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Benutzername: 
iGirl
Wohnort: 
Bad Nauheim

Bewertungen

Insgesamt 147 Bewertungen
Bewertung vom 27.09.2022
Lukusch
Heisenberg, Benjamin

Lukusch


sehr gut

Muss jeder Schachzug logisch sein?

Alles beginnt in den 80er Jahren nach der Katastrophe in Tschernobyl. Anton und sein Freund Igor kommen als Kinder von Tschernobyl nach Deutschland. Schnell entpuppt sich der sensible Anton als unschlagbarer Schachspieler und gewinnt an Popularität, die bis zu einem Spiel gegen Bundeskanzler Helmut Kohl reicht. Igor hingegen ist eher grobschlächtig und doch der enge Schatten Antons. Alles deutet auf eine telepathische Verbindung zwischen den beiden ungleichen Jungen hin und einige Untersuchungen scheinen das zu bestätigen. Doch dann wird Anton zurück in die Ukraine geholt und plötzlich ist er verschwunden. Keine Spur führt mehr zu ihm – bis Jahre später ein grobschlächtiger sensationeller Schachspieler aus der Ukraine auftaucht, der stark an Igor erinnert. Nun beginnt Simon Ritter mit Nachforschungen, da Anton ehemals bei Simons Familie in Deutschland untergebracht war.

Das Buch ist sehr ansprechend aufgemacht. Bereits das Cover erinnert an die Zeiten, als Beschriftungen noch mit der Stanzmaschine gemacht wurden. Fast hat man das Gefühl man könne mit den Fingern über die Stanzstreifen fahren, um die erhabenen Buchstaben zu fühlen. Im Inneren des Buches wird man mit zahlreichen Bildern von Artikeln, Briefen, Fotos, Arztbericht usw. überrascht, deren Inhalte geschickt in den Verlauf der Spurensuche eingebaut werden. Unklar blieb es für mich, an welchen Stellen sich tatsächliches Geschehen mit dichterischer Freiheit um die beiden Lebensgeschichten Antons und Igors verbindet. Dazu wurden sogar einige Fotos geschickt 'überarbeitet', um dem erzählerischen Rahmen die erforderliche Gestalt zu geben. Sehr gut gelungen sind die Rückblenden in die 80er Jahre, die einen Einblick in den vorherrschenden privaten und politischen Zeitgeist erlauben. Stellenweise fand ich es jedoch nicht leicht dem erzählerischen Faden des Autors folgen zu können da teilweise sehr abrupt Thema und Figuren wechseln.

Dennoch ist 'Lukusch' ein interessantes Buch, das jede Menge Raum zur Interpretation und die Grenzen zwischen Biografie und Fiktion perfekt verschmelzen lässt.

Bewertung vom 13.09.2022
Die Welt kippt
Tschischwitz, Heiko von

Die Welt kippt


ausgezeichnet

Die Zukunft der Welt

Gleich zu Anfang geht’s mächtig zur Sache – Attentat und Tote. Rund um die Welt geht es zu einem brandaktuellen Thema: der Klimakrise. Politiker verschiedener Länder spielen im Machtspiel mit und natürlich geht es dabei immer um das liebe Geld. Wer profitiert, wer ist schneller als der andere, wer bekommt das größte Stück Kuchen ab und wer schafft die größten Abhängigkeiten. China steht dabei vorne in der ersten Reihe und versteht es durch seine langfristigen Planungen den Weg vorzugeben. Der Roman bietet eine vielleicht möglichen Lösungsansatz, doch zu welchem Preis. Genau daran zerbricht die junge Protagonistin und Klimaaktivistin Tessa.
In einer rasanten Reise durch die Welt begleiten wir, als Lesende, die Schachzüge von Politikern und der Finanzmagnatin Shannon, deren aller Interessen nach und nach ans Licht kommen. Auf ein Menschenleben hin oder her scheint es dabei nicht anzukommen. Das Ende der Geschichte scheint möglich, wenn auch nicht komplett logisch und einiges bleibt zum Schluss leider offen, was der gesamten Story aber keinen Abbruch tut.
Für mich war die Reflexion auf das eigene Wertesystem interessant. Die Vorteile für ein demokratisches System liegen auf der Hand und doch können sie gute, zielgerichtete Entscheidungen gerade durch ihre systemeigene Struktur verhindern. Wenn es allerdings um das Thema Menschenrechte geht, dann hört bei mir das Verständnis auf, hier sind wir, meiner Meinung nach, ohnehin schon am Ende der Fahnenstange angekommen. Insofern konnte ich die Gedanken und Entscheidungen der Protagonistin durchaus nachvollziehen.

Mein Fazit: ein spannend geschriebener Roman der zum Nachdenken über das eigene Verbrauchsverhalten, über Werte und über das genaue Hinsehen bei politischen Entscheidungen anregt.

Bewertung vom 08.09.2022
Der Klang der Erinnerung
Browning Wroe, Jo

Der Klang der Erinnerung


ausgezeichnet

Schrecken und Schönheit des Todes

Was für eine heftige Geschichte, voller Gefühl, voller Missverständnisse, voller Musik, Freundschaft, Liebe, aber auch dem immer gegenwärtigen Tod. William ist ein besonderer Junge, der viel zu früh seinen Vater verliert, dem der Zufall eine unvergleichliche Singstimme verliehen hat und der an den Schatten seiner Vergangenheit schier zu zerbrechen droht. Gerade als er, den für die Familie typischen, Beruf des Einbalsamierers ergreift werden Freiwillige gesucht, um nach einem Haldenrutsch in Aberfan mit über 140 Toten, zu helfen. William meldet sich spontan dafür und erleidet dabei eine schwere Traumatisierung, die zusammen mit den Verletzungen aus seiner Jugendzeit, sein künftiges Leben bestimmen. Wir Lesende begleiten die Lebensgeschichte während einer Zeitspanne von den späten 50ern bis in die 70er Jahre.

Hinter diesem, etwas langweiligen, Buchcovers hätte ich niemals ein so intensives Leseerlebnis vermutet. Jo Browning Wroe ist mit ihrem Romandebüt etwas Beeindruckendes gelungen, so dass ich immer wieder am Zweifeln war, wie es einem Schriftstellerneuling gelingen kann so perfekte Sätze zu formulieren. Fern von jeglichem Pathos liest sich die erschütternde Geschichte Williams und seines Umfelds. Erwartet hatte ich eher, dass Themen zur unsäglichen Trauer der Eltern die ihre Kinder verloren haben, zu Homosexualität, zu typischen Vorfällen im Knabeninternat und einigen fiesen Charakteren literarisch ausgeschlachtet werden. Stattdessen wurde ich überrascht durch eine durchwegs wertschätzende, respektvolle Sprache, die wirklich jeder Figur in ihrer Handlung die nötige Achtung entgegen bringt; ja selbst die Schilderung des Schreckens nach der Katastrophe in Aberfan in eine angemessene Sprache fasst und dadurch den betroffenen lebenden und toten Menschen Würde verleiht.

Mein Fazit: Chapeau für dieses Debüt! 'Der Klang der Erinnerung' wird einen Ehrenplatz in meinem Bücherschrank erhalten.

Bewertung vom 06.09.2022
Die Stimme meiner Schwester
Vieira Junior, Itamar

Die Stimme meiner Schwester


ausgezeichnet

Willkür, Stärke und Magie in sprachlichen Bildern

Heftig geht es gleich los in der Geschichte – die Unvorsichtigkeit zweier Schwestern und das Spiel mit dem Messer kostet einer der beiden die Möglichkeit zu sprechen. Bibiana übernimmt von nun an für die zungenlose Belonisia zu sprechen. So entsteht eine enge Bindung der beiden Schwestern und doch schlagen beide im Heranwachsen völlig unterschiedliche Wege ein. Trotzdem ihre Schicksale verschieden verlaufen verbindet sie eine Gemeinsamkeit: der Wille zur Unabhängigkeit, zum sich-nicht-beugen-lassen, zum Kampf.

Dem Autor ist eine bedrückende, nachdrückliche, beeindruckende und vor allem bedeutende Geschichte gelungen. Er erzählt in seinem nahe gehenden, in meinen Leseaugen, hervorragenden Schreibstil die Geschichte der schwarzen ehemaligen Sklaven Brasiliens. Dabei wählt er die Geschichte einer Familie, die über mehrere Generationen reicht. Der jahrzehntelangen Ausbeutung und Demütigung durch die Großgrundbesitzer steht absoluter Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Aberglaube und Geisterzauber der betroffenen Menschen entgegen. Wir als Lesende erhalten einen Einblick in ein Leben geprägt vom Überlebenskampf, bedingt durch Trockenheit, geringe Ernte, körperliche Übergriffe, Gewalt, Repressalien und Willkür der Landbesitzer. Aber wir lernen auch eine Welt der Geister, der Naturheiler, der Mystik kennen und ebenso die ungewöhnliche Gedankenwelt der hauptsächlich weiblichen Protagonistinnen.

Itamar Viera Junior und Barbara Mesquita (Übersetzerin) zeichnen sprachliche Bilder. Es fiel mir leicht die Protagonistinnen deutlich vor mir zu sehen, mich in sie hinein zu versetzen. Zwar konnte ich nicht jedes Gedankenkonstrukt nachvollziehen, jedoch war ich unglaublich beeindruckt von der Stärke der unbeugsamen Frauen und ihrer Willenskraft. Da können wir uns in der westlichen Welt noch eine große „Feministinnenscheibe“ abschneiden.

Mein Fazit: Chapeau für ein hervorragendes Erstlingswerk. 'Itamar Vieira Junior' werde ich mir merken – ich freue mich schon auf sein nächstes Buch!

Bewertung vom 06.09.2022
Das Glück auf der letzten Seite
Bonidan, Cathy

Das Glück auf der letzten Seite


ausgezeichnet

Hommage an das Briefeschreiben

Dieses Buch ist richtig gut und wahrlich eine Erinnerung an die vergessene Kunst des Briefeschreibens. Es geht um ein verlorenes und zufällig von der richtigen Person, der Verlegerin Anne-Lise, gefundenes Manuskript. Sie und ihre beste Freundin Maggy begeben sich auf die detektivische Spurensuche nach dem Autor und der Person, die dem Manuskript ein Ende hinzu gefügt hatte. Denn der Inhalt ist eine ganz besondere Erzählung mit der Fähigkeit Menschen, die sich verloren glaubten, wieder zu vereinen. Wir Lesende verfolgen die Suche nach dem Ursprung des Manuskripts anhand des wunderbaren Briefwechsels der handelnden Figuren.

Ich habe lange kein Buch mehr so gerne gelesen. In jedem einzelnen Brief des Buches werden Gedanken und Gefühle der Protagonist:innen in wohl gewählte, ausgefeilte Worte, Ironie und Sätze, gebunden, von denen man einige vermutlich seinem Gegenüber eher nicht persönlich sagen würde. Und wer verwendet heute noch ein Postskriptum? Dieser spezielle Briefwechsel erzeugte für mich einen ganz speziellen Lesezauber, wenn auch nur als 'Über-die-Schulter-Gucker', also als Mitlesende der Briefe, die nicht an uns Lesende als Empfänger gerichtet sind. Wie gerne wäre ich eine Figur der Mitschreibenden gewesen, hätte mit gegrübelt, gefiebert, gelacht, gelitten, gehofft und geschrieben.

Mein Fazit: Der Autorin und ihrer Übersetzerin ist ein verzaubernder Briefwechsel, gebunden in einem Buch, gelungen. Wie wohl es tut aus dem Stakkato der Kurzsätze der Social-Media-Sprache einzutauchen in eine Welt des knisternden, hochwertigen Briefpapiers beschrieben mit Sätzen voller Gefühl.

Bewertung vom 24.08.2022
Die Buchhändlerin von Paris
Maher, Kerri

Die Buchhändlerin von Paris


ausgezeichnet

Paris und seine starken Frauen

Bereits das Cover, das ich richtig schön finde, führt uns Lesende in das Paris der 20er-Jahre. Sylvia Beach kommt nach Paris und erkennt im Buchladen Adriennes das Fehlen englischsprachiger Literatur. Damit beginnt ihr Weg zu einer eigenen Buchhandlung, einer intensiven Beziehung zu Adrienne und einem Kampf um ein Ziel und eine Überzeugung: die Veröffentlichung des verpönten Werks von James Joyce: „Ulysses“.

Die Autorin zaubert in ihrem Roman ein tête-à-tête mit den großen englischsprachigen Literaten des 19-ten Jahrhunderts (Beckett, Pound, Williams, Hemingway etc) auf Papier. In Ihrer Buchhandlung geben sich diese und natürlich die Hauptperson, James Joyce, die Klinke in die Hand. Nicht zuletzt steht der Umgang mit gleichgeschlechtigen Beziehungen dieser Zeit im Fokus der Geschichte, als bekannte Vertreterin tritt hier Gertrude Stein auf.

Die biografischen Elemente finde ich gut in der Erzählung verpackt. Der professionelle Schreibstil lebt von seinen, für meinen Geschmack teils etwas langen, Dialogen. Die Erzählung fühlte sich mich mich manchmal etwas zu distanziert an, was aber auch an der Übersetzung liegen könnte. Dadurch fiel es mir schwer eine Beziehung zu den Protagonist:innen aufzubauen, um ihnen quasi beim Lesen über die Schulter zu schauen.

Mein Fazit: Der Roman bietet eine Reise durch die Welt der großen englischsprachigen Schriftsteller des 20-ten Jahrhunderts und einen Einblick in die schillernde Pariser Boheme. Das Buch ist zwar nicht durch Spannung geprägt, aber durch eine schlüssige Erzählung mit starken Frauenfiguren und jeder Menge literarischen Wissensaufbaus.

Bewertung vom 20.08.2022
Isidor
Kupferberg, Shelly

Isidor


ausgezeichnet

Bilderbuchaufstieg und Naziwahnsinn

Dieses Buch ist eine weitere beeindruckende Lebensgeschichte einer facettenreichen Person mit jüdischen Wurzeln. In ärmlichen Verhältnissen, als Ignaz, in Galizien gestartet, gelingt der Aufstieg zu Isidor, einem Mann mit Einfluß und Vermögen, einem Mitglied der Wiener High Society und seiner Beziehung zu einer später bekannt gewordenen Sängerin und Schauspielerin. Das klingt nach einer wunderbaren Lebensgeschichte, wären da nicht die dunklen Zeiten des Nationalsozialismus mit der gnadenlosen Verfolgung von jüdischen Menschen.
Der Autorin und Nachfahrin Isidors ist es auf ihrer Spurensuche gelungen, den Charakter und Teile des Lebenswegs Isidors sprachlich nachzuzeichnen. Ohne Pathos und dennoch nahegehend schildert sie Aufstieg und Fall ihres Vorfahren Isidor und auch ihres eigenen Großvaters Walter, der im Haus seines Onkels Isidor in den 30er Jahren ein und aus ging. Einem Haus voller Kultur, Kunst und Intellektualität.
Obwohl das Grauen der Vorkriegszeit, der Kriegszeit mit all ihren perversen Auswüchsen hinlänglich bekannt ist und es zahlreiche Bücher und Erzählungen dazu gibt, hat mich diese besondere Lebensgeschichte betroffen gemacht. Es ist für mich schwer nachvollziehbar, dass die verfolgten Menschen so lange blieben und hofften, die Zeit der Nazis schnell wieder vorbei. Ich finde die Erkenntnis immer wieder erschütternd, dass Menschen, die Schulkameraden, Nachbarn, Mitarbeiter, Kollegen, Kunden der jüdischen Menschen waren, diese Menschen also gut kannten, dennoch in der Lage waren diese zu verraten, sich zu bereichern oder sogar selbst zu schikanieren oder sich zumindest daran zu beteiligen. Wo sind denn diese Leute nach dem Krieg alle geblieben und haben sie ihren Kindern auch von sich und ihrem Verhalten erzählt und vielleicht stolz die gestohlenen Wertsachen weiter vererbt? Irgendwo werden Isidors Schätze ja noch sein.

Mein Fazit: „Isidor“ ist ein Buch das anregt zum Nichtvergessen, das mich als Leserin nachdenklich zurück lässt, aber auch mit dem Gedanken: „wehret den Anfängen“. Von mir daher eine absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 14.08.2022
Findelmädchen
Bernstein, Lilly

Findelmädchen


ausgezeichnet

Drei Murmeln der Hoffnung

Toll und voller Gefühl geschrieben! Ein schreckliches Schicksal für das Geschwisterpaar Helga und Jürgen nach dem Krieg, gefolgt von einem frohen Intermezzo bei der Pflegefamilie in Frankreich und dann kommt die unglaubliche Nachricht, dass der im Krieg vermisste Vater doch noch lebt. Was für ein Glück. Doch nach der Rückkehr nach Köln entwickelt sich alles anders als gedacht. Der Wahnsinn des Krieges mit allen seinen Nachwirkungen wirft seine unheilvollen Schatten auch 10 Jahre nach Ende noch über die Protagonist:innen.

Helga ist die Hauptprotagonistin der Geschichte. Wie Helga, gerade mal 16 Jahre alt, alles aushalten kann, was ihr und ihren Lieben passiert, und immer noch von einer

Bewertung vom 05.08.2022
Die Nachricht des Mörders / Fräulein vom Amt Bd.1
Blum, Charlotte

Die Nachricht des Mörders / Fräulein vom Amt Bd.1


ausgezeichnet

Man muss nur die richtige Verbindung herstellen!

Da ist den beiden Autorinnen ein wunderbarer Krimi gelungen, den man nur ungern aus der Hand legen mag. Die Stadt der Casinos und des Glückspiels, Baden-Baden, bietet die Kulisse zu zwei Frauenmorden Anfang der 20er Jahre. Dabei sind die Protagonist:innen jede auf ihre Weise besonders. Alma, das Fräulein vom Amt, wohnt mit ihrer lebenslustigen Freundin Emmi 'unterm Dach' bei einer strengen Zimmerwirtin, die jede Kleinigkeit, was in und um ihr Haus vorgeht, genauestens beobachtet und reklementiert. Und natürlich brauchen zwei junge Frauen auch Männer – die Auswahl ist wahrlich groß. So kommen der angehende Kommissar Ludwig Schiller und Almas Cousin Walter ins Spiel. Ein Telefonat, das Alma an ihrem Arbeitsplatz zufällig mithört bringt die Geschichte ins Rollen. Sie kombiniert richtig und vermutet den Mörder hinter dem Anruf. Und so beginnt eine wahre Hatz durch die Welt der Casinos, Pferderennbahnen, Nachtclubs und Etablissements auf der Suche nach dem Mörder.

Der Roman, oder besser Krimi, ist hervorragend geschrieben, die Handlung ist vollständig nachvollziehbar und schlüssig, bis zum Ende bleibt unklar wer der Täter und dessen Hintergründe sein könnte – die Lösung ist ein echter Paukenschlag.
Ich habe die Protagonist:innen und auch die Nebenfiguren lieben gelernt. Jeder einzelne Charakter hat seine besonderen Facetten und ist so bildhaft geschildert, dass man die Figur direkt vor sich sieht. Spritzige Dialoge und viele kleine witzige Begebenheiten machten das Buch für mich zu einem echten Lesespaß. Gut gefallen hat mir das Frauenbild. Keine der weiblichen Hauptfiguren erfüllt die typische Rolle der 20er-Jahre-Frau. Vielmehr sind die Frauen im Roman mutig, reflektiert, intelligent und lebenslustig, wissen was sie wollen und machen es dann auch.

Mein Fazit: 'Fräulein vom Amt' ist eine klasse Lektüre mit Garantie zum Abschalten, geeignet für ein Geschenk an sich selbst oder an Freund:innen des besonderen Krimis, abseits von den heute so weit verbreiteten coolen, problembehafteten Ermittelnden. Von meiner Seite aus daher eine absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 28.07.2022
Die Wunder
Medel, Elena

Die Wunder


ausgezeichnet

Die Gedankenwelt der Frauen

Einfach zu lesen ist dieses Buch auf jeden Fall nicht. Es gestattet keinen Moment des Unaufmerksamseins – jedem Satz kommt eine besondere Bedeutung zu, auch jenen, die sich scheinbar zusammenhanglos aneinander reihen. Ihre Bedeutung findet man oft erst später, an anderer Stelle wieder. Die Handlung spielt in Kapiteln in einem Zeitfenster von 1969 bis 2018. Zwischen Maria, der Großmutter und Alicia, der Enkelin gibt es noch Carmen, die der Grund ist, dass Maria Ende der 60er Jahre ihr Dorf verlässt. Seltsam distanziert ist Maria gegenüber Carmen, vielleicht auch verständlich, da sie sie als Kind bei Verwandten zurücklässt. Alicia erscheint mir egoistisch und stellenweise sadistisch, vermutlich traumatisiert durch den Selbstmord des Vaters. Ihre Gefühlswelt und auch ihr Werdegang, trotz ihrer hohen Intelligenz, waren für mich nicht einfach nachvollziehbar. Beide Frauen bleiben in ihren beruflichen Möglichkeiten weit zurück und begeben sich in die Obhut eher unscheinbarer Männer. Das Zusammentreffen von Großmutter und Enkelin gegen Ende des Buchs kam plötzlich, unerwartet und leider nur kurz zustande. So bleibt bei mir die Hoffnung nach einer Fortführung der Begegnung zurück.

Als Lesende fühlte ich mich durch den Text getrieben. Beeindruckt hat mich die Erzählung der keineswegs eindeutigen Handlung, die sich aus einer Mischung aus Ereignis und Gedankenfetzen der Protagonistinnen bildet. Immer geht es dabei um Frauengedanken, um den eigenen Körper, den Sex, die Männer, die Ehe, die Kinder, die Arbeit, Ideale, Ängste, Träume und Alltag. Die Frauenfiguren finde ich stark, emanzipiert und den Widrigkeiten und Zwängen gesellschaftlicher Anforderungen an 'die Frau' trotzend. Die Geschichte ist imponierend und hervorragend übersetzt. Die Gefühle der Protagonistinnen Maria und Alicia wirken auf mich durchaus authentisch – welche Frau hatte nicht auch schon einmal ähnliche Gedanken!

Mein Fazit: 'Die Wunder' ist keine einfach zu lesende Literatur, aber die geübte Leserschaft wird der Roman aufgrund seiner Tiefgründigkeit begeistern.