, Yassamin-Sophia

Unlearn Patriarchy 2


ausgezeichnet

Wir haben viel zu verlernen!

Was hat das Patriarchat mit Architektur zu tun? Oder unseren Körpern? Der Medizin? Mit Blick auf Unlearn Patriarchy 2 möchte man sagen: Alles! In 13 hervorragend recherchierten Beiträgen widmen sich die Autor:innen jeweils einem gesellschaftlichen Feld und arbeiten die vielfältigen intersektional wirkenden Mechanismen der Diskriminierung darin heraus. Die Beiträge verbinden sehr kurzweilig und informativ theoretische Herleitungen und betten diese in persönliche Erfahrungen der Autor:innen ein.

Was ich in den Beiträgen (abgesehen von dem Essay von Saboura Naqshband, welches sich dezidiert mit Klasse auseinandersetzt) oft vermisst habe, ist jedoch der Aspekt Klassismus und die Einsicht darin, dass die vielfältigen intersektional wirkenden Benachteilungsmechanismus letztlich oft auch zu einer sozioökonomischen Benachteiligung führen und damit eine Marginalisierung im Wirtschafts- und Sozialsystem manifestieren. So erklärt sich eine Diskriminierung im medizinischen System beispielsweise im kommunikativen Bereich eben nicht nur durch Sprachbarrieren aufgrund von einer nicht-deutschen Muttersprache. Einen ähnlichen Umgang erfahren auch Patient:innen, die aus anderen Gründen mit medizinischem Vokabular und dem System nicht vertraut sind.

Dies schmählert den Wert dieses Sammelbandes jedoch nicht merklich. Ohne Ausnahme liefern die Autor:innen wichtige Denkanstöße mit denen sich jede:r in unserer Gesellschaft auseinandersetzen sollte. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 08.04.2024
Alles gut
Rabess, Cecilia

Alles gut


ausgezeichnet

Eine kluge und berührende Lovestory über Zugehörigkeit und Diskriminierung in den modernen, politisch gespaltenen USA

Mit Alles Gut ist Cecilia Rabess ein kleines Kunststück gelungen! Vordergründig gerahmt von einer intelligenten, temporeichen Lovestory behandelt die Autorin gekonnt zentrale Konfliktlinien der Gegenwart und gesellschaftliche Ungleicheitsdimensionen aus intersektioneller Perspektive.

Jess, hochintelligent und Mathegenie, schwarz, Frau, Halbwaisin, aus der unteren Mittelschicht will mehr vom Leben, besonders aber Anerkennung, die ihr in einer noch immer zutiefst ungerechten Gesellschaft aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts und ihrer Hautfarbe zu oft verwehrt wird. Ihr vermeintlicher Schlüssel dazu, und in einem kapitalistischen System vollkommen nachvollziehbar, ist Geld, und so sucht sie sich nach dem Collegeabschluss einen begehrten Analystenjob bei Goldman Sachs. Dort fällt sie zwischen weißen, männlichen Kollegen aus gutem Haus in jeder Hinsicht aus dem Rahmen, und kämpft sich trotzdem gegen alle Widerstände durch.

Mehr und mehr fühlt sie einen Konflikt in sich, ob die lang ersehnte finanzielle Anerkennung im prestigeträchtigen Job, das ist was sie tatsächlich glücklich macht. Doch von dem was sie glücklich macht, Engagement gegen diskriminierende Strukturen, wirklich etwas ändern, kann sie nicht leben und ihren Studienkredit abbezahlen. Dazu kommen die Worte und Prägungen ihres Vaters, eines alten Bürgerrechtlers, der Jess von klein auf für Diskriminierung und den Kampf gegen Ungerechtigkeit sensibilisiert hat. Auch dies ist ein Teil von Jess, den sie in ihrem Streben um Anerkennung durch Prestige und Geld immer mehr zu verleugnen droht.

Und in diese ohnehin bereits komplexe Gefühlslage kommt auch noch Josh, der alles zu repräsentieren scheint, was Jess ablehnt. Diese Dichotomie kommt exemplarisch in den jeweiligen Parteipräferenzen von Jess (Demokraten) und Josh (Republikaner) zum Ausdruck und ist als solches auch regelmäßiger Streitpunkt zwischen den beiden. Doch gleichzeitig ist da auch mehr, etwas das beide vereint und gegenseitig anzieht.

Was ist wirklich wichtig in einer Beziehung? Haben die beiden letztlich mehr gemeinsam als sie trennt? Unbedingt herausfinden und lesen!

Alles gut ist ein kluger Roman zum Nachdenken über gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen, der Frage was unsere Identität ausmacht und eine berührende Liebesgeschichte zugleich!

Bewertung vom 06.04.2024
Geordnete Verhältnisse
Lux, Lana

Geordnete Verhältnisse


ausgezeichnet

Die Chronologie einer toxischen Freundschaft und unverarbeiteter Traumata

Einzelgänger Philipp ist zehn Jahre alt als die junge Ukrainerin Faina in seine Klasse kommt. In ihren roten Haaren erkennt er sich selbst wieder und erkürt sie zu seiner zukünftigen besten Freundin: und es gelingt! Beide Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen nähern sich an und werden enge Freunde. Doch während sich Faina nach und nach ein weiteres Umfeld aufbaut, ist Philipp vollkommen auf Faina fixiert.

Abwechselnd aus der Perspektive von Philipp und Faina erzählt, bekommen wir Einblicke in die komplexe, und das wird schnell klar, bald toxische Freundschaft der beiden, in der Faina mit Anfang 20 plötzlich schwanger vor Philipps Tür steht und Hilfe braucht.

Für mich war das Buch wie ein Rausch, so einnehmend lässt Lana Lux uns die zerstörerische Dynamik zwischen den beiden erleben und legt dabei gleichzeitig Schicht für Schicht die tiefen Traumata Phillips und Fainas frei. Dabei erzählt sie mit Faina auch eine Suche nach weiblicher Selbstbestimmung in Familie, Freundschaft und nicht zuletzt unserer Gesellschaft.

Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 02.04.2024
Mühlensommer
Bogdahn, Martina

Mühlensommer


gut

Auf dem Bauernhof sind Kinder zum Arbeiten da…

Maria freut sich auf ein entspanntes Bergwochenende mit Freunden und ihren zwei Teenagertöchtern, da holt sie ein Anruf ihrer Mutter aus allen Plänen, der Vater ist verunglückt, sie muss sofort kommen und auf dem heimischen Hof helfen. Der Kontrast zu ihrem Stadtleben als Werbeexpertin mit eigener Agentur könnte größer kaum sein. So wie sie aufgewachsen ist, findet sie auch nun den Bauernhof, mit Kühen, Schweinen, Hühnern, und der alten Mühle wieder vor. Der unverhoffte Besuch ihrer Heimat und Familie entwickelt sich immer mehr zu einer Erinnerungsreise und nicht zuletzt einem Wiederfinden ihrer Wurzeln.

Abwechselnd erzählen in Mühlensommer zum einen die junge Maria über das Aufwachsen auf dem Hof mit allen Entbehrungen, viel Arbeit, aber ebenso Freiheiten und Freuden. Und zum anderen reflektiert in der Gegenwart die erwachsene Maria über ihr Leben und was für sie Heimat bedeutet.

Das Buch überzeugt mit authentischen Einblicken in das Aufwachsen auf dem Bauernhof, Schlachtungen, Geburten und auch die Hopfenernte werden wirklichkeitsgetreu und wo angemessen humorvoll beschrieben. Sprachlich konnte mich der Roman jedoch nicht überzeugen, oft sind Formulierungen recht blumig. Vermutlich hätte eine tatsächlich autobiografische Umsetzung mehr meinen Geschmack getroffen, denn sowohl inhaltlich als auch sprachlich haben mir die Passagen am besten gefallen, in denen ohne viel sprachliche „Dekoration“ das Leben auf dem Bauernhof beschrieben wird.

Mühlensommer ist ein warmherziger, authentischer Roman über das Aufwachsen auf dem Land, der mich inhaltlich sehr angesprochen hat, jedoch sprachlich nicht ganz überzeugen konnte.

Bewertung vom 18.03.2024
Wir sitzen im Dickicht und weinen
Prokopetz, Felicitas

Wir sitzen im Dickicht und weinen


ausgezeichnet

Was Familie mit uns macht - ein berührender Roman über Mütter und Töchter, weibliche Selbstbehauptung und intergenerationale Traumata

Traurig, schmerzhaft und lebensnah erzählt Felicitas Prokopetz eine Familiengeschichte über vier Generationen. Im Fokus stehen dabei die Frauen der Familie, das Streben nach weiblicher Selbstbehauptung, dessen Auswirkungen auf Mutterschaft und nicht zuletzt die Komplexität von Mütter-Töchter Beziehungen.



Valerie ist Ende 30, alleinerziehend, ihr Sohn Tobi gerade 16, da erkrankt ihre Mutter Christina schwer an Krebs. Die seit jeher angespannte Beziehung zwischen Mutter und Tochter, wird damit einer zusätzlichen Belastung ausgesetzt. Diese Grenzsituation lässt auf beiden Seiten alte Wunden aufbrechen, Christinas frühe Verzweiflung an der Mutterrolle und einem noch immer konservativen gesellschaftlichen Frauenbild, die sich nicht mit ihrem Bedürfnis für Autonomie vereinbaren hat lassen, und Valeries Kindheitsgefühle aus daraus erlebter Vernachlässigung, Verletzung und Kränkung, die sie durch ihre Mutter aushalten musste, offenbaren so die Dysfunktionalität aber auch Komplexität der Beziehung.



In Rückblicken wird ergänzend zu Valerie zum einen die Geschichte von Christinas eigenem Aufwachsen und ihrer eigenen entbehrungsreichen Rolle als Valeries alleinerziehende Mutter erzählt. Zum anderen lernen wir auch Christinas Mutter Martha in ihrer Mutterrolle und Valeries Großmutter väterlicherseits Charlotte und deren Aufwachsen kennen.



Dabei beweist die Autorin ein Gespür für das Sowohl-Als-Auch komplexer sozialer Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern in denen Verletzungen und Glück zuweilen nebeneinander stehen.



Prokopetz arbeitet Schicht für Schicht, Generation für Generation heraus, wie die verschiedenen Frauen mit ihrer Rolle als Frau und Mutter in einem zutiefst patriarchalen-konservativen Milieu hadern. Ihr Leiden und die Unzufriedenheit, die sich daraus ergeben, bekommen viel zu oft die Töchter zu spüren. So wird deutlich wie unbewusst die eigenen Traumata in der Erziehung weitergegeben werden. Auffällig ist: jede der porträtierten Frauen ist, unabhängig ob in Partnerschaft oder nicht, weitgehend allein mit diesem Kampf um weibliche Selbstbehauptung und der Verantwortung als Mutter.



Für all dies braucht Felicitas Prokopetz nur relativ wenige Zeilen und Worte, der Roman ist mit rund 200 Seiten recht schmal. Oft finden wir nur Andeutungen in der Erzählung, nicht alle Beziehungen, Konflikte und Herausforderungen werden im Detail hergeleitet und erläutert. Für mich ist dies eine weitere Stärke des Buchs, denn die Autorin schafft es mit wenigen Worten, komplexe Beziehungsmuster herauszuarbeiten und so zum Nachdenken anzuregen. Die Leerstellen schaffen Raum für Interpretation und letztlich auch Variationen von Mütter-Töchter-Beziehungen ohne, dass dabei die Essenz der Erzählung verloren geht.

Wer eine detailreich erzählte Familiengeschichte erwartet, wird jedoch eventuell enttäuscht werden.



Wir sitzen im Dickicht und weinen lässt gekonnt und sensibel erzählt ein Familienporträt durchzogen von intergenerationalen Traumata und komplexen Mutter-Töchter-Beziehungen entstehen, das unbedingt lesenswert ist und weitere Veröffentlichungen der Autorin mit Spannung erwarten lässt.

Bewertung vom 13.03.2024
Der Baron
Schneider, Siegfried

Der Baron


sehr gut

EINE MÄNNERRUNDE ERMITTELT

Berthold Warstein steigt vor dem Lokal in dem der Geburtstag seiner Tochter gefeiert wird aus dem Auto, bricht zusammen und verblutet aufgrund einer Schusswunde. Was ist passiert? Warstein, von allen aufgrund des adeligen Ursprungs seiner Familie nur der Baron genannt, war Inhaber einer erfolgreichen Naturkosmetikmarke in Meran und Rennstallbesitzer.

Und so tauschen wir mit den Ermittlern nicht nur in seine Firmenwelt, sondern auch in die umstrittene Pferderennsportwelt zwischen Tierwohl und Profit ein.

Die Geschichte wird relativ klassisch im Stil eines (Vor-)Abendkrimis erzählt. Insgesamt gibt es relativ viele Verdächtige, die auftauchen und dann wieder ausgeschlossen werden, manchmal sind die Wendungen nach meinem Geschmack zu abrupt, ohne das wirkliche Spannung aufkommt. Die Personenübersicht zu Beginn des Buchs ist hier hilfreich, ich hätte mir angesichts der Fülle jedoch sogar noch mehr Erläuterungen dort zu den Figuren erwünscht, damit ich sie in der Handlung besser zuordnen kann. Interessant fand ich das Verhältnis zwischen Carabinieri und der Staatspolizei, welches mir bisher immer Rätsel in Italien aufgegeben hat. Mir fehlte in der ganzen Ermittlung etwas Tempo, das leider auch nicht zumindest mit schönen Landschaftsbeschreibungen „ausgeglichen“ wurde, wie bei anderen Krimis aus der Region.

Die Dynamik zwischen Terranostra (Carabinieri) und Farner (Staatspolizei) war durchaus unterhaltsam und auch innerhalb der jeweiligen Teams gab es zum Teil humorvolle Dialoge. Für mich persönlich hatte die gesamte Handlung jedoch zu viel Testosteron. Alle Ermittler, Verdächtige und Opfer im Roman sind ausschließlich Männer. Auf mich wirkte dieses Setting im Jahr 2024 seltsam aus der Zeit gefallen. Aber wir dürfen hoffen, denn es kündigt sich eine Frau im Team an.

Ein solider Krimi mit einigen überraschenden Wendungen. In der Fortsetzung hoffe ich auf mehr Meran und etwas Frauenpower.

Ich gebe solide 3,5 Sterne aufgerundet auf 4.

Bewertung vom 13.03.2024
Issa
Mahn, Mirrianne

Issa


ausgezeichnet

Von einer Suche nach Heimat und Identität zwischen zwei Kulturen, Ländern und Kontinenten

Issa ist schwanger - und ihre Mutter ist davon überzeugt, die einzige Möglichkeit um Schaden von ihr und dem Baby abzuwenden ist eine Reise in das Land ihrer Ahninnen. Zunächst in Kamerun aufgewachsen, lebte Issa ab dem fünften Lebensjahr mit ihrer Mutter und deren neuem Partner im Hunsrück. Im Jahr 2006 als erwachsene junge Frau kehrt sie nun schwanger zurück nach Kamerun, um vermeintlich notwendige Rituale zum Schutz ihrer Schwangerschaft und des ungeboren Kindes durchführen zu lassen.

Issas Reise kristallisiert sich im Verlauf immer mehr zur Identitätssuche zwischen einem Deutschland in dem sie sich mit alltäglichen Rassismuserfahrungen immer als Fremde fühlt und einem Kamerun in dem sie als vermeintlich reiche Europäerin marginalisiert wird. Ihre Reise ist damit nicht nur eine physische Erfahrung sondern auch ein Weg zu sich selbst. Entscheidend auf diesem Weg sind nicht zuletzt ihre beiden Omas und ihr eigenes Eintauchen in die Kultur und Geschichte ihrer Familie, besonders der Frauen darin.

In Rückblicken wird so neben Issas auch das Leben ihrer Großmutter Namondo, Urgroßmutter Marijoh, Ururgroßmutter Enanga und ihrer Mutter Ayudele ab dem Jahr 1903 porträtiert. Während mir die Wechsel in die Vergangenheit am Anfang etwas schwer gefallen sind, bin ich nach dem ersten Drittel komplett in den Handlungsstrang um Enanga eingetaucht und konnte gar nicht erwarten wie ihr Leben und das ihrer Tochter, Enkelin und Urenkelin bis zu Issa in der Gegenwart weiter verläuft.

Die Geschichten zeichnen nicht nur das schreckliche Ausmaß und die Auswirkungen des deutschen, britischen und französischen Kolonialismus sowie Auswirkungen der zwei Weltkriege nach, sondern auch eine Kultur in der Gewalt gegen Frauen und Kinder ebenso wie Vielehen für Männer selbstverständlich sind. Gleichzeitig sind die Porträts aber auch eine Geschichte von Selbstbehauptung und unglaublicher Stärke dieser Frauen in einer zutiefst patriarchalen Gesellschaftsordnung, in der Frau zu sein Leid und Schmerz bedeutet, wie Issas Urgroßmutter Marijoh bei jeder Gelegenheit erinnert.

Issas Rückblicke und Reflexionen auf ihr eigenes Aufwachsen in Deutschland sind ebenso schmerzvoll, offenbaren sie doch einen noch immer verbreiteten Rassismus, der ihr Aufwachsen begleitet hat und dem sie sich auch in der Gegenwart ausgesetzt sieht.

Obwohl er sich sehr gut und flüssig lesen lässt, konnte mich der Roman sprachlich nicht 100% überzeugen. Stellenweise wiederholten sich Beschreibungen, der Ausdruck ist eher einfach und umgangssprachlich. Trotzdem findet die Autorin immer wieder sehr schöne, berührende, zuweilen humorvolle Bilder.

Issa ist ein bewegender Roman über 5 Frauengenerationen einer Familie zwischen Kamerun und Deutschland, und damit auch über (deutschen) Kolonialismus, die Selbstbehauptung als Frau in einer patriarchalen Gesellschaft, über Rassismuserfahrungen als schwarzes Mädchen und Frau in Deutschland und nicht zuletzt über die Herausforderung in diesem Geflecht die eigene Identität zu verorten und sich selbst zu finden. Ein wirklich gelungenes Romandebüt, das ich gern mit 4,5 Punkten bewerte, aufgerundet auf 5!

Bewertung vom 09.03.2024
Klarkommen
Hartmann, Ilona

Klarkommen


sehr gut

Erwachsenwerden und Klarkommen in Episoden

Bruchstückhaft, in mal sehr knappen, mal längeren Episoden gibt die Ich-Erzählerin in Klarkommen Einblicke in ihr Aufwachsen in einer Kleinstadt und später dem Studium in einer Großstadt, beides gemeinsam mit ihren Freunden Munia und Leon. Die Erzählung von Ilona Hartmann lebt dabei vom Kontrast dieser beiden Welten und das Austarieren dieser innerhalb der Ich-Erzählerin.

Aus einer Welt in der Scheidungskind zu sein als Normalität gilt, es 40 Minuten mit dem Zug in die nächst größere Stadt dauert und das Auto so als Öffner eines neuen Möglichkeitsraums gilt, kommt sie in die lang ersehnte goldene Zukunft in der Großstadt, nur um dann festzustellen, dass diese in der Vorstellung viel goldener war als in der Realität, die ersehnte Selbstständigkeit plötzlich zur Erkenntnis führt, dass tatsächlich alles Geld kostet und auch das Studium ohne Vorbilder aus der eigenen Familie andere Herausforderungen bereithält.

Das Episodenhafte im Stil beschreibt so auch ein Lebensgefühl des Erwachsenwerdens in dem wir uns ausprobieren, Erfahrungen sammeln, scheitern, Erfolge und Erkenntnisse feiern und so erst Stück für Stück herausfinden wer wir eigentlich sein wollen.

Was den Roman greifbar macht, ist weniger eine konsequente Ausarbeitung der Figuren, sondern der sehr pointierte, authentische Stil in dem er erzählt wird. Es sind oft vermeintliche Belanglosigkeiten von denen berichtet wird, und doch fängt die Autorin so eine eigentümliche Stimmung ein, die die Protagonist:innen prägt. Das Gefühl eines Dazwischen, nie zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein, etwas zu verpassen, fehl am Platz zu sein - in der Kleinstadt wie der Großstadt und auch als Arbeiterkind an der Universität.

Ab und zu fehlte mir jedoch die Tiefe, die sich durch das Episodenhafte nicht einstellen wollte, vielleicht auch gar nicht soll. Trotzdem regt der Roman zum Nachdenken an, über das eigene Aufwachsen, die aufregende Zeit des ersten Auszugs, eine Zeit in der alles möglich scheint und trotzdem manchmal scheinbar nichts passiert, und auch wie Herkunft uns prägt. Dank des authentischen, manchmal fast rotzigen Stils im positivsten Sinne hat mich Ilona Hartmann zudem mehr als einmal zum Schmunzeln gebracht. Klarkommen ist ein kurzweiliger zeitgenössischer Roman für zwischendurch, den ich gern empfehle.

Bewertung vom 05.03.2024
Bella und die Böllersum-Bande
Gothe, Karin

Bella und die Böllersum-Bande


ausgezeichnet

Die Kinderrevolution der Räuberknotenbande

Bella und die Böllersumbande ist ein moderner Kinderroman im Stil der Kinder von Bullerbü. Die 10 Jährige Bella wohnt im kleinen Dorf Böllersum und ist Anführerin der wenigen dort wohnenden Kinder. Als die kleine Dorfschule auf Anordnung der Landrätin geschlossen werden soll, schmieden Bella und die Bande einen Plan und starten ihre eigene Kinderrevolution zum Erhalt ihrer Schule. Von einer lautstarken Demonstration, einer kreativen Protestaktion auf dem Marktplatz bis zur Schulbesetzung lassen die Kinder dabei kaum eine Protestform aus. Werden sie für ihr Engagement belohnt werden? Und was macht so eine fordernde Situation mit der Freundschaft der Bande?

Die Geschichte der Bande um Bella ist kindgerecht erzählt. Jedes Mitglied hat unterschiedliche Eigenschaften und auch im Familienhintergrund sind diese divers, ob Timo, der musikalisch Begabte, dessen Mutter früh verstorben ist oder Frieda, deren Vater aus Marokko stammt. Bella selbst ist ein selbstbewusstes, kluges Mädchen mit lauter Flausen im Kopf und ungemein sympathisch. Sehr schön ist die Übersicht zu Beginn des Buches, in der alle Kinder vorgestellt werden.

Ganz nebenbei werden immer wieder auch ernste Themen mit thematisiert und fließen in die Handlung ein, wie die Landflucht und das „Aussterben“ einiger Regionen oder der Umgang mit Tod und Trauer am Beispiel von Bellas Opa.

Ich hätte mir noch eine Erklärung dazu gewünscht, dass die Kinder unterschiedlichen Alters und Klassenstufen offensichtlich gemeinsam unterrichtet werden. Während dies früher üblich war, ist dies ein Konzept, das Kinder heute in der Regel nicht mehr kennen. Auch, dass Bellas Eltern angeblich schon ins Bett gegangen sind, bevor ihre 10 Jährige Tochter nach Hause kommt, ist sicher etwas unglaubwürdig, selbst in einem Kinderbuch.

Der Roman ist eher textlastig, wird jedoch ab und zu mit gelungenen Illustrationen ergänzt. Als Selbstlesealter würde ich daher unabhängig vom eigentlichen Alter des Kindes, das Buch frühestens ab dem zweiten Lesejahr empfehlen.

Bella und die Böllersumbande ist ein empowernder Kinderroman über Freundschaft mit einer starken kleinen Heldin.

Bewertung vom 03.03.2024
Heinz Labensky - und seine Sicht auf die Dinge
Tsokos, Anja;Tsokos, Michael

Heinz Labensky - und seine Sicht auf die Dinge


weniger gut

Eine nette Idee, stilistisch und inhaltlich eher schwach und wenig wertschätzend

Ein kauziger alter Mann auf seiner letzten großen Reise, die auch eine Reise in die Vergangenheit ist. Ein geheimnisvoller Brief, der an eine alte Liebe erinnert. Eine Busfahrt, die zur Erinnerungsreise an ein ganzes Leben wird, wie sich herausstellt, mit gar nicht zu gewöhnlichen Erlebnissen. So gut, so vielversprechend klingen die Ausgangsbedingungen des Romans.

Mich konnte der weitere Verlauf und die Umsetzung jedoch leider nicht überzeugen. Sowohl inhaltlich als auch stilistisch war mir insgesamt zu viel gewollt an Heinz Labensky.

Im Dialog mit Mitreisenden lernen wir auf einer langen Busreise von Erfurt nach Warnemünde, Labensky und sein Leben, und so vermutlich die Intention der Autoren, auch ein wenig die DDR kennen. In erster Linie ist dies jedoch ein Bild, wie offensichtlich die Autoren auf die DDR blicken. Auf den ersten Seiten hatte der Wohnort Labenskys in Erfurt mein Interesse geweckt, nur um dann festzustellen, dass das Autorenteam wohl nie am Bahnhof in Erfurt war, wenn sie von unten einfahrenden Zügen schreiben, während in Erfurt die Bahnhofshalle unterhalb der Gleisen liegt, die Züge somit oben fahren, und auch der Busbahnhof ganz anders angeordnet ist als im Roman. Auch die übrigen Anekdoten um Bernsteinzimmer, die RAF, etc. konnten mich nicht wirklich erreichen und wirkten bewusst konstruiert, um geschichtliche Personen und Ereignisse einfließen zu lassen.

Die Charakterisierungen und Beschreibungen Labenskys wirkten auf mich überzeichnet und nicht besonders wertschätzend. Die vielfachen Rezensionen und der Klappentext, die darin eine warmherzige Darstellung sehen, sind für mich leider nicht nachvollziehbar. Da schreibt ein Autor, der selbst auf dem Buchtitel Wert auf seine akademischen Titel legt, über seinen Protagonisten dieser sei gripsmäßig so hell wie ein Tunnel. Falls das komisch sein soll, ist es leider nicht mein Humor. Insgesamt wird ein Klischee eines alten, leicht verwahrlosten, eigenbrötlerischen Mannes, grau in grau, entworfen und das nicht aus einer emphatischen, zugewandten Haltung heraus, sondern von oben herab, zu humoristischen Zwecken - der kauzige alte Ossi, der zeigen soll, dass man im Osten ja doch was erleben konnte, auch wenn er gripsmäßig eher so hell wie ein Tunnel ist.

Auch stilistisch konnte ich mit den vielen seltsam gestelzten Bildern und Vergleichen, wie etwa - schwitzt wie Pudding beim Picknick - wenig anfangen.

Ich habe gerade zwei hervorragende Romane, von Constanze Neumann und Sabine Rennefanz gelesen, die sich thematisch mit der DDR auseinandersetzen. Dagegen war im Vergleich Heinz Labensky leider eine Enttäuschung.