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MarcoL
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Füssen

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Insgesamt 181 Bewertungen
Bewertung vom 03.08.2024
Malibu Orange
Haidacher, Ulrike

Malibu Orange


ausgezeichnet

Einfühlsam. Bissig. Wie geht „leben“? und eine entgleitende Freundschaft in die Klauen des Patriarchats.

Anja hängt nach einem BurnOut mit Gehörverlust ihren Job als Krankenpflegerin an den Nagel. Sie schafft es einfach nicht mehr, und zieht kurzerhand von Wien zurück zu ihren Eltern in das „obersteirische Industriekaff“. Für kurze Zeit, ein paar Wochen, maximal. Doch es werden mehr als diese paar Wochen, und ihre Eltern stellen sie irgendwann mal zur Rede. Leben? Man muss funktionieren in der Gesellschaft. Malochen. Sich kaputt machen (herrlicher Dialog).
Aber davor hat sie einschneidende Erlebnisse mit ihrer innigen Freundin Magda. Früher waren sie „Die Unzertrennlichen“ und Anja freut sich, endlich wieder mal mit Magda in ihr Stammlokal auszugehen, um ein paar Malibu Orange zu schlürfen. Aber das ersehnte Wiedertreffen entpuppt sich als der Beginn einer Entfremdung. Zuerst kommt Magda zu spät, dann will sie nichts trinken und stellt Anja ihren neuen Freund vor: Volker.
Schnell stellt sich heraus, dass Volker DER Keil in ihrer Freundschaft ist. Magda entfremdet sich total, verändert sich und wird so ziemlich zum Gegenteil davon, was und wie sie einmal war. Anja leidet sehr darunter, fragt sich, inwieweit sie sich in das neue Leben von Magda einmischen darf und soll, zumal die Beziehung von Magda und Volker auf einer sehr toxischen Basis zu stehen scheint.
Die Autorin bringt so einige Themen in ihren neuen Roman ein und versteht es brillant, diese auf eine lockere Art zu erzählen. Sie wirft mit österreichischem Humor um sich, und bleibt dennoch ernst genug, um einen gewaltigen Sog zu entwickeln. In das lichte Orange der fröhlichen Beziehung schleicht sich ein Nebel ein, wird grauer und grauer, die Düsternis der Verzweiflung Anjas legt sich um die Worte. Man will dieses aufkeimende Schwarz nicht, hofft als Leser auf eine Rückkehr zur grellen Beschwingtheit. Spannend! kann ich nur sagen, und sehr nachdenklich stimmend.
Was ist das Leben? Was heißt es zu leben? Was ist ein erfülltes Leben? Und die Frage der Fragen der Protagonistin Anja an ihre im Sterbebett liegende Oma: wie hast du es geschafft zu leben?
Es sind sehr berührende Szenen, die Anja mit ihrer Großmutter erlebt.
Für mich ist dieses Buch ein #Lesehighlight, das mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt hat. Nachdem mir der Debütroman „Die Party“ von Ulrike Haidacher schon gut gefallen hat, bleibt mir nur mehr übrig, eine absolute Leseempfehlung auszusprechen und auf ihren nächsten Roman hinzufiebern.
PS: und immer wieder dieser Volker, das Patriarchat in Persona, dem man am liebsten die … abreißen möchte.

Bewertung vom 28.07.2024
Marigold und Rose
Glück, Louise

Marigold und Rose


sehr gut

Kleines und feines Büchlein: Gedanken von Zwilling-Babys mit einem Augenzwinkern.

In diesem kleinen, aber feinen, gerade mal sechzig Seiten schmalen Büchlein widmet sich die Nobelpreisträgerin von 2020 der Frage, was wohl in den Köpfen von Zwillingbabys vorgehen mag. Was denken sie sich so den ganzen lieben Tag, zwischen Schlafen, Essen, Gewickeltwerden, Herumkrabbeln, den ersten Stehversuchen, und so vielen weiteren spannenden Sachen, die es zu entdecken gibt.
Die beiden Mädchen sind sich in ihrem Wesen verschieden, Marigold eher still, nachdenklich. Rose dafür lebhafter. Beide zusammen ergänzen sich, bilden eine Einheit, in der sich die unterschiedlichen Charakterzüge ergänzen.
Abwechselnd erzählen Marigold und Rose von ihren Erkundungen und Erfahrungen. Was Mami und Papi so tun, wofür Großeltern wichtig, oder auch eher unnütz sind.
Marigold möchte gerne, sobald sie alle Wörter kennt, sprechen und schreiben gelernt hat, ihre Erfahrungen zu Papier bringen. Jetzt geht es ja noch nicht, weil sie es nicht kann. Aber sie merkt sich schon mal vieles für die Zeit nach dem Babysein. Denn es ist schon vieles wirklich mysteriös. Auch würden sie gerne wissen, was ihr Zwilling gerade so denkt – philosophieren im Anfangsstadium könnte man meinen.
Humorvoll und pointiert erzählt setzt Louise Glück hier ihre Gedanken über den Beginn und das Ende des Lebens um. Was vergisst man nicht alles, wenn man Neues lernt. Es sind ein paar Botschaften, die sich hier auf eine lockere Weise einfinden, und es das perfekte Büchlein für Zwischendurch machen.
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 28.07.2024
Hundert Millionen Jahre und ein Tag
Andrea, Jean-Baptiste

Hundert Millionen Jahre und ein Tag


ausgezeichnet

Ein Reise in Vergangenheit – menschlich wie paläontologisch, voller Herzenswärme.

Stan, Anfang 50, von Beruf und Berufung Paläontologe, führt ein unscheinbares Leben an der Universität in Paris. Seit seiner Kindheit in den Pyrenäen ist er fasziniert von Fossilien, und hat sich seinem ganzen Leben danach verschrieben. Was unter Umständen spannend und erfüllend zu sein verspricht, ist in Wahrheit ein unspektakulärer Institutsalltag. Dennoch träumt er davon, einmal im Leben einen wirklich großen Fund zu machen, und so greift er nach dem Strohhalm, der ihm wie eine langersehnte breite Brücke erscheint. In den Seealpen an der Grenze zwischen Italien und Frankreich habe jemand das Skelett eines Drachen gesehen. Es sind Gerüchte, kaum haltbar, und dennoch beginnt Stan zu recherchieren. Im Sommer 1954 ist es dann so weit, er startet eine Expedition mit seinem früheren Assistenten, dem sanften Hünen Umberto, der mittlerweile selbst Professor in Turin ist. Mit dabei sind der erfahrene Bergführer Gio, und zu Stans Missfallen Umbertos Universitätsgehilfe Peter, ein Deutscher. Es ist ein illustres Team, das sich auf beinahe 3000 Meter Seehöhe im unwegsamen Gelände für mehrere Wochen einrichtet, und versucht, der Gegend und dem Gletscher das Geheimnis, das mehr eine Hoffnung als eine Spur ist, abzuringen. Stan träumt vom Fund eines mehr als 30 Meter langen Sauropoden.
In der Einsamkeit des Hochgebirges erzählt uns Stan nicht nur von dieser Expedition. So langsam legt er wie ein schmelzender Gletscher seine Vergangenheit frei. Seine Kindheit war nicht immer auf Rosen gebettet, seine Mutter starb früh, und sein Vater, den er nur den „Kommandant“ nennt, war ein Despot wie er im Buche steht.
Umso mehr sehnt sich Stan nach Erfolg.
Was sich zuerst wie eine Abenteuergeschichte sondergleichen anhört, ist so viel mehr als das. Es ist die Reise eines klugen Mannes an seine eigenen Grenzen, und zurück in seine Kindheit. Der Traum, sich endlich zu beweisen, wird zur Obsession. Mittendrin gibt es sehr viel Zwischenmenschliches, teils sehr berührend, wenn es um die tiefe Freundschaft zwischen Stan und Umberto geht.
Es gibt aber auch Keile, die im Laufe der Zeit gewachsen sind, und vom Autor sehr gekonnt, meist in Form von anderen Personen, in die Geschichte getrieben werden. Verlust und Versagensängste kontra gesunden Menschenverstand. Entgegen jeder Ratio das Unmögliche erreichen zu wollen, spielt eine große Rolle. Und natürlich die Frage: wieviel haltet eine Freundschaft aus.
Die Sprache ist einmalig, sehr bildhaft und poetisch. Manchmal fast schon zu überladen an Metaphern und blumiger Ausdrucksweise, und dennoch ein wahrer Lesegenuss.
Es ist ein sehr ruhiges Buch, in dem viel Kraft steckt, und das noch lange nachhallen wird. Es entführt uns ein eine andere Welt, in der Menschen eigentlich nichts verloren haben. Die raue Bergwelt, der schier unbezwingbare Gletscher mit seinen Gefahren und Geheimnissen, die Höhen und Tiefen stehen alle symbolisch für den Kampf, der im Inneren von Stan tobt. Für mich genial umgesetzt und somit eine große Leseempfehlung.

Bewertung vom 25.07.2024
Appius und Virginia
Trevelyan, G. E.

Appius und Virginia


ausgezeichnet

Ein Pageturner! Trauriges und gut erzähltes „Experiment“, das an Abgründen des menschlichen Wissensdurstes kratzt.

Das Original erschien 1932 und liegt nun als deutsche Erstübersetzung vor.
Die Soziologin Virginia Hutton startet ein Experiment, das sehr schnell zeigt, wie verstörend und egoistisch ihr Grundgedanke im Prinzip ist. Sie möchte einen Orang-Utan wie ein Menschenkind erziehen, ihm denken, sprechen, lesen und all die sonstigen Dinge beibringen, die Menschen vorbehalten sind. In ihren Visionen träumt sie sogar davon, ihre Studien soweit zu bringen, dass ihr Zögling, der den Namen Appius bekommt, sogar ein weltberühmter Akademiker wird.
Schnell stellt sich heraus, dass Virginia so etwas wie Muttergefühle für Appius entwickelt. Um ihr „Experiment“ ungestört durchführen zu können, kauft sie sich ein kleines Cottage und kapselt sich völlig ab. Sie pflegt keinerlei soziale Kontakte, sperrt sich und Appius quasi komplett von der Gesellschaft aus. Ein kleiner Garten mit einer hohen Mauer grenzt ihr Exil ab.
Was als (pseudo)wissenschaftlicher Versuch beginnt, rutscht sehr bald in eine Absurdität ab. Das Gespann Viriginia-Appius rückt in den Vordergrund, die frommen Wünsche, sich in den Akademikerkreisen zu behaupten, sehr bald ins Abseits.
Appius lernt im Laufe der Zeit tatsächlich ein paar Worte, scheint auch Lesen zu können. Manchmal bekommt man allerdings den Eindruck, dass er nur Gehörtes nachplappert, und Gesehenes aus Büchern wiedergibt, weil Virginia es ihm minutiös eingetrichtert hat. Aber er kann denken, und entdeckt, was vor ihm hätte verborgen werden sollen.
Er wird angezogen wie ein Mensch, mit Hosen und Schuhen. Er mag das nicht, es stört ihn in seinen Bewegungsabläufen, aber er duldet es. Denn Virginia kann sehr streng und herrisch sein. Sie redet Appius ständig ein, er sei ein Mensch. Doch Bilderbücher zeigen ihm etwas anderes … und ein großer Konflikt, der sich durch den ganzen Roman zieht, nimmt Gestalt an.
Trotz Virginias Wunsch, Appius als Menschen zu erziehen, behandelt sie ihn dennoch wie eine Sache. Sie möchte von ihm geliebt werden, zieht ein abstruses Mutter-Sohn Gespann heran, erklärt ihm pausenlos, nur Menschen sind gut, und Tiere böse …

Die Autorin zieht die Leserschaft gekonnt in ihren Bann. Man möchte mehr als hundert Mal in die Erzählung eingreifen, die Protagonistin wachrütteln. Allein die Beschreibungen, wie sich Appius entwickelt, was er fühlt und in ihm vorgeht, ist eine Lektüre dieses Romans wert.
Sein Ausflug durch die Bäume des Gartens, als sich seine Instinkte melden und er sich voller Freude von Baum zum Baum schwingt, sind derart lebendig und authentisch beschrieben, dass man sich richtig gut in Appius‘ Gefühle hineinversetzen kann (Seite 54, die Zeilen eine Wucht).
Sprachlich ist der Roman ein Genuss, und mutiert sehr schnell zu einem richtigen Pageturner. Und ich ziehe auch in einem gewissen Rahmen Vergleiche mit Mary Shelleys „Frankenstein“. Beide Bücher vereinen für mich die Grundthematik Mensch versus Schöpfung.
S.266: „Ich wollte, dass du etwas bist, was sogar mehr wäre als ein Kind, etwas, was ich durch meinen eigenen Geist aus dem Nichts erschaffen und nach meinem Willen geformt und dem ich beim Wachsen zugesehen hätte.“
Der Roman vermittelt sehr gut die Anmaßung der Menschen, alles beherrschen zu wollen. Auch spielen andere gesellschaftskritische Aspekte eine Rolle im Buch, wie zum Beispiel die Unterdrückung der Frauen in der Wissenschaft. Das umfangreiche Nachwort von Ann Cotten und die editorische Notiz der Übersetzerin Renate Haen (ganz großes Lob für ihre Arbeit)

Bewertung vom 20.07.2024
Kleine Monster
Lind, Jessica

Kleine Monster


ausgezeichnet

Gefühlvoller und spannender Roman um Kindheitsfragen und verdrängte Traumas.

Jessica Lind geht mit einer derartigen Sprachgewandtheit zu Werke wie es nur wirklich ganz große AutorInnen schaffen. Ihre Worte kommen derart flüssig daher, ohne Ruckeln und Zögern, sie reißen einen mit in einen Erzählstrom, der einen fortträgt in ihre Welt und in dem man sich vertrauensvoll treiben lassen kann. Und dabei sind es nicht gerade einfache Themen, mit denen sich die Autorin beschäftigt. Sie setzt sich mit viel Empathie und Wissen damit auseinander.
Pia und Jakob werden in die Schule bestellt. Es gab einen Vorfall mit ihrem siebenjährigen Sohn Luca und einer Mitschülerin. Doch was es war, oder sein sollte, bleibt vorerst im Dunkeln. Luca verschließt sich, und eine Verunsicherung macht sich bei den Eltern breit. Vor allem bei Pia, der Ich-Erzählerin, schwappen die Emotionen hin und her, von liebevoll besorgt bis beinahe hysterisch ist alles dabei. Und schon bald wissen wir, da befindet sich mehr in Pia, ein Abgrund, der verschüttet war, und nach und nach freigelegt wird.
Die Autorin führt uns geschickt mal hier hin, mal dort hin. Sind es wirklich „Kleine Monster“, durchtrieben und böse, durchschauen ihre Eltern bis ins Letzte, oder sind es einfach nur Kinder, die sich in der Welt, die um sie tobt mit all ihren Facetten, bestätigen und ihren Platz finden müssen?
Es dreht sich natürlich auch um die Frage, was der Kern einer guten Erziehung ist, bewusst oder unbewusst, getrieben von alteingesessenen Mustern im Mix mit der bedingungslosen Liebe und dem Wunsch, alles richtig zu machen.
Die Verunsicherung kommt spürbar durch, Schuldgefühle und eine traumatisierte Kindheit wirbeln nur so herum.
In Rückblenden entblättert Pia ihre Vergangenheit, erzählt nach und nach von ihren Erlebnissen, von ihren Schwestern und Eltern, und ihren spärlichen Erinnerungen an ein schreckliches Ereignis. Sie spannt den Bogen langsam, bis er auf die Jetztzeit mit Luca trifft. Und das entwickelt einen unglaublichen Sog zwischen all den „Sorgen“ um ihren Sohn.
Nach ihrem Debüt „Mama“ ist dies ein weiteres Highlight aus der Feder von Jessica Lind und somit eine ganz große Leseempfehlung.

Bewertung vom 17.07.2024
Hirn und zehn Finger
Kersh, Gerald

Hirn und zehn Finger


ausgezeichnet

Heftige Bilder einer kurzen Episode im Jugoslawischen Widerstand von 1943

Ohne Triggerwarnung kann ich diese Rezension nicht starten, denn es werden Gräuel von Menschen an Menschen erwähnt, wie sie nur Menschen erfinden und ausüben können. Ob Krieg oder nicht ist da beinahe schon irrelevant.
Eine Gruppe von Widerstandskämpfern macht sich 1943 im ehemaligen Jugoslawien auf, um den verfeindeten italienischen Faschisten ein Waffendepot mit Dynamit zu plündern. Im Schutze des Regens und der Nacht scheint der Coup zu gelingen, doch sie werden entdeckt, erleiden bittere Verluste und müssen fliehen. Die anhaltenden Regenfälle ließen den Fluss Bistrica anschwellen, die rettende Brücke wurde fortgerissen. Die verbliebenen neun Männer saßen in der Falle, hatten maximal eine Stunde Vorsprung. Klemen, der zwar nicht das Kommando hatte, forderte seine Mitstreiter auf, mit ein paar Baumstämmen einen Behelfsübergang zu bauen.
S.77: „Es war eigenartig, wie Klemen uns von seinem Platz aus über den Strom hinweg zu verstehen gab, wie die Sache nach seiner Vorstellung angepackt werden sollte. Alles arbeitete mit ihm zusammen. Ein Hirn und zehn Finger, das kam einem in den Sinn.“
Obwohl sich alle sicher waren, dass dies wohl die einzige Rettung sein dürfte, regte sich in manchen Gemüter der Wille trotz des Überlebenskampfes, bis zum bitteren Ende zu kämpfen und noch ein paar der verhassten Faschisten mit in den Tod zu reißen. Was wird wohl gelingen?
Was teilweise wie ein Abenteuerroman anmutet, ist bitterster Ernst mitten im Gewimmel des Zweiten Weltkrieges. Ganze Dörfer wurden in Jugoslawien von den Italienern ausradiert. Menschen, ob Greise oder Babys, niedergemetzelt.
Die Widerstandskämpfer hatten schon genug gesehen und erlebt, waren allesamt stark traumatisiert, aber sie waren eine Truppe von Slowenen, Serben, Kroaten, die für eine einzige Sache wie ein Mann einstanden.
Kersh lässt abwechselnd mehrere Männer der Truppe erzählen. Der junge, siebzehnjährige Andrej erzählt, genauso wie der erfahrene Klemen. Oder Jeriza, eine junge Frau, die auf der anderen Seite der weggespülten Brücke auf die Truppe wartet.
Trotz all der schwere des Themas, der Brutalität des Krieges (und ja, manchmal muss man tief durchatmen dabei) kommt die Erzählung leicht, flüssig daher, und vor allem sehr bildhaft. Die Ansichten der verschiedenen Charaktere mit all ihren Ängsten, Sorgen, Nöten, aber auch Hoffnungen und Blicke auf ihre Vergangenheit sind stilistisch ein perfektes Zusammenspiel. Während des Lesens ist man selbst an der Brücke, kennt seine Mitstreiter in und auswendig, packt an, hilft mit und hört die Kugeln um den eigenen Kopf pfeifen, während der Fluss sich zu einem brüllenden Monster aufbäumt. Ganz große Erzählkunst ist das. – und somit eine ganz große Leseempfehlung trotz oder vielleicht gerade wegen des Themas.

Bewertung vom 11.07.2024
Miserere
Adler, Helena

Miserere


ausgezeichnet

Drei intensive Texte der leider viel zu früh von uns gegangenen Autorin.

Die Bestürzung war groß, als uns Anfang Januar 2024 die erschütternde Nachricht vom Ableben der Autorin erreichte. Mit „Die Infantin trägt den Scheitel links“ und „Fretten“ hat sie uns literarische Weltklasse-Romane hinterlassen.
In diesem schön gestalteten Buch dürfen wir nochmals in ihre Welt eintauchen, ihren Zeilen und Gedanken lauschen. Drei abgeschlossene Texte voller Tiefsinnigkeit und sprachlicher Stärke warten hier auf die LeserInnen.
Im ersten Text „Ein guter Lapp in Unterjoch“ nimmt sie erneut ihren Kampf gegen das eingesessene Patriarchat auf. Das Leben, ihre Liebe zum Leben, und ihr starkes Engagement für den Feminismus spiegelt sich hier wider, geht sie doch hart mit einem alles bestimmenden Bürgermeister in einem Gebirgsdorf ins Gericht. Es sind sprachliche Gewitter, die Helena Adler mehr denn je losbricht. Und dennoch bleibt trotz des Sturms die grobe Zärtlichkeit für jene zurück, die sich gegen das System und Unterdrückung stemmen.
„Unter der Erde“ ist ein kurzer Text und ein Sprachspiel sondergleichen.
Den dritten Text „Miserere Melancholie“ wollte die Autorin im Sommer 2023 beim Bachmann-Wettbewerb vortragen. Leider ist es krankheitsbedingt nicht mehr dazu gekommen. Diese Geschichte widmet sich einer sehr intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema der Todsünde „Trägheit“. Sie entstand im Rahmen einer Auftragsarbeit. Ihre Passion für die Kunst und Malerei findet hier erneut (wie auch bei Infantin, Fretten) ihren Einzug. Das Coverbild dieses Büchleins ist ein Ausschnitt aus dem Dritten Wandbild des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald - die Versuchung des Heiligen Antonius. Der Text ist eine Zwiesprache mit dem fast ständig anwesenden und übermächtigen Dämon der Schwermut. Die Zeilen sind zugegebenermaßen schwierig zu lesen, detailreich im Inhalt und an Metaphern. Ich habe mich anfangs schwer getan, hineinzufinden, so komplex jongliert hier Adler mit Sätzen, Fragen und Antworten. Aber letztendlich, nach erneutem Lesen, setzt sich ein Bild im Geiste zusammen, welches den Kampf gegen diesen Dämon sehr eindrucksvoll darstellt und das Gemälde mehr als widerspiegelt.
Ganz große Erzählkunst ist das, wenn auch nicht leicht im Zugang.
Gerne gebe ich für dieses Büchlein und das komplette Werk der Autorin eine absolute Leseempfehlung. In der Welt der Gegenwartsliteratur hat sie sich unsterblich gemacht.

Bewertung vom 30.06.2024
RAUCH
Sigurdardóttir, Yrsa

RAUCH


ausgezeichnet

Thriller vom Feinsten, atmospärisch, nordisch düster. Mit einem genialen Ende!

Manchmal muss es ein Thriller sein. Und wenn, dann am liebsten was Nordisches. Diese sind meistens herrlich düster. Genau so wie dieser Roman hier von der preisgekrönten Autorin.

Fünf Menschen, um die 30 Jahre alt, waren zu Studienzeiten eine mehr oder weniger verschworene Clique. Sie treffen sich nach Jahren wieder, um am Begräbnis einer ehemaligen Freundin teilzunehmen. Diese findet auf den Westmännerinseln vor der Südküste Islands statt. Es ist Jänner, das Wetter kurzzeitig gnädig für die Überfahrt.
Man merkt sehr schnell, dass sich die Gruppe entfremdet hat. Die Harmonie von früher, wenn es denn eine gab, ist verschwunden. Die „Freunde“ sind anders geworden – viel trägt auch ein gewisser Vorfall von damals dazu bei – der alle etwas nervös werden lässt. Insbesondere dann, als sie eine grausigen Fund machen.
Gekonnt zeichnet die Autorin für jedes Mitglied der Truppe ein Psychogramm, das keine Fragen offen lässt. Die Nervosität, das Uneins der Truppe, schlägt sich durch die Zeilen durch. Am liebsten würde man regulierend eingreifen. Hauptprotagonist ist Trausti, der noch in den Staaten studiert, sein letztes Geld für diese Reise geopfert hat und so ziemlich der Einzige ist, der noch halbwegs rational handelt.
Parallel dazu gibt es einen zweiten Erzählstrang, der einige Tage später spielt und die Ermittlungen zum Fund zweier Leichen im Mittelpunkt hat. Nach und nach verknüpfen sich beide Stränge, doch als Leser wird man an der sehr kurzen Leine gehalten. Viel Augenmerk legt die Autorin auch in diesem Teil auf die Charaktere der handelnden Personen. Im Zentrum steht die Pathologin Idunn. Sie stammt von den Inseln, und ihre traumatischen Familienverhältnisse holen sie ein. Das machte ihre Arbeit nicht gerade leichter. Sie möchte so schnell wie möglich wieder weg, aber der Fall …
Der Thriller ist sehr spannend aufgebaut. Der Wechseln zwischen Tathergang, Vergangenheit und Ermittlungen ist brillant in Szene gesetzt. Alles ist sehr atmosphärisch und nordisch düster. So muss Spannungsliteratur! Große Leseempfehlung für diesen neuen Roman der Autorin.

Bewertung vom 27.06.2024
Eine liebe Frau
Lenel, Laetitia

Eine liebe Frau


ausgezeichnet

Die Erwartung der Gesellschaft an die Frau, eingepackt in einen gefühlvollen Roman.

Sprachlich brillant, einfühlsam und dennoch manchmal sehr direkt, verpackt hier Laetitia Lenel die Geschichte von Generationen, die Sehnsüchte von Frauen und die Macht der Kunst in nicht mal 160 Seiten.
S.128: „Was uns erstickt, ist das, was wir nicht tun dürfen. Nicht denken, nicht studieren, nicht reisen, nicht träumen. Nicht frei sein.“
Mariannes einziger Lebenssinn schien darin zu bestehen, zu funktionieren. Als Frau. Für ihren Mann, ihre Familien, Gesellschaft, Vaterland. Sie hatte Pflichten, eigene Bedürfnisse mussten zurückgestellt werden.
Das war für sie immer schon so. Wie gerne hätte sie als Mädchen mehr am Flügel geübt, ihr Klavierspiel, für das sie großes Talent hatte, zu intensivieren. Aber das Leben bestand nur aus Kompromissen. Ihre Freundin Lotte war da anders, sie lebte ihre Kunst als Malerin aus.
S.37: „Und wehe, man wage es, Gefühle und Ambitionen zu entwickeln, die nicht von den Eltern vorgesehen seien!“
S.38: „Wir haben so gut gelernt, unsere eigenen Gefühle zu unterdrücken! Aber ob nicht auch Frauen das Recht hätten, zu leben und das Leben in der Kunst noch einmal zu schöpfen, intensiver, lebendiger vielleicht als zuvor.“
S. 39: „Lotte ließ nichts davon gelten. Ehe und Kunst schlössen einander aus, das wisse Marianne so gut wie sie.“
Während Marianne im Alter durch London schlendert, auf der Flucht vor unliebsamen Konversationen und auf der Suche nach sich selbst, erzählt die Autorin Mariannes Leben in Rückblicken. Sie streift ihre Kindheit, erzählt ausdrücklich von ihrer Ehe mit Paul. Paul ging in den Ersten Weltkrieg voller Überzeugung. Es entwickelte sich ein Briefverkehr zwischen den beiden, der, je länger der Krieg dauerte, keinen Hehl daran ließ, welche Prioritäten Paul setzte. Der Kampf ums deutsche Vaterland war im wichtiger als alles andere. Er fiel, kurz bevor der Wahnsinn sein Ende hatte. Marianne durchtauchte die Zeit. Die Nationalsozialisten erstarkten, als Halbjüdin hatte sie es schwer. Aber sie überlebte auch diesen zweiten großen Wahnsinn, kümmerte sich um ihre Mutter und den Vater ihres verstorbenen Ehemanns.
Sie samt ihren Wünschen und Begehren bleibt auf der Strecke. Erst im Alter entdeckt sie noch einen Anflug zum Mut der eigenen Selbstermächtigung.
Laetitia Lenel zeichnet mit ihrem Debütroman ein starkes Bild der Erwartungen an Frauen über einen großen Zeitraum. Als Basis für diesen wirklich sehr eindringlichen Roman dienten ihr der Briefwechsel ihrer Urgroßeltern. Sehr gekonnt setzt sie ihre Protagonistin in den Strudel der Zeit. Politische Details dürfen da genauso wenig fehlen wie der Blick auf die Kunst. Sie beschäftigt sich mit dem Thema der sogenannten Entnazifizierung, die nie wirklich stattfand. Plausible Erklärungen, warum nie darüber gesprochen wurde, sind nur ein kleines Detail dieses Buches, aber man merkt, dass es der Autorin ein Bedürfnis war, dies einzuflechten. Zu recht, wie ich anmerken möchte.
Dennoch, im Mittelpunkt steht das Thema Frau und ihre erwartete, zugedachte Rolle in der Gesellschaft. Marianne und Lotte bilden hier die beiden Pole.
S.125: „Sie [Anm.:Marianne] war eine liebe Frau. Das würde man sagen. Eine liebe Frau. Mehr würde von alldem nicht bleiben.“

Ich bin sehr begeistert von diesem Buch, dem ich sehr viele LeserInnen wünsche. Ganz große Leseempfehlung und ich hoffe, in Zukunft noch viele Bücher der Autorin lesen zu dürfen.

Bewertung vom 23.06.2024
Geister weinen nicht
Riel, Ane

Geister weinen nicht


ausgezeichnet

Viel mehr als ein Thriller. Eine tief gründende Geschichte voller Gefühl.

Alma lebt alleine in einem kleinen Häuschen am Rande der Siedlung. Sie führt ein zurückgezogenes Leben, meidet jeglichen Kontakt mit anderen Menschen. Die Post wird in den Briefschlitz gesteckt, ihre Lebensmittel und was sie sonst für den täglichen Bedarf benötigt wird einmal in der Woche vom Krämer in einer Kiste vor der Haustüre abgestellt.
Überall in ihren Räumen hängen Zettel mit wichtigen Hinweisen, wie zum Beispiel „Essen“ oder „Trinken“. Denn Alma leidet sehr an der Demenz. Und sie ist taub. Sie kann sich an sehr wenige Dinge erinnern. Oftmals gibt es Tage, an denen sie sehr verwirrt ist und nicht mal mehr weiß, wer sie ist. Den Namen ihres Mannes vergisst sie aber nie. Otto. Und auch die Tatsache, dass sie jeden Abend vor dem Schlafen gehen die „Frau“ aufziehen muss. Die „Frau“ ist eine Bornholmer Uhr. Die Einzige, die sie damals bei der Tragödie in der Stadt retten konnte. Wenn sie die Uhr eines Abends nicht mehr aufziehen würde, dann wäre alles vorbei, und auch sie selbst würde nicht mehr aufwachen. Das war ihre feste Meinung, die ihr auch damals Otto eingetrichtert hat.
Eines Tages, der Winter fast vorbei, sieht sie einen Jungen mit seinem Hund am Haus vorbei gehen. Mit Vanillekringel versucht sie Tag für Tag das muntere Gespann zu ihr ins Haus zu locken. Sie wollte ein wenig Gesellschaft. Auch erinnert sie sich, selbst mal einen Hund gehabt zu haben. Ihr Vorhaben gelingt, und es entwickelt sich eine Freundschaft zwischen Alma und dem Jungen, noch nicht im Schulalter, und dem Hündchen. Mit der Zeit beginnt sich Alma, unterstützt durch ihre Nachmittage mit dem Jungen, wieder etwas mehr an früher zu erinnern. An ihr Leben, ihre Liebe, gute und schlechte Dinge.
S.122: „Ihr Leben war zu einem Zustand geworden, einem stillen Sammelsurium von Erinnerungen, Verdrängtem und gewöhnlichen Vergessen. Von Momenten ohne Gedanken. Von Gefühlen ohne Anker.“
Irgendetwas ist da im Schuppen und hat mit Otto zu tun … ein Geheimnis, etwas Schreckliches … aber Alma kann sich nicht daran erinnern … Mehr wird nicht verraten.

Die Autorin schildert hier in sehr einfühlsamen und sanften Worten das Leben von Alma. Sie kämpft tapfer gegen die Demenz an und versucht, sich an ihre stille Welt zu gewöhnen. Sie war ja nicht immer taub, aber das Alter hat es mit sich gebracht. Es ist ein ruhiges Buch. Eigentlich. Denn die Autorin Ane Riel spielt hier äußerst gekonnt mit der Erwartung der LeserInnen, dass sich die dunklen Wolken am Himmel in ein enormes Gewitter entladen. So entsteht eine gewaltige Spannung, die sich bis zum Schluss immer mehr aufbaut. Und dennoch bleibt der Roman tiefgründig, beinahe sanft, spielt mit Begriffen wie Neuanfänge, Tod, Verlust oder auch die Unterdrückung durch patriarchal geprägte Strukturen.
Und das Ende … hach … lest es! Ganz große Leseempfehlung für diesen wunderbaren Roman, der als Thriller betitelt ist, aber in Wirklichkeit so viel mehr ist. Auch gebührt der Übersetzerin Julia Gschwilm ein ganz großes Lob für diese wirklich ausgezeichnete Umsetzung. Bin voll begeistert.