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dracoma
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LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 150 Bewertungen
Bewertung vom 13.03.2024
Notizen zu einer Hinrichtung
Kukafka, Danya

Notizen zu einer Hinrichtung


sehr gut

„Es ist nicht so schwierig, Böses zu tun.“

Die Autorin wählt ungewöhnliche Perspektiven und mutet ihren Lesern damit eine nicht leichte Kost zu. Anselm Packer ist des vierfachen Mordes schuldig und soll in 12 Stunden hingerichtet werden, der Countdown läuft. Jedes Kapitel bringt den Mörder näher an seine Hinrichtung heran. Zugleich rückt jedes Kapitel wie in einem Figurenreigen andere Personen in den Fokus. Da ist Anselms Mutter, die vor der Gewalt des Ehemannes flieht und ihre Kinder der staatlichen Fürsorge überlässt Schon hier fragt sich der Leser, inwieweit die erlebte Gewalt auch den Mörder geprägt hatte. Seine Schwägerinnen treten auf, seine Nichte, zu der er eine emotionale Bindung entwickeln kann, und seine Kindheitsgefährtin aus dem Kinderheim, die ihm seine Morde nachweist.

Die übliche Frage eines Kriminalromans nach dem Täter wird hier verdreht. Die Autorin wendet sich anderen Fragen zu. Die Morde haben nicht nur ein junges Leben ausgelöscht, sondern auch eine Zukunft. Welches Leben hätte auf die jungen Frauen gewartet? Welche Auswirkungen hat der Mord auf die Familie? Und was bedeutet seine Hinrichtung für sie? Die Angehörigen der ermordeten jungen Frauen treffen sich zum Zeitpunkt der Hinrichtung zu einer Gedenkfeier. Der Leser beobachtet die Szene und muss sich fragen, was vermutlich in diesen Menschen vorgeht und wie er sich selber verhalten würde. Und vor allem einer Frage geht die Autorin nach: Was geht in einem Menschen vor, dessen Lebenszeit abläuft? In diesen Passagen wählt sie die Du-Perspektive und rückt den Leser damit beklemmend nahe, fast verstörend nahe an den Mörder heran. Trotz dieser Nähe wird der Leser aber nicht zum Komplizen des Mörders; er begleitet ihn, das ja, aber er solidarisiert sich nicht mit ihm.

Das hängt auch damit zusammen, dass die Autorin keine Ursachen für Anselms Taten anführt. Was macht Anselm zum Mörder? Das bleibt offen. Die Autorin verschont ihren Leser mit leichtfertigen Antworten auf diese Frage, so wie sie ihn auch mit der Schilderung der Morde verschont, weit entfernt von jeder Sensationsgier.

Ähnlich zurückhaltend betrachtet sie die Todesstrafe. Sie hat einen durchaus kritischen Blick auf das amerikanische Justizsystem und seine rassistischen Auswüchse, und die detaillierte Schilderung der letzten Minuten lässt ihre Ablehnung der Todesstrafe deutlich werden.

Ein beeindruckender Roman! Sehr störend sind die vielen Verstöße gegen die Sprachrichtigkeit, die den Lesefluss immer wieder unterbrechen und zur Abwertung führen.

Bewertung vom 12.03.2024
Der Letzte seiner Art
Grimbert, Sibylle

Der Letzte seiner Art


ausgezeichnet

Der Roman beginnt mit einem grausamen Paukenschlag: dem historisch verbürgten Massaker in einer Riesenalken-Kolonie auf Eldey, einer schroff aufragenden Felswand vor Island, dem alle dort lebenden Tiere zum Opfer fielen. Riesenalke waren begehrte Jagdobjekte. Ihr Fleisch galt als Delikatesse, Federn, Fett und auch die Bälge waren begehrt, und je seltener die Tiere wurden, umso mehr wurden sie bejagt, weil auch die Museen zu Dokumentationszwecken an den Tieren interessiert waren.

Auguste, ein junger Zoologe vom Naturhistorischen Museum in Lille, reist ca. 1830 in den Norden Europas, um die dortige Flora und Fauna zu erforschen: ein Forschungsgebiet, das damals jn Mode kam. Er wird Augenzeuge des Massakers auf Eldey und rettet durch Zufall einer der Riesenalke.

Der Riesenalk wird nun sein Haustier. Weil er so gut genährt ist, nennt er ihn Prosperity, abgekürzt Prosp. Er studiert ihn, er zeichnet ihn, er sorgt für ihn, er lässt ihn angebunden im kalten Meer schwimmen. Als er fürchten muss, dass seine isländischen Nachbarn auch Prosp töten und verkaufen wollen, wechselt er auf die Färöer Inseln, wo er in rauer und einsamer Umgebung mit Prosp lebt. Heirat und Elternschaft ändern nichts an seiner Fürsorge für das Tier, was nicht immer konfliktfrei abläuft.

Die Autorin schildert sehr schön das Zusammenleben und vor allem das Zusammenwachsen von Mensch und Tier. Ist Prosp für den jungen Wissenschaftler zunächst nur ein Forschungsobjekt, dem er sich begeistert widmet, wird er im Lauf der Zeit zu einem vertrauten Hausgenossen. Die Autorin selber ist sichtlich fasziniert von der gegenseitigen Verständigung, und hier gelingen ihr sehr eindrückliche und schöne Szenen, in denen sie die Verbundenheit von Mensch und Tier beschreibt und ihren Protagonisten tierphilosophische Überlegungen anstellen lässt. Immer aber bleibt Gus die Erzählinstanz, sodass die Autorin keinerlei Anthropomorphisierung betreibt, sondern ihren wohltuend nüchternen und unaufgeregten Ton wahren kann.

Gus aber erkennt immer mehr, dass seine grundlegende Ansicht nicht stimmt, nämlich dass die Harmonie der Welt es nicht zulasse, dass etwas Lebendiges ausgelöscht würde. Sehr geschmeidig und niemals belehrend bringt hier die Autorin den damals aktuellen wissenschaftlichen Diskurs über das Verschwinden von Arten unter, wenn sie die wachsende Schwermut ihres Helden erzählt.

Wir wissen heute, dass die Riesenalke nicht aufgrund von Umweltveränderungen, sondern dass der Mensch die Ursache seiner Ausrottung ist. Insofern kann dieses kluge und unaufgeregte Buch durchaus als Plädoyer und Mahnmal aufgefasst werden.

4,5/5*

Bewertung vom 08.03.2024
Demon Copperhead
Kingsolver, Barbara

Demon Copperhead


sehr gut

Mein Hör-Eindruck:

In seinem Roman „David Copperfield“ literarisiert Charles Dickens seine eigene Geschichte: die Geschichte eines sozial benachteiligten Kindes, das trotz aller Widrigkeiten schließlich seinen Platz im Leben finden konnte. Als Leser hofft man, dass die Autorin bei ihrer Adaption auch das gute Ende dieses Romans übernimmt. Wüsste man nämlich nicht um den guten Ausgang der Geschichte, wären die nicht endenden Schilderungen von Armut, Gewalt, Hunger, Ausbeutung, Einsamkeit, Schmutz, Kinderarbeit, Rechtlosigkeit und Elend allüberall schwer zu ertragen.

Kingsolvers sozialkritischer Ansatz ist unüberhörbar, und man fragt sich betreten, wieso sich die Verhältnisse seit Dickens Zeiten nicht grundlegend geändert haben.

Die Autorin versetzt die Handlung in den Süden der USA, ins ländliche Virginia, in die Appalachen. Wie bei Dickens erzählt der Held aus der Rückschau seine eigene Geschichte. Damit hat er die Möglichkeit zu straffen und einen roten Faden herauszuarbeiten, indem er die Erzählung auf wesentliche Ereignisse reduziert. Diese Chance hätte Kingsolver deutlicher nutzen können, um den Roman zu kürzen. Seine Wucht hätte er dabei nicht verloren.
Ansonsten ist Kingsolvers Adaption sehr gut durchdacht. Das meiste Personal aus Dickens‘ Roman wird übernommen, die Handlung wird jedoch in wesentlichen Teilen der Zeit angepasst. So gerät Demon nach einer Fußballverletzung an einen Arzt, der wie so viele andere leichtfertig das Opioid Oxycontin verschreibt: ein Schmerzmittel, das sehr aggressiv und sehr erfolgreich beworben wurde und das zur sog. Opioid-Krise in den USA führte mit Hunderttausenden von Toten. Viele Abhängige konnten aufgrund der fehlenden Krankenversicherung keine Therapie beginnen. Demon aber hat Glück: sein Entzug wird finanziert, und er ist mit Lebenswillen gesegnet und lässt sich nicht unterkriegen.

Der Roman ist also nicht nur eine Adaption eines Klassikers und nicht nur der Roman eines Jungen mit großer Klappe. Mit der Geschichte Demons legt die Autorin den Finger auf das marode Sozialversicherungssystem der USA, auf die Falle der Armut v. a. in den ländlichen Gegenden und auf die mangelnde Fürsorge des Staates für seine schwächsten Mitglieder.

Der Roman wird eingelesen von Fabian Busch. Stimme, Modulation, Intonation – perfekt!
4,5/5*

Bewertung vom 02.03.2024
Fall, Bombe, fall
Kouwenaar, Gerrit

Fall, Bombe, fall


ausgezeichnet

„Fall, Bombe, fall!“ ist der Herzenswunsch des 17jährigen Karel, der sich in seinem behüteten Leben langweilt und sich nach aufregenden Veränderungen sehnt. „Eine Bombe in dies lahme Straße wäre doch wirklich fantastisch“ (S. 5 ff.).

Noch lässt sich Karel von seiner Mutter dirigieren, aber die Brüchigkeit seiner Familie und seiner Welt wird ihm immer deutlicher. Und dann fällt die Bombe, auf die Stadt und im übertragenen Sinn auch in Karels Leben. Karel wehrt sich nämlich gegen die Bevormundung durch seine Eltern und erlebt den Kriegsbeginn als die große Wende in seinem Leben.
Und das ist der Krieg tatsächlich. Karel verlässt die schützende Hülle seines Elternhauses und wird zum Flüchtigen, zum Heimatlosen, zum Unbehausten. Jetzt erhebt er schwere Anklagen. Er sei unvorbereitet in diesen Weltuntergang gegangen: „Warum haben sie mir keinen Gott gegeben, keinen Glauben, kein Ideal?“ (S. 73). Karel hat nichts mehr, was ihn stützt.

Ein ausführliches Nachwort von Will Kusters verweist u. a. auf die autobiografischen Elemente der Erzählung, die jedoch zum Verständnis nicht notwendig sind.

Nach wie vor eine beeindruckende und ernüchternde Erzählung!

Bewertung vom 29.02.2024
Oben in den Wäldern
Mason, Daniel

Oben in den Wäldern


ausgezeichnet

„... dann beginnt alles von Neuem.“

Der Roman hat einen ungewöhnlichen Protagonisten: ein Haus, ein Haus in den Wäldern Massachusetts, das zunächst in den Pioniertagen einem jungen Paar Unterschlupf gewährt. Kapitel für Kapitel wird die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner erzählt, ausgehend von der Kolonialzeit bis hin zur Gegenwart.

Eine besondere Bedeutung kommt den beiden Schwestern Osgood zu. Mit ihrem Vater zusammen, dem Major, verwandeln sie die umliegende Brache in einen blühenden Apfelgarten. Ein Garten Eden entsteht hier, und die biblischen Anklänge sind unüberhörbar. Diese fruchtbare Idylle dieses Paradieses wird mit dem Haus zusammen zu einem Zentrum des Romans. Aber schon bei der Schaffung des Paradieses taucht das andere zentrale Motiv des Romans auf: der Verfall. Der Roman erzählt zwar vordergründig die Geschichte des Hauses und des Gartens, aber das eigentliche Thema ist das Werden und Vergehen, der Kreislauf des Lebens. Zeiten kommen und gehen, das Paradies verfällt, Neues entsteht, alles ändert sich, alles fließt. Und am Schluss schließt sich der Kreis: die Kraft des purgatorischen Feuers zerstört das Haus und „dann beginnt alles von Neuem“.

Die Erzählung besteht aus einzelnen Episoden, die zunächst elliptisch wirken, aber vom Autor kunstvoll und unaufdringlich mit wiederkehrenden Motiven miteinander verzahnt werden. Jede Szene hat ihre Berechtigung. Viele Szenen erzählen von der engen Verbundenheit, fast Verwobenheit des Menschen mit den anderen Geschöpfen der Natur, Fauna und Flora eingeschlossen. Alle sind miteinander verbunden, und es nicht nur der gefährliche Puma, der die Schafherde dezimiert, sondern es sind auch winzigste Organismen wie Käfer und Milben, die weitgehenden Einfluss auf die Natur und deren Gleichgewicht nehmen. Alles Lebende fügt sich in den Kreislauf aus Werden und Vergehen ein.

Zu der Vielfalt der Natur und der Zeiten passt auch die Vielfalt der Genres. Mason bietet seinem Leser eine unglaubliche Fülle an Erzählformen an, von Tagebucheinträgen über Balladen bis hin zur Parodie eines True crime-Reporters aus dem 20. Jahrhundert. Jede Erzählform hat ihren eigenen Ton und passt sich der Zeit und dem Genre an.
Und das alles leicht und phantasievoll von Cornelius Hartz übersetzt.

Ein wunderbares Lesevergnügen!

Bewertung vom 21.02.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


ausgezeichnet

Hunter White heißt der Protagonist, und der Name ist Programm: er ist der weiße Jäger. Er liebt das Jagen und wurde von frühester Kindheit von Vater und Großvater an die Jagd herangeführt. Er weiß wie jeder Jäger, dass die Jagd auch eine ethische Seite hat: der Schuss muss sitzen, eine Nachschau muss vermieden werden, und wenn ja, dann muss das Tier schnellstmöglich getötet werden, um sein Leiden abzukürzen.

Hunter White liebt auch Trophäen, und auch seine Frau freut sich über die Präparate seiner Jagderfolge. In seiner Trophäensammlung der Big Five fehlt ihm jedoch noch ein Tier: das Nashorn. Und so verabredet sich Hunter White mit seinem Freund van Heeren zur ungesetzlichen Jagd im südlichen Afrika.

Van Heeren ist ein Geschäftsmann, der weltweit große Landstriche aufkauft, um sie vor der Zerstörung, der Zersiedlung etc. zu retten, und so auch hier in Afrika. In seinem Gebiet liegt ein Dorf, das er unterstützt, und sein finanzieller Einsatz und sein Schutz ermöglichen es den Bewohnern, ihre Traditionen lebendig zu erhalten und wie ihre Vorfahren zu leben und zu jagen. Weil der Abschuss des Nashorns durch Wilderer nicht wie geplant abläuft, nimmt van Heeren seinen Freund auf einen Hochsitz mit, von dem aus sie die traditionelle Jagd von zwei Jungen aus dem Dorf beobachten. Hunter White, der weiße Jäger, ist fasziniert von der Naturkenntnis, der Beobachtungsschärfe, dem Eins-Sein mit der Natur, aber auch von der Schönheit der Bewegungen. Er empfindet die beiden Jungen als Teil der sie umgebenden Natur und ist sexuell erregt.

Van Heeren beobachtet die Reaktion seines Freundes und bietet ihm daher die Big Six an – und nun entfaltet sich ein Jagderlebnis der besonderen Art. White befürchtet, dass er vom Jäger zum Gejagten wird und wird an die Grenzen seiner selbst getrieben. Am Ende durchschaut der weiße Jäger das makabre und menschenverachtende Spiel der Jagd, und er verliert seine Illusionen über den Naturschutz seines Freundes.

Auch der Leser verliert seine Illusionen, sollte er welche gehabt haben. Schritt für Schritt erkennt er das neokoloniale Denken der weißen Protagonisten und ein perfides Abhängigkeitssystem, in dem auf beiden Seiten gegeben und genommen wird. Umweltschutz und Liebe zur Natur werden hier ins Gegenteil verkehrt, Gewissenlosigkeit und Geldgier korrumpieren die Menschen. Ethik und Moral sind lediglich die äußere Tünche.
Das Buch besticht mit seinen grandiosen und detaillierten Naturbeschreibungen, die mit quälenden Szenen und mit fast alptraumartigen Sequenzen kontrastiert werden.

Ein beeindruckendes Lese-Erlebnis mit einem aufwühlenden Schlussbild, das die Antwort auf die aufgeworfenen ethischen Fragen dem Leser überlässt.

Bewertung vom 15.02.2024
Kalmann und der schlafende Berg
Schmidt, Joachim B.

Kalmann und der schlafende Berg


sehr gut

Schmidt, Kalmann


Was für eine verzwickte Geschichte! Viele Rückbezüge machen deutlich, dass Vorwissen aus dem 1. Band das Verständnis erleichtert, aber es ist keine Voraussetzung. Als neuer Leser wundert man sich über manche Reaktionen des Protagonisten, bis man erkennt, dass Kalmann, der Sheriff von Raufarhöfn aus eigenen Gnaden, das Down-Syndrom hat – eine „Behinderung“, mit der sich der Autor offensichtlich sehr gut auskennt.

Kalmann liebt nämlich die Ordnung, und daher sorgt er engagiert dafür, dass auf dem Parkplatz eines großen Supermarkts Ordnung herrscht und die Einkaufswagen wieder da stehen, wo sie hingehören. Eine Einladung seines Vaters in die USA lässt Kalmann am Sturm aufs Kapitol teilnehmen, führt zu einer Verhaftung und zur Entdeckung, dass sein geliebter Großvater Spion gewesen war – eine Räuberpistole tut sich auf, die in einem gewaltigen Showdown endet. Der Autor öffnet mit Themen wie Umweltverschmutzung, Kalter Krieg, Corona, Spionage einige Fässer, auf die er aber nicht immer einen Deckel draufsetzen kann. Dadurch wirkte die Geschichte auf mich recht konstruiert.

Dennoch entfaltet diese besondere Hauptfigur einen Charme, dem man sich nicht entziehen kann. Kalmann ist in seiner direkten und menschlich so zugewandten Art einfach nur liebenswert. Man muss ihn fast bewundern, wie selbstbewusst und einsichtig er mit seinen kognitiven Einschränkungen umgeht. Mit Kalmann und auch mit dessen Mutter sind dem Autor zwei eindrückliche und authentische Charakterzeichnungen gelungen.

Bewertung vom 14.02.2024
Sich fügen heißt lügen. Henning Venske liest Erich Mühsam (MP3-Download)
Venske, Henning

Sich fügen heißt lügen. Henning Venske liest Erich Mühsam (MP3-Download)


ausgezeichnet

„Ich bin ein Pilger, der sein Ziel nicht kennt“

Wie schön, dass Erich Mühsam wieder in den Blickpunkt rückt! Man freut sich. Und mit Erich Mühsam rückt die Zeit des engagierten Kampfes um Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie wieder in den Blickpunkt; ein Kampf, der Erich Mühsam und andere das Leben kostete.

Henning Venske begleitet in seiner Lesung den Dichter und den Menschen. Dabei verknüpft er die vielen Stationen von Mühsams Leben mit dessen unterschiedlichen Werken. Und so entsteht beim Leser das Bild eines außergewöhnlichen Menschen, eines leidenschaftlichen Pazifisten und unbeugsamen Antifaschisten. Mühsam wendet sich gegen Militarismus und Unterdrückung in jeder Gestalt, sei es politisch, wirtschaftlich oder gesellschaftlich. Seine ganze Energie und Wortgewalt setzt er ein für eine Zukunft, die den Menschen frei macht, v. a. frei von Ungleichheiten, von Kriegen und von Auswüchsen des Nationalismus, die er sehr scharf erkennt. Für diese politischen Ziele setzte er sich auch als führendes Mitglied der Münchner Räterepublik ein.

Schon früh warnt Mühsam vor der Kriegstreiberei und der allgemeinen Kriegsbegeisterung, und weil er als Kriegsursache das Streben des Großkapitals nach Profit erkennt, wendet er sich dem Sozialismus und Kommunismus zu, allerdings ohne sich von einer Partei vereinnahmen zu lassen.

Wenn er die Völkerverständigung beschwört, gewinnen seine Texte eine aufrüttelnde Schärfe und einen bitteren Ernst:
Vergesst den Freund im Feinde nicht!
...
Dann sinken Grenzen, stürzt die Macht,
und alle Welt ist Vaterland,
und alle Welt ist frei!

Die Texte sind sehr schön ausgewählt, und auch Mühsams leichtfüßige Gedichte kommen nicht zu kurz, wie z. B. „Der Gesang der Vegetarier. Ein alkoholfreies Trinklied“, mit dem er das allzu gesunde Leben der bunten Aussteigerkolonie auf dem Monte Veritá bei Ascona ironisch-sarkastisch aufs Korn nimmt.

Henning Venske trägt seine Lesung mit derselben Leidenschaft vor, die den Texten Mühsams eigen ist. Mühsams Botschaft des Anarchismus – dass kein Mensch einen anderen Menschen beherrschen dürfe – hat hier einen engagierten Vertreter gefunden.

Ein eindrückliches Hörvergnügen!

Bewertung vom 14.02.2024
In den Wipfeln der Kiefer
Nurmi, Alvar

In den Wipfeln der Kiefer


sehr gut

Der Autor liebt Finnland, und zwar so sehr, dass er sich ein finnisch klingendes Pseudonym zulegt. Mit dem Namen „Nurmi“ erinnert er an den legendären Olympiasieger Paavo Nurmi. Eine lustige Idee!

Die Liebe des Autors zu Finnland kann jeder gut nachvollziehen, der Finnland, wenn auch nur partiell, bereist hat. Der Krimi spielt in Helsinki, und das Lokalkolorit zeigt sich weniger in den Landschaften und auch nicht in der beeindruckenden Lage Helsinkis, sondern in den Namen und vor allem der Tradition des Saunierens. Sogar während des Dienstes wird auf der Polizeistation sauniert: die Polizeistation hat eine Sauna, die pünktlich am Morgen vom Hausmeister angeschaltet wird. Erstaunlich!

Der Krimi selber folgt dem bewährten Muster Dienst + Schnaps, also der Vermischung von Beruflichem und Privatem. Wir erfahren einiges über das nicht einfache Familienleben des Ermittlers Mika, denn wessen Frau verschwindet schon ohne Gepäck und ohne Geld?

Die Ereignisse folgen chronologisch aufeinander, Tag für Tag. Wir erfahren jede Menge Details, vom Zähneputzen angefangen bis hin zum fehlenden Toner im Drucker und dem Baujahr seines Fords. Die tägliche Arbeit ist geprägt von Frust, von Ärger über Schlampereien der Kollegen, aber auch von schwer verständlichen Einzelgängen.

Sprachlich überzeugt der Krimi nicht immer. Da liegen schon mal „rundliche Wangen... wie sanfte Hügel auf dem gepflegten Teint“, und Mika schmeißt teilweise mehrmals pro Seite etwas weg oder auch sich selbst aufs Bett.

Trotzdem: Mika mit dem unaussprechlichen Nachnamen schafft das. Er geht in die Sauna, schwitzt eine Runde und löst den Fall.
Zu meinem Vergnügen!

Bewertung vom 10.02.2024
Aprikosenzeit, dunkel
Kulenkamp, Corinna

Aprikosenzeit, dunkel


sehr gut

Mein Lese-Eindruck:

Karine ist Deutsch-Armenierin, hat ihr Studium gerade abgeschlossen und muss sich neu orientieren. Daher entschließt sie sich, nach Armenien, dem Land ihrer Vorfahren mütterlicherseits, zu gehen, auch wenn dieses „neue“ Armenien im Osten nicht die eigentliche Heimat ihrer Mutter ist. Sie arbeitet in einer NGO, die von Exilarmeniern finanziert wird, und so lernt sie sehr schnell das Land und seine Eigenarten kennen. Sie fremdelt zunächst, aber im Lauf der Zeit verwächst sie mit dem Land und findet dort ihre Heimat.

Karine trifft auf ein Land, das stark geprägt ist von der sowjetischen Vergangenheit. Nach wie vor bestimmen mächtige russische Oligarchen das politische und wirtschaftliche Leben und verhindern jede demokratische Partizipation und auch jeden wirtschaftlichen Aufschwung. Korruption, Nepotismus und patriarchalische Strukturen beherrschen das Land.

Und noch eines kommt dazu: der fehlende Mittelpunkt. Sehr schön beschreibt die Autorin einen Ausflug nahe an die türkische Grenze und den Blick über das Sperrgebiet hinweg nach Ani, der ehemaligen Königsstadt der Armenier. Ani gibt es nicht mehr, die mächtige Kathedrale zerfällt zur Ruine, Ani ist unerreichbar und liegt fern im Dunst. Ein schönes Bild! Karine und der Leser erkennen: Das moderne Armenien kann nur ideell anschließen an seine glanzvolle Vergangenheit, und Armenien fehlt der Identifikationsfaktor eines gemeinsamen historischen Mittelpunkts; diesen Mittelpunkt kann der moderne Präsidentenpalast in Jerewan nicht bieten.

Es ist natürlich schwierig, dem Leser die Strukturen eines Landes ausschließlich durch die Handlung näherzubringen. Die Autorin versucht es durch Dialoge, die jedoch vor allem zu Beginn recht hölzern und sehr bemüht wirken. Das und anderes wird jedoch schnell wettgemacht durch die eindringliche Schilderung der politischen und auch gesellschaftlichen Umbruchsituation, in die Karine hineingerät.

Durch kurze, kursiv gesetzte Zwischentexte wird der furchtbare Genozid zu Beginn des I. Weltkrieges wieder in die Gegenwart gehoben. Mir persönlich hat es gefallen, wie geschickt die Autorin die Mitschuld Deutschlands als Nachfolgestaat des Kaiserreichs in die Handlung hineinflicht.

Der Roman rückt das ferne Armenien nah an seine Leser heran und weckt Verständnis für seine schwierige und so konfliktreiche Lage. Durch die momentanen Ereignisse in der armenischen Enklave Bergkarabach erhält der Roman eine traurige Aktualität.

Ein wichtiges Buch, das neugierig macht auf weitere Bücher der Autorin.