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Anna625

Bewertungen

Insgesamt 94 Bewertungen
Bewertung vom 24.02.2023
Gleißendes Licht
Sinan, Marc

Gleißendes Licht


gut

Der Komponist Kaan, als Sohn eines Deutschen und einer Türkin in Deutschland geboren, reist für längere Zeit nach Istanbul. Dort wird er von der Vergangenheit seiner Familie eingeholt, vom Völkermord an den Armeniern und der fehlenden Aufarbeitung, die sich nun als Trauma durch die unterschiedlichen Generationen der Familie zieht.
So sehr ich mich auch auf den Roman gefreut hatte, so ernüchtert schlage ich ihn am Ende zu. Was eindringlich und vielversprechend begann, verläuft sich bald in zahlreichen Zeitsprüngen quer durch die Familiengeschichte. Die einzelnen Zeitebenen waren dabei zwar durchaus spannend zu lesen, ich hatte aber einfach das Gefühl, dass sich hier zu viele Fäden ineinander verwirren und am Ende allenfalls ein Knäuel bilden, aus dem lauter lose Enden rausragen. Mit dem Schreibstil hatte ich stellenweise dann auch noch so meine Probleme, weil es häufiger mal vorkommt, dass ein einzelnes Wort mehrmals hintereinander wiederholt wird - nicht tragisch, aber irgendwie überflüssig bis störend in meinen Augen.
Davon abgesehen mochte ich den Stil aber, das ist also ein eher kleinerer Kritikpunkt. Auch, dass mir Kaan fast den ganzen Roman hindurch unsympathisch war, kann ich verkraften, denn ein Buch braucht nicht unbedingt sympathische Charaktere, um gut zu sein, wenn denn der Rest stimmt. Was hier aber leider eher nicht der Fall war. Ich hatte mir mehr zum Thema Völkermord gewünscht, einfach eine tiefergehende Auseinandersetzung damit. Denn ja, das Thema wird mehrmals angesprochen und es wird auch ersichtlich, dass es einen großen Einfluss auf das Leben der Protagonist*innen hat; aber insgesamt war es mir doch zu knapp abgehandelt. Gegen Ende, ca. ab dem letzten Drittel, bin ich während des Lesens dann gedanklich immer häufiger abgeschweift, da hat mich der Roman dann nach und nach verloren.
Das war viel Kritik, durchweg schlecht fand ich den Roman aber trotzdem nicht. Sagen wir einfach, dass er mich dazu motiviert hat, mir an anderer Stelle mehr Informationen zu dem Thema anzulesen, und das ist doch auch schon was!

Bewertung vom 17.02.2023
Sibir
Janesch, Sabrina

Sibir


ausgezeichnet

Es ist 1945. Die Welt versinkt im Chaos, als Josef Ambacher gemeinsam mit seiner Familie und Hunderttausenden anderen Zivilisten aus Deutschland nach Kasachstan verschleppt wird. Alles, was sie bis dahin kannten, ist fort; sie müssen sich fortan in einem fremden Land, einer fremden Kultur, einer fremden Sprache zurechtfinden und sich an den Gedanken gewöhnen, fortan die Steppe ihr Heim zu nennen.
Jahrzehnte später, Josef hat inzwischen eine eigene Familie gegründet und konnte schon vor einer ganzen Weile nach Deutschland zurückkehren. Jetzt, 1990, findet er sich plötzlich in der Rolle derer wieder, die die Neuankömmlinge willkommen heißen. Denn nicht alle hatten so viel Glück, schon wenige Jahre nach der Verschleppung nachhause zurückkehren zu können; der weitaus größere Teil kommt jetzt erst nach, desorientiert, heimatlos. Josefs Tochter Leila ist noch ein Kind, als dieser ihr so fremde und doch merkwürdig vertraute Teil der Vergangenheit ihrer Familie Einzug in ihr Leben hält.

Beide Zeitebenen fügen sich großartig ineinander ein und vermitteln das Bild einer Suche nach Heimat und Heimkommen, stellen die Frage nach Zugehörigkeit und danach, wie es sich anfühlt, immer nur am Rand zu stehen und "fremd" zu sein. Die Beschreibungen dieser beiden Kindheiten, die vollkommen unterschiedlich verlaufen und doch so viel gemeinsam haben, sind eindrücklich und geprägt von Misstrauen und Angst, aber auch von Freundschaft und Menschlichkeit. Es ist also keinesfalls nur ein düsteres, bedrückendes Bild, das der Roman hier zeichnet; es gibt auch so viel Wärme in diesem Roman, im Leben Josefs und Leilas. Mich hat diese Geschichte jedenfalls sehr schnell in ihren Bann gezogen und ich hätte nach ihrem Ende auch noch eine ganze Weile weiterlesen können.

Bewertung vom 27.11.2022
Die Bücher, der Junge und die Nacht
Meyer, Kai

Die Bücher, der Junge und die Nacht


ausgezeichnet

Leipzig, 1933: Buchbinder Jakob Steinfeld verliebt sich in die geheimnisvolle Juli, die hofft, bei ihm ein Manuskript binden lassen zu können. Doch dann überstürzen sich die Ereignisse, und Juli verschwindet.
Leipzig, 1943: Der Krieg ist in vollem Gange, als ein mysteriöser Fremder einen kleinen Jungen und ein Buch aus den brennenden Ruinen eines Hauses rettet. Der Junge wird ihn von nun an begleiten, und gemeinsam werden sie Jagd auf viele weitere Bücher machen.
Leipzig, 1970er: Robert Steinfeld, der Sohn Jakobs und ebenfalls ein großer Bücherfreund, begleitet eine Kollegin, die die Bibliothek der alten Verlegerfamilie Pallandt auflösen soll. Dabei finden sie Bücher, die es eigentlich gar nicht geben dürfte.

Die Geschichte um die beiden Familien Steinfeld und Pallandt vereint jede Menge Bibliophilie, den Untergang des Graphischen Viertels während der Bombenangriffe im Dezember 1943 und die großartig erzählte Suche nach den Geheimnissen der Vergangenheit in sich. Wie immer ist es Meyer dabei ganz wunderbar gelungen, die beschriebenen Szenen in all ihren Details vor meinem inneren Auge auferstehen zu lassen. Die drei Zeitebenen ergänzen sich perfekt und erzeugen einen Spannungsbogen, der den ganzen Roman über aufrechterhalten wird. Die Figuren sind sympathisch und erlauben es sehr schnell, mit ihnen mitzufiebern, während im Hintergrund Krieg und Nationansozialismus schwelen. Das Besondere an Meyers Romanen ist für mich, dass sich in ihnen immer ein Hauch Phantastik verbirgt, dass sie bestens ohne großen Kitsch auskommen und nach spannenden Lesestunden, wenn man mühsam wieder aus ihnen auftaucht, zufrieden zurücklassen.

Große Leseempfehlung für alle Meyer-Fans und solche, die es noch werden wollen!

Bewertung vom 04.10.2022
Verbrenn all meine Briefe
Schulman, Alex

Verbrenn all meine Briefe


ausgezeichnet

Aex Schulmans erster Roman war ein Jahreshighlight für mich. Klar also, dass auch "Verbrenn all meine Briefe" hier einziehen musste - und das hat sich gelohnt.

In seinem Roman rekonstruiert der Autor die Geschichte seiner Großmutter Karin, die mit Anfang 20 den seinerzeit erfolgreichen schwedischen Schriftsteller Sven Stolpe heiratet. Das, was sie anfänglich für bloße Exzentrik gehalten hat, wird bald zu extremer Reizbarkeit, Kontrollzwang und Unterdrückung, sodass Karin stets auf der Hut sein muss vor den Unberechenbarkeiten ihres eigenen Mannes. Kein Wunder, dass sich die zarten Gefühle, die sie dann mit 24 für einen anderen Mann entwickelt, wie der langersehnte Ausweg anfühlen. Der Roman berichtet von den Ereignissen, die sich 1932, dem Jahr des Kennenlernens von Karin und Olof, abspielten.

Die Tyrannei Svens und sein hohes physisches und psychisches Gewaltpotenzial sind dabei ständig spürbar, Karins zunehmende Verzweiflung und Angst davor, bei ihrem Mann zu bleiben, aber auch davor, was er tun wird, sollte er je hinter die geheime Beziehung kommen oder sollte sie ihn gar verlassen. Ihre Zerissenheit zwischen dieser Angst und der Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben, auf ein Entkommen hin zu einem Mann, der sie so viel besser behandelt, der auf und an ihrer Seite steht - all das wird im Roman unglaublich greifbar und geht gleich nochmal viel näher, wenn man sich bewusst macht, dass das nicht nur fiktiv und vom Autor erfunden, sondern seine ganz persönliche Familiengeschichte ist.

Der Roman ist keine leichte Kost und dessen sollte sich jede*r vor der Lektüre bewusst sein. Karins Geschichte geht nahe und nimmt mit, weil man sich die ganze Zeit über nichts sehnlicher für sie wünscht, als endlich aus dieser toxischen Beziehung und der explosiven Dreieckskonstellation entkommen zu können.
Für mich ist "Verbrenn all meine Briefe" ein Roman von überraschender Intensität und Tiefgründigkeit, den ich regelrecht verschlungen habe. Er ist hart, lohnt sich aber wirklich.

Bewertung vom 17.09.2022
Die Kriegerin
Bukowski, Helene

Die Kriegerin


ausgezeichnet

"Die Kriegerin" hat etwas, dem ich mich beim Lesen kaum mehr entziehen konnte (und das, offen gesagt, auch gar nicht wollte). Vielleicht sind es die Verletztheit und das langsame, vorsichtige Sich-Öffnen der beiden Protagonistinnen, vielleicht die Schönheit der klaren Sprache, vielleicht das Gefühl, dass das alte Leben eigentlich doch nur ein Provisorium ist, ein Übergang, in dem man irgendwie steckengeblieben ist und sich jetzt fragt, warum eigentlich, und ob es da nicht noch mehr gibt, ob es da nicht noch Dinge zu entdecken gibt in den Weiten der Welt, am Ende vielleicht sogar sich selbst tief verborgen unter der alles erstickenden Decke der Vergangenheit, die erst Schicht um Schicht abgetragen werden muss wie die Kruste längst verschorfter Wunden, bevor darunter etwas Neues zum Vorschein kommen kann.

Als Lisbeth klar wird, dass sie die erdrückende Last der Mutterschaft und ihrer Neurodermitis nicht länger ertragen kann, flüchtet sie überstürzt an die Ostsee, den einzigen Ort, der ihr in ihrer Kindheit Linderung verschaffen konnte. Dort begegnet sie der Kriegerin, die sie vor Jahren während der Grundausbildung bei der Bundeswehr kennengelernt hat. Auch die Kriegerin ist auf der Flucht, doch wovor, das bleibt lange im Verborgenen. Klar ist, dass beide Frauen tief traumatisiert sind und schon vor langem einen Schutzpanzer umgelegt haben, und dass dieser inwischen so sehr Teil ihrer selbst geworden ist, dass er kaum mehr durchdrungen, geschweige denn abgestreift werden kann. Und obwohl dieser Panzer ihr Inneres vor der Außenwelt verbirgt, kann er die Frauen selbst nicht dauerhaft vor dem Einsturz des fragilen Konstrukts schützen, zu dem ihr Leben geworden ist.

Bewertung vom 16.09.2022
Schlangen im Garten
vor Schulte, Stefanie

Schlangen im Garten


ausgezeichnet

Nach dem Tod von Johanne gerät die Welt ihres Mannes Adam und ihrer Kinder Steve, Linne und Micha aus den Fugen. Doch Zeit für Trauer gibt es kaum, hält man sich an die Regeln der Gesellschaft. Dass Familie Mohn Johanne so schnell nicht vergessen und den Alltag wiederaufnehmen kann, weckt den Argwohn von Nachbarn und Traueramt - es besteht der Verdacht, dass die Trauer "verschleppt" wurde, wie eine Erkältung oder eine Grippe.

Wie schon Stefanie vor Schultes Debüt "Junge mit schwarzem Hahn" lebt auch ihr zweiter Roman von einer fantastischen, einnehmenden Sprache und ungewöhnlichen Bildern. So etwa ist es für Familie Mohn selbstverständlich, ungelesene und in Schnipsel gerissene Seiten aus Johannes Tagebüchern zum Abendessen zu verzehren, um der Verstorbenen nahe zu sein. Das ist ihr ganz eigener Umgang mit einer Trauer, die sich anfühlt wie ein riesiger Klumpen im Bauch und gegen die nichts anzukommen vermag.

Mit bemerkenwerter Präzision und Feinfühligkeit gelingt es der Autorin, Realität mit einer an Traumbilder erinnernden Phantastik zu verflechten. Eigensinnig und doch von verzaubernder Schönheit sowohl in Sprache als auch in zahlreichen der so entstehenden Szenen schafft sie einen Annäherungsversuch an die Themen Verlust und Trauer, der seinesgleichen sucht. Nicht alles daran ist immer nachvollziehbar und greifbar, aber das ist okay, denn auch die Trauer selbst ist etwas, was oftmals weit über unser Begreifen-Können hinausgeht.
"Schlangen im Garten" ist ungewöhnlich, ist bunt in seinen Bildern, poetisch in seiner Sprache. Es ist absurd und skurril und manchmal schwer zu durchdringen, aber es ist auch erfrischend in seiner Herangehensweise, einfühlsam und wärmend.
Ganz große Leseempfehlung!

Bewertung vom 12.09.2022
Sanfte Einführung ins Chaos
Orriols, Marta

Sanfte Einführung ins Chaos


sehr gut

Dass das Thema "Schwangerschaftsabbruch" nicht immer mit Pauken und Trompeten besprochen werden muss, zeigt Marta Orriols in ihrem neuen Roman ganz wunderbar. Behutsam führt die Autorin an die Fragen und Ungewissheiten heran, die mit einer ungeplanten Schwangerschaft einhergehen können. Im Zentrum stehen dabei Marta und Daniel, beide Anfang 30, beide mehr oder weniger zufrieden und erfolgreich in ihrem Job. Seit etwa 2 Jahren sind sie zusammen, das Thema "Kinder - ja oder nein" kam bisher nie auf den Tisch. Und dann, plötzlich, der positive Schwangerschaftstest.
Marta weiß: Sie will das Kind nicht.
Daniel weiß: Er will das Kind.

Was nun? Während der sechs verbliebenen Tage bis zum geplanten Termin in der Klinik begleitet man als Leser*in das junge Paar. Dabei plädiert der Roman weder klar für die eine, noch für die andere Seite. Und das ist wunderbar erfrischend, weil man sich als Leser*in nicht in die eine oder andere Richtung gedrängt fühlt, sondern Zeit bekommt, sich selbst ein Bild zu machen. Ganz ohne den Zwang, sofort ein Urteil fällen, eine Entscheidung treffen zu müssen.
Beim Lesen hatte ich das Gefühl, dass der Roman weniger ein "So-soll-es-sein" als vielmehr ein "So-ist-es-tatsächlich" skizziert. Denn ja, in der Realität haben wir selten das Privileg, uns nicht klar positionieren zu müssen; und dennoch, ich glaube, dass wir uns gerade deshalb häufig in gewisser Weise dazu verpflichtet fühlen, eine bestimmte Meinung anzunehmen. Weil diese Meinung die ist, die allgemein anerkannt ist. "Sanfte Einführung ins Chaos" verlangt das aber nicht von uns. Der Roman prangert nicht die an, deren Meinung anders aussieht. Statt zu sagen, wie wir die Dinge sehen und uns verhalten sollen, und alles an diesem Maßstab zu messen, zeigt Orriols die Ich-Bezogenheit und den Egoismus, der heimlich in vielen schlummert und aus dem Gefühl einer Pflicht zur Anpassung heraus in der Regel totgeschwiegen wird.

Sicherlich gibt es einige Punkte, die man am Roman kritisieren kann; dennoch finde ich, dass der Autorin hier eine gute und einfühlsame Heranführung an das Thema gelungen ist. Und genau das verspricht der Titel ja auch immerhin.

Bewertung vom 12.09.2022
Auf See
Enzensberger, Theresia

Auf See


sehr gut

Die Welt, in der die 17-jährige Yada lebt, ist im Untergang begriffen. Seit zehn Jahren lebt sie in der von ihrem Vater und einigen anderen gegründeten Seestadt, einer schwimmenden Stadt irgendwo in der Ostsee. Das Festland nahezu unbewohnbar und ohnehin in unerreichbarer Ferne, folgt Yada einem festen Tagesplan mit eigens auf sie zugeschnittenen Ernährungs-, Fitness- und Unterrichtsplänen. Doch nach und nach beginnt die Realität in Yadas kleine Welt hineinzusickern und lässt sie die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, Utopie und Dystopie hinterfragen.
Auf der anderen Seite haben wir Helena, die in Berlin als Orakel und Künstlerin gefeiert wird. Dank der sozialen Medien bekommt sie viel mehr Aufmerksamkeit als ihr lieb ist, und so flüchtet sie sich in Anonymität und die Arbeit an ihrem Archiv, einer Sammlung an wenig bekannten Texten über mehr oder weniger erfolgreiche Versuche, eine eignene Nation zu gründen.

Gekonnt schreibt Theresia Enzensberger von Vertrauen und Zweifel, vom Erwachsenwerden in der Isolation und dem Hinterfragen vermeintlicher Wahrheiten. Ihr Roman wirft einen Blick tief hinein in die immer weiter aufreißende Kluft zwischen fortschreitender Entwicklung, Technologie & Co einerseits und dem Leben in größter Armut andererseits. "Auf See" skizziert eine Welt gefangen irgendwo zwischen Ideologie und Idealismus, Fanatismus und Neoliberalismus, die unserer Welt gar nicht mal so fern ist. Der Roman überzeugt vo allem durch die klugen Einwürfe und den Einblick in Helenas Archiv. Die Figuren selbst bleiben dabei ein wenig auf der Strecke und die Handlung durchläuft zwar einige Wendungen, lässt sich im Wesentlichen aber in wenigen Sätzen zusammenfassen; der Spannung und Tiefe tut das zwar kaum einen Abbruch, eine etwas stärkere Fokussierung auf Protagonistinnen und Storyline - besonders zum Ende des Buches hin - hätte dem Roman dennoch nicht geschadet.

Alles in allem ein solider, kluger Roman, der sich gut lesen lässt, letztendlich aber nicht vollkommen überzeugen konnte.

Bewertung vom 25.08.2022
Intimitäten
Kitamura, Katie

Intimitäten


sehr gut

"Intimität" - ein Begriff, den wir im ersten Moment am ehesten mit zwischenmenschlichen Beziehungen in Verbindung bringen. Mit Gefühlen, mit "Einander-Nahekommen" und mit einem Zustand, der sehr schön sein kann, der aber unter Umständen auch schnell ein Zuviel mitsichbringt und dazu führt, dass Geborgenheit umschlägt in Zweifel bis hin zu Unwohlsein. "Intimität" ist kein absoluter Begriff, er hat tausend Nuancen, die sich in kürzester Zeit abwechseln können, ohne dass die Veränderung von außen sofort sichtbar wäre.
In ihrem Roman spielt Katie Kitamura mit den Feinheiten und Grenzen dieses Begriffs, mehr noch, sie wendet sie auf unsere Sprache im Allgemeinen an. Denn ebenso schnell, wie sich die Natur einer intimen Beziehung verändern kann, kann es auch unsere Wahrnehmung einer Person oder einer Handlung aufgrund dessen, welche Worte die Person wählt. Bemerkbar macht sich das vor allem immer dann, wenn wir uns mithilfe von Dolmetscher*innen verständigen müssen. Denn für die meisten Worte gibt es nicht "die eine, richtige Übersetzung" - es liegt stets auch im Ermessen desjenigen, der zwischen den Sprachen, zwischen den Menschen vermittelt, welche Wortwahl für angemessen erachtet wird. Und das kann mitunter große Auswirkungen auf das Bild haben, das wir von einer Person oder ihrer Handlung bekommen.

Mit all diesen Schwierigkeiten - den zwischenmenschlichen, den sprachlichen - sieht sich Kitamuras namenlose Protagonistin konfrontiert. Frisch aus New York nach Den Haag gezogen und noch neu in ihrem Job als Dolmetscherin für Kriegsverbrecher am Europäischen Gerichtshof, muss sie bald feststellen, dass es gar nicht so einfach ist, für beides das richtige Maß zu finden. Nicht für die Geschwindigkeit der Annäherung an eine Person und das Aufbauen von Nähe, und auch nicht für das Außenvorlassen subjektiven Empfndens beim In-Worte-Fassen von Taten, die an Grausamkeit ihresgleichen suchen.

In leisen Tönen und feinfühliger Sprache zeichnet Kitamura die Gefühlswelt einer jungen Frau nach und spielt dabei gekonnt mit den schillernden Facetten menschlicher Empfindungen und den zarten Nuancen der Sprache. Ein Roman, der nicht nur problemlos ohne klar festgelegte, greifbare Grenzen auskommt, sondern gerade mit dem Aufzeigen der Schwierigkeiten überzeugt, die mit einer solchen Fragilität und Vagheit einhergehen.

Bewertung vom 15.08.2022
Freundin bleibst du immer
Obaro, Tomi

Freundin bleibst du immer


gut

Funmi, Enitan und Zainab haben sich zu Studienzeiten miteinander angefreundet. Später leben sie sich auseinander, jede beginnt ihr eigenes Leben: Funmi führt ein Dasein in Reichtum und Luxus, der Preis dafür ist es, in ihrem eigenen Leben gefangen zu sein. Enitan verlässtnach dem Studium Nigeria für ihre Liebe, einen weißen Mann, und ist nun alleinerziehende Mutter. Zainab heiratet ihre große Liebe, muss jetzt jedoch ihren nach einem Schlaganfall gelähmten Mann pflegen. Erst 30 Jahre später treffen sie auf einer Hochzeit wieder aufeinander und ziehen Bilanz.

Erzählt wird der Roman wechselnd aus der Sicht der drei Protgonistinnen. Es gibt einen Handlungsstrang in der Gegenwart, in den sich immer wieder Passagen aus der Vergangenheit einflechten. Keiner der Frauen kam ich dabei jedoch wirklich nahe; vermutlich liegt es an der Vielfalt der Themen, dass ich mich nicht so ganz auf den Roman und die einzelnen Protagonistinnen einlassen konnte und insgesamt die Tiefe doch etwas vermisst habe. Denn der Roman will viel - er will nicht nur drei Beispiele dafür liefern, wie das Leben Frauen mitspielen kann, er möchte zudem einen Einblick in die Kultur Nigerias auf diversen Ebenen bieten. Das ist ohne Frage sehr interessant, zu oft kratzte der Roman mir dabei aber nur an der Oberfläche und ließ den tieferen Einblick vermissen, den ich mir erhofft hatte. Auch das groß angepriesene Thema "Freundschaft, die alles überdauert", habe ich beim Lesen kaum mal als solches wahrgenommen.

Mehr Gedanken der Protagonistinnen, mehr Gefühle, mehr davon, wie es den drei Frauen mit ihren gescheitereten Lebensentwürfen geht und was aus ihren einstigen Träumen geworden ist. Davon hätte ich gerne mehr gelesen. Insgesamt ist "Freundin bleibst du immer" ein gutes Buch, denn immerhin lässt es sich schön lesen und bietet einen guten ersten Einblick in die nigerianische Kultur; gerne hätte dieser für meinen Geschmack aber deutlich tiefergehend ausfallen können. Am Ende bleibe ich gut unterhalten, aber auch ein wenig enttäuscht zurück.

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