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Benutzername: 
Ninis_weltderbuecher
Wohnort: 
Viernheim

Bewertungen

Insgesamt 35 Bewertungen
Bewertung vom 05.09.2022
Lügen über meine Mutter
Dröscher, Daniela

Lügen über meine Mutter


ausgezeichnet

'Eine Millionen solcher Herzen'

Alles wird in diesem autofiktionalen Roman ausgezogen - voll ehrlicher Energie wird die Familie nach innen wie nach außen nackig gemacht. Wow!
Daniela Dröscher erzählt mit einer klaren, äußerst nüchternen Sprache, die sich robust gegen aufkeimende Gefühlswallungen stemmt, ohne dabei das Feingefühl für das Zwischenmenschliche zu vergessen.

Was passiert mit Kindern, die einem falschen, demütigend diskriminierenden Bild von der eigenen Mutter ausgesetzt sind, die ein in sich selbst gefangener Vater mit steigender Dosis in die Familie injiziert. Solche Spritzen in die Blutbahnen des Kindes lassen dessen Blut mutieren und den eigenen Blick auf die Mutter in die Katakomben seiner Gefäße verschwinden. Das Kind schaut auf die Mutter mit den Augen des Vaters. Wie findet man da raus, ohne ein liebendes Elternteil zu verschmähen? Auf diesen Weg nimmt die Autorin Leser*innen in einem beeindruckend selbstreflexiven Ton mit, der die Zwänge in unsere Gesellschaft beispielhaft auf die Schippe nimmt.
Mutiertes Blut bleibt unverrückbar verändert, dennoch bleibt die Möglichkeit anzunehmen, dass das Gute und Böse beider Elternteile nebeneinander in deinem Blut unaufgeregt, flatterfrei fließen dürfen. Ein wertfrei Verständnis suchender Blick auf all das, was war, ermöglicht den Ballast, der in die steckt, zu verlieren. Dann bleibt in Dir nur, was Dich ausmacht, was Dich nährt, was dich beschützt - nicht mehr und nicht weniger!

"Mit dieser Umarmung hatte es begonnen, dachte ich. Mit dem Gefühl, dass meine Mutter ihr gab, genauso wie mir: dass egal, was passiert und wie falsch alles zu sein scheint auf der Welt und den Menschen, alles schon wieder gut gehen würde." (438)

Was kann ein menschliches Herz mehr geben? Mehr braucht es von Jenen!

Ganz klar zurecht nominiert für den @buchpreis
2022 (Longlist)

Bewertung vom 02.09.2022
Ingeborg Bachmann und Max Frisch - Die Poesie der Liebe / Berühmte Paare - große Geschichten Bd.3
Storks, Bettina

Ingeborg Bachmann und Max Frisch - Die Poesie der Liebe / Berühmte Paare - große Geschichten Bd.3


schlecht

Dieser Roman ist zweifelsohne sehr gut recherchiert, aber er war leider der allererste den ich in diesem Jahr nicht beendet konnte - nicht wollte. Es schnürte mir teilweise die Kehle zu, wie eine so flach gehaltene Sprache über eine Jahrhundertwortkünstlerin erzählen kann. Selbst wenn die Liebe von Max Frisch und Ingeborg Bachmann im Zentrum steht, sind beide Literaten, denen meiner Meinung nach, mit einer raffinierten Sprache begegnet werden müsste. Dem wird die Autorin nicht gerecht. Es stolpern Sätze in kürzester Knappheit durch die Seiten, die in größter Geschwindigkeit leicht aufkeimende Stimmungen die Kellerttreppe hinunter purzeln lassen. Narratologisch wird den Leser*innen alles auf dem Präsentierteller entgegengereicht, keine Spurensuche wird ihm geduldet. Einfach Schade, diese Umsetzung lässt nicht das `Zu-Hause-Sein in der Poesie' einer Ingeborg Bachmann erstrahlen.

Bewertung vom 01.09.2022
Jahre mit Martha
Kordic, Martin

Jahre mit Martha


sehr gut

Im morgendlichen Bewegungsrausch auf der Heidelberger Neckarwiese, den Blick stets in Wasserrichtung gehalten, entdeckte ich am Flussufer zwei sich tragende Menschen und erhaschte vom Wind, die mir zugetragenen Wortfetzen ihrer lächelnden Stimmen. Ungefragt drückte mich der Wind in ihre Richtung, uneingeladen nahm ich neben ihnen Platz. Ungezwungen stellten wir uns freundlich vor und spürten in einem Moment des Gleichklangs die verträumt gehaltvolle Zauberkraft dieses Ortes. Zeljko nahm meine Hand und begann mit intimer Leidenschaft seine Geschichte im Land Deutschland zu erzählen.
@martinkordic belebt diese Ich-Erzählstimme mit einer plastisch gefühlvollen Einfachheit, die sich selbst immer wieder im Spannungsfeld von kraftvoll-impulsiven als auch verletzt-zärtlichen Elementen aufreibt.
Martha hingegen erhob sich und lief in den Dunst des Nebels hinein - es schien, als würde sie die Wolken ausfüllen. Immer tiefer horchte ich voller Ehrfurcht in 'Jimmy' hinein, konnte bewegt nachspüren, dass Marthas Wohnort tatsächlich sinnbildhaft die Wolken waren, die voller Sog entschieden, ob Jimmy nass oder trocken blübe. Ein Sinnbild für ein Sozialgefälle, für eine ungerechte Bildungsmaschinerie, für all das, was in unserem Land an Chancenungleichheit regnen kann, hältt hier mit dramaturgisch glasklarer Leichtigkeit die bewegende Stimmung der Geschichte zusammen.

Definitiv werde ich nach dieser Lektüre Chips mit Ketchup probieren

Bewertung vom 14.08.2022
Die Wunder
Medel, Elena

Die Wunder


gut

"Um den Mangel an Geld'

In einer semi-begeisterten Sitzposition bleibe ich schnaufend zurück: ein starkes, wichtiges Thema erzählt mit wenig flüssig kongruenter Komposition - da sind scharfe Kanten im Gefüge, an denen man sich neugierig schneidet, doch sucht man vergeblich nach Ecken, um die man zwinkernd blickend gehen möchte.
Mit schwankend harten Wechseln zwirbeln sich an manchen Stellen Dialoge an Dialoge, die hin und wieder aufgebaute Stimmungen in seine Einzelteile zermalmen. Ein quietschender Schreibstil, der nach einer Ölung lächzt, findet sich - eine Sogwirkung verhindernd - in beiden der Frauenerzählstimmen. Allein Alicias Stimme verliert mit der Zeit ihre verlangsamende Holprigkeit, spielt mit Perspektiven und lässt die Seiten mit vernarrter Lebendigkeit sowie demonstrativer Direktheit, die mit viel Wut bestreuselt ist, sich fortlaufend umblättern.

Das real gehaltene Ende, in aufrüttelnder Manier die Emanzipation von Maria mit all ihren Entbehrungen darstellend, verblüfft mit einem fast schon nicht mehr zu erwartenden harmonischen Triangelspiel aus Sprache, Inhalt und Szene. Trotz all der unausgegorenen Umsetzung ist der Roman von 'Die Wunder' von Elena Medel - übersetzt von #susannelange - eine lesenswerte Geschichte, dessen Kraft in der botschaftlichen Ehrlichkeit zu sich selber liegt - Glück krallt sich im Spannungsfeld zweier sich gegenüber stehender Pole an alles, ganz besonders an die Zufriedenheit, die vom Mangel und vom Überfluss an Geld fesselfrei durch die Räume schlurft.

Bewertung vom 08.08.2022
Der Geruch von Wut
Clima, Gabriele

Der Geruch von Wut


ausgezeichnet

Der Roman 'Der Geruch von Wut'- übersetzt von #barbaraneeb und #katharinaschmidt - erzählt Alex Weg auf der Wutstraße am Rande des verunreinigten Flusses - geblendet vom Licht, sich der windigen Luft gegen stemmend auf der Suche nach einem Ventil. Die Dinge sind für Alex und seine Mutter nach dem Autounfall, bei dem sein Vater ums Leben kam, in einem anderen Zustand. Im Wirrwarr seiner Gedanken lokalisiert er den Fahrer des anderen Wagens als den Schuldigen. Um seine eingeschweißte Wut entladen zu können, schmeißt er sich den "Black Boys" an den Hals und es beginnt eine gewollte, eisig glatte Schlittenfahrt in den Abgrund.

@gabriele_clima kann es einfach - diese gewinnbringenden, zum Nachdenken anregenden, unter die Haut gehenden Jugendromane für Jung und Alt zu schreiben.
Er schafft hier Dreierlei:
Erstens deckt er die Ader der rassistisch ideologischen Lügenmechanismen auf: Wie rekrutiert man Menschen mit Märchengeschichten?:

"Verpass den Leuten Doping, Alex, mach sie wütend, bring sie auf hundertachtzig. Und dann gibst du ihnen einen Grund wütend zu sein." 99/100

Zweitens transportiert er die klare Botschaft, dass die Verbreitung von rassistischem Gedankengut ganz klar ein Dealen mit toxischen Substanzen ist.
Drittens reinigt er einfühlsam mit dramaturgischer Raffinesse die Wutstraße, die zum Ende im Glanz darin erstrahlt, dass Dinge einfach so geschehen, dass Zustände sich so oft ungefragt einfach nur um einen Zentimeter verschieben.

Die facettenreich unbekannte Verwurzelung der Charaktere sowie die in den Glassplittern schlummernden Tatsachen erzeugen Spannung und kitzeln mit Fingerspitzengefühl an der Empathiefähigkeit des Lesers. Alex Mutter hat so recht mit ihrer Botschaft, dass es nicht darauf ankommt, ob man helfen kann oder nicht, sondern einfach da zu sein, beizustehen in Abschnitten, die in ihrer Konsequenz nicht alleine zu überwinden sind.