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Ännie

Bewertungen

Insgesamt 77 Bewertungen
Bewertung vom 27.05.2021
Letzte Ehre
Ani, Friedrich

Letzte Ehre


ausgezeichnet

Aufwühlend und anspruchsvoll

Ein Fall, der Fariza Marie Nasri hart anpackt: ein verschwundenes junges Mädchen, nach einem Wochenende im Haus des Lebenspartners ihrer Mutter fehlt von Finja jede Spur. Besagter Freund ist ihr nicht geheuer, sie spürt das irgendetwas nicht stimmt, forscht nach, stößt auf einen Zwischenfall in einem Lokal mit einer Frau und gräbt immer tiefer und tiefer in Abgründe. Dabei gerät sie so tief, dass sie sich fast selbst verliert, mindestens taumelt und schwankt, in ihrer nach wie vor unsicheren Position bei der Kriminalpolizei München nach ihrem Exil in der bayrischen Provinz. Dann trifft sie noch ein persönlicher Schlag und plötzlich kämpft sie an drei Fronten: einem unter unklaren Umständen verschwundenes Mädchen, eine Frau mit einem dunklen Geheimnis und eine Freundin, der Schreckliches zugestoßen ist, und die eventuell auch mit einigem hinter dem Berg gehalten hat. Fariza wühlt sich durch den Sumpf fremder und eigener Angst, gefühlt immer am Rande des Abgrundes, in der Gefahr abzurutschen und sich selbst zu verlieren, ihren Beruf gar nicht mehr richtig ausfüllen zu können.
So entsteht nicht nur ein Kriminalfall, in dem die Ermittlung nicht im Vordergrund steht, sondern auch ein psychologisch hoch interessantes Porträt und ein ganz anderes Leseereignis. Ein Roman von Friedlich Ani ist eben nicht einfach nur ein Krimi, nicht nur seichte Unterhaltungsliteratur. Es ist ein Spannungsroman mit literarischen Qualitäten, die man dem Genre eigentlich (warum eigentlich genau?) abspricht, als könnten Spannung oder Brutalität oder Grausamkeit nicht auch mit Anspruch gepaart sein. Weit gefehlt, wie „Letzte Ehre“ wieder beweist. Das Thema ist grauenvoll, psychologisch mitreißend und gekonnt aufbereitet, so dass einem beim Lesen der Atem stockt. Opfer und Ermittler ziehen den Leser in einen Bann, von dem man sich am liebsten schnell lösen möchte. Man spürt jeden inneren Kampf – und das Aufgeben, die Kapitulation, die Niederlage, Abscheu und Ekel. Es bleiben sehr realitätsnah nur Verlierer. Das Ende bringt nochmals einen vollkommen unerwarteten Showdown, der dringend der Aufklärung bedarf… ich hoffe sehr auf eine Fortsetzung!
Fazit: wie schon bei „All die unbewohnten Zimmer“ kann ich sagen, dass man vielleicht wissen sollte, mit welcher Art Buch man es hier zu tun bekommt. Wer gerne Krimis nach Schema F liest, für wen die kulinarischen Ergüsse der Ermittle das Salz in der Suppe sind und ein möglichst immer gleich verlaufender Spannungsbogen aus Fall – Ermittlung – Krise – Auflösung wichtig ist, dazu noch ein möglichst harmonisches Privatleben und ein krimimäßiges Happy-End, der wird auch hier eventuell nicht glücklich. Mag man Krimis, die aus dem Rahmen fallen – auf jeden Fall. Mag man eigentlich gar nicht so wirklich Krimis, dann liest man hier einen anspruchsvollen Roman, der eben im Umfeld der Kriminalpolizei spielt und es passt.

Bewertung vom 06.05.2021
Verhängnisvolles Lavandou / Leon Ritter Bd.7 (eBook, ePUB)
Eyssen, Remy

Verhängnisvolles Lavandou / Leon Ritter Bd.7 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Tiefer Sumpf

Die Schilderung eines grauenvollen Missbrauchs bildet den Auftakt zum neuen Fall in Leon Ritters Wahlheimat Le Lavandou. 25 Jahre nach diesen Ereignissen taucht plötzlich eine Kinderleiche am Strand auf, und der Rechtsmediziner ist sich sicher, der Mörder ist kein Spontantäter, hat nicht zum ersten Mal ein Verbrechen begangen. Er folgt dem kleinen Wasserlauf und einem Schildkrötenei in ein Sumpfgebiet und fördert – mal in Zusammenarbeit mit der Polizei, mal im Alleingang einiges zu Tage. Als plötzlich mehrere gutsituierte Herren ebenfalls tot aufgefunden werden, ist ein Zusammenhang lange Zeit nicht klar ersichtlich, aber Ritter spürt, dass mehr hinter allem stecken muss. Mehr hinter den Mimosen im Mund der Opfer, mehr hinter einem kleinen gepflegten Grab eines Jungen, mehr hinter den Vorgängen in einem ehemaligen Kinderheim der katholischen Kirche…
Bereits zum siebten Mal lässt Autor Remy Eyssen seinen Rechtsmediziner Leon Ritter den Unterschied bei den Ermittlungen der provenzalischen Kriminalpolizei ausmachen. Mit seinem Gespür für Details und seiner Akribie, manchmal auch mit seiner Neigung sich über Hierarchien und Anweisungen hinweg zu setzen, gibt er auch im aktuellen Band der Reihe wieder entscheidende Hinweise zum Fall und erzwingt durch seine eigenständigen Aktionen ein Ergebnis herbei. Ob das nun sehr realistisch ist, oder nicht eigentlich ein wenig beleidigend für die Kriminalkommissare, deren eigentlicher Job das wäre – es ist in jedem Fall für den Leser angemessen spannend und unterhaltsam.
Ich finde, oft muss es doch gar nicht mehr sein: verlässliche Unterhaltung mit einem Krimi, einer Krimireihe, die einem über die Jahre ans Herz gewachsen ist, die gleichbleibende Qualität liefert. Stimmt die nicht, ist es natürlich müßig, aber dieses Gefühl habe ich bei der Lavandou-Reihe nicht. Weder habe ich das Gefühl zum wiederholten Male dasselbe Buch gelesen zu haben, noch sind die Fälle zu schematisch oder zu einfach. Ein bisschen Schauder ist schon auch immer dabei und am Ende löst sich natürlich alles eindeutig auf. Auf der anderen Seite reibe ich mich aber auch nicht an den Figuren oder erlebe ein Lesehighlight sondergleichen – ich lese einfach einen recht guten Krimi. Für mich passt das soweit.

Bewertung vom 21.04.2021
Laudatio auf eine kaukasische Kuh
Jodl, Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh


sehr gut

Von Fasanen, Kühen und Wilddieben
Olgas Familie stammt aus Georgien, jedoch sind sie Pontos-Griechen. Seit vielen Jahren leben sie nun in München und leben je nach Generation ein mehr oder minder integriertes Leben. Geht es nach der Vorstellung ihrer Eltern, wird auch Olga eher dem traditionellen Rollenbild entsprechen: früh heiraten, eine Familie gründen und einen Salon besitzen, der fortan als ungenutztes Wohnzimmer nicht mehr betreten wird. Den passenden Mann wird man schon für sie finden, dass auch er im besten Falle pontischer Grieche, zur Not auch Georgier sein wird, steht fest – außer für Olga. Sie wehrt alle Bestrebungen vehement ab, denn ihr Ziel ist ganz klar: Studieren und wenn sie heiratet, dann jemanden mit einem sehr sehr kurzen Nachnamen, der nicht auf -idis oder -villi endet.
Olga ist dabei aber innerlich doch furchtbar zerrissen. Einerseits, weiß sie ganz genau, was sie will: Ärztin werden und nicht den Vorstellungen ihrer Familie nach einer traditionellen griechisch oder georgischen Lebensplanung entsprechen, das Ganze aber ohne Jemanden zu enttäuschen. Ein Balanceakt zwischen zwei Welten, der nur zu Konflikten führen kann. Andererseits lässt sie sich auf Beziehungen ein, die sie doch eigentlich gar nicht will, nur um der Tendenz zur Paarbildung unter den Medizinerkollegen zu entsprechen. Dass auch das nur zu Problemen führen kann, liegt sofort auf der Hand, als dann plötzlich jemand auftaucht, der weder Arzt, noch Georgier, noch sonst irgendwie in Olgas Schema passt – und der beginnt nun zwischen ihren Welten zu wandern, mäandriert lustig und ungehemmt um Olga herum und in ihre Familie und ihr Leben hinein und hinterlässt Spuren, die irgendwann nicht mehr zu leugnen sind. Jack ist vom ersten Blick an verschossen in sie und legt eine Energie an den Tag, nun ja, Stalking ist dann vermutlich gar nicht sooo weit davon entfernt, aber seine Absichten sind ja gute, man entschuldigt es ihm. Diese Absichten führen ihn tatsächlich Olga hinterher nach Tiflis, noch tiefer in die familiären Strukturen, die georgische Landschaft und die kaukasische Rinderwelt und wie er hofft – in Olgas Herz hinein.
Die kaukasische Kuh hat wahrlich eine Laudatio verdient. Von Jack und Olga und auch von den Lesern. Im Grunde genommen ist es ein Liebesroman, der herrlich un-kitschig daherkommt, mit Humor und Herz und dabei aber auch ganz viel über Kultur und Leben in Georgien, oder spezieller der Pontos-Griechen, und sogar ein bisschen die mythologische Figur der Medea und Kuh-Anatomie vermittelt. Alle Figuren sind dabei, auch in ihren manchmal wahnwitzigen und skurrilen Charakteristiken, liebevoll und wertschätzend angelegt, amüsant – aber nicht platt, überzeichnet – aber nicht unangenehm stereotyp. Der Stil der Autorin ist flüssig und fesselnd, die wechselnden Perspektiven von Olga und Jack bringen den Plot ausgewogen und flott voran.
Fazit: eine humorvolle, leichte Geschichte, die aber doch mit einer Menge interessantem Wissen unterfüttert ist

Bewertung vom 08.04.2021
Der Abstinent
McGuire, Ian

Der Abstinent


weniger gut

Düster und brutal – und nicht für mich
James O’Connor ist Polizist, stammt aus Irland und ist nach schweren persönlichen Schicksalsschlägen von Dublin nach Manchester gewechselt. Im Jahr 1867 schwelt der Konflikt zwischen Engländern und Iren nicht mehr nur unter der Oberfläche, sondern tritt immer wieder in Aktionen der Fenians, die für die Unabhängigkeit Irlands kämpfen und entsprechenden Reaktionen der englischen Ordnungsmacht zu Tage. Klar, dass O’Connor aufgrund seiner Herkunft per se der „Irland-Spezialist“ der Dienstelle ist – und ganz und gar nicht deren Meinung, wie der richtige Umgang mit den aktuellen Ereignissen aussehen sollte. Als sowohl ein Verwandter von James als auch mit dem gleichen Schiff ein Unterstützer der Freiheitskämpfer, geschickt von Unterstützern der Bewegung unter den irischen Immigranten in Amerika, in Manchester eintreffen, wird eine Spirale in Gang gesetzt, die unaufhaltbar immer weiter in Bewegung gerät und in ihrem Sog Gewalt, radikale Reaktionen und erneut lebensverändernde Umstände für alle Beteiligten mit sich bringt.
Um es direkt auf den Punkt zu bringen: Insgesamt konnte mich der Roman nicht überzeugen. Inhaltlich und auch vom reinen Schreibstil her bin ich schlicht und einfach nie warm damit geworden.
Ich fand die Geschichte einfach nicht fesselnd, nicht packend, nicht mitreißend. Es geht um Verbrechen, um politische Gegensätze und Ideologien. Es geht nicht primär um die Klärung eines Falls, um das Verhindern eines Attentats oder um irgendeine Ermittlung, die mich an den Plot gebunden hätte. Bleiben die Personen, ihre Konstellationen, ihr Schicksal – und auch das dümpelte für mich irgendwie immer weiter, unsympathisch vor sich hin und ich war irgendwie permanent tendenziell enttäuscht. Auch die Erkenntnis, dass radikale Überzeugungen zahllose Opfer fordern, Aktionen nicht mehr kontrollierbare Reaktionen hervorrufen und Leben zerstören ist nun beileibe nicht überraschend oder (vielleicht leider, ist es das nicht) schockierend.
Riesen-Knackpunkt ist für mich auch das Ende des Romans. Die letzten Seiten hätte man sich getrost sparen können. Ein klassischer Showdown wäre für mich irgendwie passender gewesen, als diese merkwürdige nachrichtliche Klärung von O‘Connors Schicksals durch eine Nebenfigur, die peripherer nicht sein könnte.
Irgendwo hätte ich mir vermutlich auch so ein bisschen mehr beiläufiges Hintergrundwissen, über den Plot vermittelt, gewünscht. Über die Fenians, die konkrete politische Lage in Großbritannien, einfach ein bisschen mehr Basiswissen, dass mir in dem Moment fehlte. Das hole ich mir zwar auch gerne in der Wikipedia ab, aber leider hat es mich – ganz ehrlich gesagt – dann doch nicht so gefesselt, als dass es mir diesen Zusatzaufwand wert gewesen wäre.
Fazit: leider so gar nicht mein Fall. Ich weiß auch gar nicht, für wen oder wie ich das Buch einer geneigten Leserschaft empfehlen könnte. Das finde ich immer schade, kann aber tatsächlich mal nichts weiter dazu sagen.

Bewertung vom 25.03.2021
Der Baum und der Vogel
Bickford-Smith, Coralie

Der Baum und der Vogel


ausgezeichnet

Einfach schön – mit Botschaft
Ein Baum im Dschungel ist die Heimat eines Vogelschwarms – bis die Regenzeit einsetzt und der Schwarm weiterzieht. Für einen kleinen Vogel ist dieser Baum die Welt, seine Zweige, das einzige, dass er kennt, sein bester Freund. Als sich der Vogelschwarm aufmacht, weiter zu ziehen, macht er sich Gedanken um den Baum. Wird er nicht furchtbar einsam sein? Was wird nun aus ihm, ohne die Vögel? Der Regen beginnt zu fallen, der Wind frischt auf, und die Nacht setzt ein. Der kleine Vogel macht eine Entdeckung nach der anderen und erkennt dabei, dass er sich um seinen Freund keine Sorgen machen muss.
Kein typisches Bilderbuch, eine illustrierte Geschichte ist „Der Baum und der Vogel“. Die Zeichnungen sind in kräftigen, wenigen Farben, meist nur zwei – rot und blau, rot und grün, gehalten. Der Text, teilweise in Reimform, fügt sich harmonisch und fast organisch in das jeweilige Thema der Seite ein. Die Reise des kleinen Vogels durch den Baum ist ein Symbol für die Horizonterweiterung, die man erfährt, wenn man die vertrauten Pfade verlässt, einfach mal etwas anders macht, als alle anderen. Der kleine Vogel schließt sich seinem Schwarm wohl wieder an, doch durch seinen kleinen Extraweg, weiß er nun viel mehr als die anderen. Diese Botschaft können sowohl Erwachsene als auch Kinder aus dieser Geschichte gut mitnehmen. Für Kinder ist auch die Entdeckungsreise des Vogels durch den Baum sicher spannend, sie können seine Entdeckungen teilen und ihn selbst auch auf jedem Bild des Baumes wiederfinden. Ich finde, das Buch ist vor allem auch sehr gut für das Vorlesen geeignet, Witterung, einzelne Tiere – ich glaube, das kann man sehr schön beim Lesen gestalten.
Gelungene Geschichte mit einer schönen Botschaft.

Bewertung vom 23.03.2021
Wer wohnt denn da im tiefen Wald?
Piercey, Rachel

Wer wohnt denn da im tiefen Wald?


ausgezeichnet

Entdeckungsreise im Wald

„Wer wohnt denn da im tiefen Wald?“ ist ein Wimmel-Bilderbuch, an dem bestimmt lange Interesse und Freude bestehen kann. Ein ganzes Jahr begleitet das Buch die Waldtiere und greift dabei jeweils auf einer Doppelseite bestimmt jahreszeitliche Aktivitäten und Ereignisse auf. Dazu gibt es jeweils ein Gedicht, dass das Thema vorstellt und zahlreiche Suchaufträge, die teilweise gar nicht so einfach zu finden sind, so dass man auch wirklich länger dabeibleibt und nicht durch das Buch rasen kann. Die Waldtiere werden dabei nicht „biologisch-korrekt“ dargestellt, es ist kein naturkundliches Bilderbuch, sondern humanisiert: sie feiern Geburtstag, führen ein Theaterstück auf, spielen Frisbee oder malen ein Bild. Die Illustrationen sind sehr farbenfroh und - natürlich – mit unzähligen liebevollen Details gespickt. Insgesamt 17 Wimmelbilder bieten eine Menge Anregung zum Suchen, Finden und selbst Erzählen. Besonders gelungen finde ich dann den „Naturlehrpfad“: am Ende des Buches werden auf zwei Doppelseiten noch einmal Szenen aus dem Buch gezeigt und hier wird dann wirklich Wissen vermittelt: über Vogelnester, die Baumblüte, Insekten, Stacheln und Blätter oder Tierspuren und sogar eine Linkliste für empfehlenswerte Webseiten zum Thema Natur für Kinder und Lyrik für Kinder.
Rundum gelungen! Ein Buch, an dem Kinder lange Freude haben können, je nach Alter wird man auch immer wieder Neues und neue Anregungen finden können!

Bewertung vom 02.03.2021
Hard Land
Wells, Benedict

Hard Land


ausgezeichnet

Gradys Geheimnisse

Grady in Missouri. Stadt der 49 Geheimnisse und was das bedeuten soll, weiß niemand so richtig. Sam auch nicht, zumindest noch nicht. Er weiß aber, dass er einmal einen ganz besonderen Sommer erlebt hat. Einen, den man noch nach Jahren fühlt, wenn man ein bestimmtes Lied im Radio hört, einen Geruch wahrnimmt, oder ein Automodell erblickt. Sam verliebt sich und erlebt einen grauenvollen Verlust. Er findet Freunde und bemüht sich kein Hänfling mehr zu sein. Er hat seinen ersten richtigen Job und seinen ersten Vollrausch. Er beginnt seinen Vater zu verstehen und ein bisschen zum ersten Mal die Welt, das Leben, die Liebe. Er besteht eine Prüfung, beweist unglaublichen Mut und erlebt das unglaubliche Gefühl der „Euphancholie“. Er muss sich mit dem Coming-of-Age-Roman „Hard Land“ beschäftigen und steckt doch in seinem eigenen Prozess. Diesen Prozess schildert Wells so hervorragend lebendig und nah an seinen Protagonisten, dass der Leser in jeder Faser diesen Sommer mitfühlen kann. Eine Hommage an allseits bekannte Filme der 1980er Jahre sorgt auf irgendeine magische Art und Weise dafür, dass dieses Buch selbst zum Film wird, und dem Leser plastisch vor Augen steht. Dies gepaart mit der literarischen Qualität eines exzellenten sprachlichen Ausdrucks bewirkt einen schier unwirklichen und unwiderstehlichen Sog, ähnlich wie es Wells Roman „Vom Ende der Einsamkeit“ vermochte, wenn auch hier mit einem anderen, wie ich finde, leichteren Tonfall.
Benedict Wells ist ein fantastischer Autor. Ich habe bisher alle seine Werke gelesen und deren Qualität ist schwer vergleichbar, oft mit allem anderen, was mein Lesejahr in der Nachbetrachtung so hergegeben hat. Auch in Hard Land schafft er wieder eine einmalige Erzählatmosphäre, kreiert Protagonisten, schafft eine Nähe, eine Empathie und Sympathie für eine Geschichte voller Humor, Trauer und Zeitgeist. Dies alles trägt dazu bei, dass man diesem Buch kaum mit einer laienhaften Rezension gerecht werden kann. Es gibt so vieles, dass man sagen möchte und am besten, man fasst es ein bisschen zusammen und belässt es dabei: Hard Land ist großartig. Benedict Wells ist großartig. Oder nur groß. Sehr groß. Unvorstellbar eigentlich, dass er sich nicht noch steigern wird in seinem Leben, welche Bücher er mit 40, mit 50 schreiben wird. Ich freu mich drauf, ich habe vor sie zu lesen. Ich finde immer wieder bemerkenswert, dass ich ihn als Autor so sehr wertschätze und ich mit ihm gemeinsam habe, wer es mir sonst so im Besonderen angetan hat: John Irving, Joey Goebel. Offensichtlich bestehen da Parallelen in seiner persönlichen Vorliebe zu Lesen und seinem Vermögen zu schreiben. Ich sehe mich und alle anderen Leser da klar als Profiteure!
Wells verdient jeden Preis, jede Anerkennung, alles. Seine Art, Gedanken, Gefühle, Geschichten zu erdenken und dann auch noch in Worte fließen zu lassen, von einer solchen literarischen Schönheit – ich bin gerade stark euphorisch. Ganz ohne Melancholie – wobei diese herrlich nachvollziehbare Euphancholie man schon auch sehr stark während des Lesens verspürt, wenn die Seiten langsam rarer werden, die noch verbleiben bis zur unweigerlich letzten Seite. Überflüssig zu erwähnen, dass man selbst den Abspann noch genießt und auch die Playlist. Passend zum Buch: wäre dies ein Film, man würde nicht nur sitzen bleiben, bis der letzte Credit durchgelaufen ist, man würde urplötzlich das Bedürfnis verspüren, leere Becher und Popcorn-Krümel einzusammeln, um ein wenig länger zu verweilen, bevor man dann doch aus dem Saal gebeten wird. Man trennt sich schwer von Sam und von Wells einmaliger Gabe zu erzählen, auch wenn man es im Wissen tut, eine absolut runde Geschichte zu verlassen. Für Sam endet sein Coming-of-Age wie es sich gehört.
Fazit: Großartig. Lesen. Wenn man die anderen Werke des Autors nicht kennt: auch lesen.

Bewertung vom 24.02.2021
Aus der Mitte des Sees
Heger, Moritz

Aus der Mitte des Sees


ausgezeichnet

Gedankenquelle
Lukas Leben ist geprägt von Regelmäßigkeit, Struktur, Stabilität und Mäßigkeit. Seit sechzehn Jahren folgt er einem klaren, oft immer gleichen Tagesablauf, erfüllt seine Aufgaben, lebt nach einer Ordnung – der der Benediktiner-Mönche. Er ist Ende dreißig und senkt den Altersschnitt im Kloster ganz erheblich. Seit kurzem alleine, denn sein Mitbruder Andreas hat den Konvent vor kurzem verlassen, hat Zölibat und Klausur eingetauscht gegen Frau und Kind in Berlin. Dies beschäftigt Lukas naturgemäß sehr und beherrscht seine Gedanken. Diese Gedanken lässt er fließen, in einem steten Strom wie ein Zwiegespräch, während er schwimmt, während er sitzt und denkt. Er wendet sich an Andreas, an dessen Freundin, an den alten Mitbruder Alban – und an Sarah. Eine geheimnisvolle Frau, die eines Tages im Kloster auftaucht, an „seinem“ See auftaucht und ab dann auch immer wieder in seinem Kopf. Das tägliche Schwimmen im Maar hat für Lukas viel von Meditation, ist für ihn Zuflucht und Teil des festen Gerüstes, dass das Leben im Kloster für ihn bedeutet. Er braucht das Schwimmen geistig und körperlich, die Berührung des Wassers auf seiner Haut, die sonst niemand berührt, und die Kühle des Wassers, die seinen Kopf erfrischt. Der See ist Begegnungspunkt und sein ganz eigener Platz, an einem Ort, in dem vieles geteilt und nicht „privat“, im Sinne von im eigenen Besitz, sein kann. Die neue Situation, er alleine ohne Andreas hier, Andreas mit einem neuen Leben dort, ein junger Mann, halb so alt wie er, der eventuell eintreten möchte in das Kloster, die alten Mitbrüder und Sarah, all das beginnt ihn dann aber auf eine ganz andere Art und Weise zu beschäftigen als das gleichförmige Leben in den Jahren zuvor.
Ein Roman, tatsächlich wie ein See. Ruhig, kein reißender Fluss, keine Meeres-Brandung. Allenfalls ein paar gleichförmige Kreise, leise Bewegungen. Ein Bild der Stille mit so viel innerer Schönheit, so viel Nähe, Liebe, Kontemplation. Dieser Roman ist so nah an Protagonist Lukas, seinen Gedanken und seinen Gefühlen, da alle enthaltenen Handlung durch seine Reflektion darüber geschieht. So erreicht der Autor eine große Tiefe, Ehrlichkeit und Nahbarkeit, die sehr berührt. Eigentlich ist der gesamte Text ein Dialog, in dem meist nur einer spricht bzw. denkt und doch eine rege Diffusion stattfindet. Panta rei.
Lukas ist ein moderner Mensch, gehalten von einem Leben, dass sich an alten Traditionen orientiert und den meisten von uns per defintionem im Detail fremd ist oder sein muss; aber dieser moderne Mensch ist dem Leser eben nicht fremd. Er ist kein entrücktes Wesen, unter dem Habit ist der Mönch ein Mensch – zwar nur im deutschen sehr ähnlich, aber als Beschreibung hier sehr treffend, der denkt und fühlt, ein Smartphone besitzt, durchaus auch in „Zivil“ gekleidet sein kann und eine sehr pragmatische Bemerkung zur Möglichkeit, das Zölibat zu leben, kundtut. Diese Innensicht gerät daher nie zur übertriebenen Nabelschau, sondern ist echt und nachvollziehbar, hoch interessant und bringt nebenbei auch dem Leser noch das Nachwuchs- und Führungskräfte Problem eines solchen kleinen Klosters nahe und vielleicht auch ein wenig nötigen Realismus in das Bild der enthaltsamen, der weltentsagenden, Ordensgemeinschaften, die letztendlich doch alle aus Menschen bestehen, die ihr Leben zwar Gott geweiht haben, aber immer noch ein „Herzele“ besitzen können.
Ein Buch, das mich in seiner Andersartigkeit begeistert hat. Die Ruhe der Erzählung und ihre Intensität haben mich gefesselt wie ein Spannungsroman. Man wird mitgenommen von Lukas Gedanken und bringt dadurch auch die eigene Hirnrinde zum Schwingen über ganz vieles, das im Alltag unwichtig erscheint. Es weckt den Wunsch nach innerer Einkehr und Kontemplation genauso wie nach Liebe und Austausch. Vielleicht muss man sich auf das Tempo, die Ansprache einlassen, aber ich finde es gelingt leicht und ist niemals langatmig, anstrengend oder abgehoben. Insgesamt ein Genuss und ein Lesehighlight für mich

Bewertung vom 12.02.2021
Big Sky Country
Wink, Callan

Big Sky Country


sehr gut

Augusts Landschaftsentwicklung

August wird in Michigan geboren, geschätzt Mitte der 1980er Jahre (das kann man aus seinem Alter zum Zeitpunkt von 9/11 herleiten, genannt wird es nicht). Seine Eltern sind sich nicht sehr ähnlich. Die Mutter aus gutem Haus, Studentin, der Vater Farmer. Und das wird August auch, ein Farmkind, dann ein junger Mann, der tief mit dem Landleben verwurzelt ist. Erst in Michigan auf dem väterlichen Hof, später dann in Montana, wo er mit seiner Mutter hinzieht, nachdem die Eltern sich endgültig trennen. Nebeneinander her gelebt hatten sie schon lange zuvor. Und allen Bestrebungen seiner Mutter zum Trotz, hat August erst einmal auch keine weiter gehenden Ambitionen. Zunächst kehrt er auch in den Ferien immer zum Vater zurück, später sucht er sich Arbeit auf wechselnden Höfen in den Rocky Mountains, löst sich von seiner Heimat im mittleren Westen. August ist ein verschlossener Mensch, etwas eigenbrötlerisch, merkwürdig leidenschaftslos für sein Tun und seine Umgebung. Er hat nicht viele Freunde, und die, die er hat, vor denen möchte man ihn warnen und ihn fernhalten. Aber er ist oft viel zu unbedarft. Aktionen gehen eigentlich nie von ihm selbst aus. Er stellt fest, wenn er sich bei etwas unwohl fühlt, wenn etwas moralisch oder rechtlich falsch ist, aber er reagiert oft erst mit einer gewissen Verzögerung, bevor er eine Änderung anstrebt. Und doch entwickelt er sich irgendwie irgendwann weiter und trifft Entscheidungen über Änderungen seines Lebens. In dem Sinne ist er metaphorisch mit der im Roman wichtigen Landschaft gleichzusetzen: eine Entwicklung, eine Veränderung findet statt, stetig, langsam, oft nicht auf den ersten Blick zu erkennen.
Insgesamt habe ich mit dem Roman zwei Probleme: ich weiß einfach nicht, was August jeweils weitergebracht hat, ihn zu Entscheidungen geführt hat. Ich fand die Schilderung seines Gefühlslebens, seine Wahrnehmung, seine Kommunikation, seine Interaktionen mit anderen immer gut angelegt und nachvollziehbar. Insbesondere das Motiv der Telefongespräche mit seinen Eltern, erst einmal kurz angebunden und belanglos erscheinend, aber eigentlich sehr tiefgründig und erhellend, richtig gut. Aber irgendwie hat mir das entscheidende Moment gefehlt, seine Entwicklung zu erkennen und nachvollziehen zu können. Was mich zum zweiten Punkt führt: ich glaube, dass man das im Roman erkennen kann – beim nächsten Lesen. Aber sollte ein Buch so angelegt sein, dass ich dies für nötig halte? Ich habe dieses Buch nicht schnell gelesen, ich habe mir Zeit gelassen und trotzdem dachte ich am Ende, dass mir eben irgendwie die Erkenntnis fehlt und kam zum Schluss, hätte ich über dieses Buch immer wieder Gespräche, Analysen geführt – oder würde es mit eben diesem Wissen ein zweites Mal lesen, wäre mein Verstehen größer.
Das ist für mich ein erheblicher Knackpunkt in der Bewertung. Um mich nicht falsch zu verstehen – das Buch ist nicht kompliziert geschrieben. Die Sprache ist klar, das Erzähltempo angemessen dem Thema und beides hat mir ausnehmend gut gefallen, aber irgendwie bedarf es einer eingehenderen Beschäftigung. Das ergibt im Ergebnis bei mir eine Bewertung von 3,5, die ich in diesem Fall auf 4 aufrunde. Ich sehe das Potential darin.

Bewertung vom 18.01.2021
ministeps: Meine liebsten Vorlesegeschichten
Orso, Kathrin Lena

ministeps: Meine liebsten Vorlesegeschichten


ausgezeichnet

Gelungenes Vorlese-Bilderbuch

Meine liebsten Vorlesegeschichten vereint Bilderbuch und Vorlesebuch auf ganz wunderbare Weise, ich bin sehr begeistert. Jeweils auf einer Doppelseite pro Geschichte, und davon gleich elf Stück. Die Geschichten sind toll ausgewählt und stammen ganz unmittelbar aus der Erlebenswelt der Kinder: Spiel mit den Eltern und Großeltern, im Kindergarten, auf dem Spielplatz, Kuscheln zu Hause, Kuchenbacken, Bildermalen – alles ist dabei. Die Geschichten sind so kurz, das sie wirklich schnell vorgelesen sind, auch wenn nur eine begrenzte Menge „Zeit zum Zuhören“ bei den Kleinen vorhanden ist oder auch mal zwei oder drei hintereinander passen. Die ganzseitigen Illustrationen regen an, die Geschichte selbst mit oder weiter zu erzählen, Details zu finden oder auch einfach nur alleine zu betrachten. Ein rundum gelungenes Buch, wie ich finde, das viel Freude bereiten und bei vielen bestimmt ein zeitweiliger Favorit werden kann.