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Benutzername: 
dracoma
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LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 188 Bewertungen
Bewertung vom 21.08.2024
Das Haus in dem Gudelia stirbt
Knüwer, Thomas

Das Haus in dem Gudelia stirbt


sehr gut

Im Mittelpunkt des Romans steht Gudelia, und sie steckt in einer Situation, die dem Hochwasser-Unglück an der Ahr im Jahre 2021 nachgebildet wurde. Aus Gudelias Leben werden drei Jahre herausgegriffen: das Jahr 1984, in dem sie Tod ihres Sohnes Nico hinnehmen muss, dann das Jahr 1998, in dem sie ihren alkoholkranken Mann dazu bewegen kann, ihr das Haus zu überschreiben, und schließlich 2024, das Jahr des Hochwassers. Ihr Haus ist unterspült und einsturzgefährdet, aber sie weigert sich beharrlich, das Haus zu verlassen.
Welches Geheimnis verbirgt sich im Haus?

Der Leser erkennt sehr schnell, dass die Schlaglichter auf diese drei Jahre alle miteinander ursächlich verbunden sind und im Grund zusammen ein gewaltiges Spotlight auf ein menschliches Drama ergeben. Gudelia bleibt die einzige Erzählinstanz, sodass wir alle Ereignisse ausschließlich durch ihre Brille sehen, und daher ist der Roman trotz einiger Krimi-Elemente eher ein Psychogramm Gudelias als ein Krimi.

Im Mittelpunkt steht Gudelias Liebe zu ihrem Sohn Nico. „Nico ist mein Leben“, sagt sie, und sie ordnet ihr gesamtes Leben vollständig ihrem Sohn unter. Sie isoliert sich, ihr Haus wird für sie zu einer Art Trutzburg. Auch die Beziehung zu ihrem Mann leidet unter Sprachlosigkeit. Die Liebe zu ihrem Sohn bestimmt noch über dessen Tod hinaus ihr Leben. Hier entstehen jedoch skurrile und streckenweise sehr makabre Auswüchse, die nicht immer glaubwürdig sind.

Trotzdem liest sich das Buch angenehm. Die Spannung wird durch scheinbar nebensächliche Bemerkungen immer wieder neu aktiviert. Man erkennt zwar recht schnell, worin Gudelias Geheimnis besteht, aber es bleibt bis zum Schluss offen, wie sie es so lange sichern konnte und vor allem: wen es betrifft.

Bewertung vom 18.08.2024
Und dahinter das Meer
Spence-Ash, Laura

Und dahinter das Meer


sehr gut

Mein Hör- und Lese-Eindruck:

Ein wunderbarer Romananfang, der Lesefreude verspricht: ein Blick zurück, eine wehmütige Grundstimmung, Konflikte werden angedeutet, und im Mittelpunkt steht Beatrix. Um sie herum gruppieren sich ihre Herkunftsfamilie mit der Mutter Millie im Zentrum und ihre neue Familie in den USA, die aus Nancy und Ethan und ihren beiden Söhnen William und Gerald besteht.

Diesen Personen folgt der Roman chronologisch von 1944 bis 1977, und zwar in Zeitsprüngen. Die Autorin entscheidet sich für einen Episodenstil, der dazu führt, dass der Leser mit Leerstellen klarkommen muss, die er nicht immer eindeutig füllen kann.

Die vielen Episoden bindet die Autorin aber erzählerisch sehr geschickt zusammen. Sie doppelt manche Handlungselemente; so wird z. B. in den USA ein Kleid für Bea gekauft, während die Mutter in London ein Kleid ihrer Tochter weggibt. Zusätzlich setzt die Autorin durchgängige Motive ein wie z. B. das Schachspiel, das sie wirkungsvoll entfaltet, wenn sie die Familien und die Generationen damit zusammenbindet. Sehr aufwändig arbeitet sie mit dem Mittel des Kontrapunkts, wenn sie Personen wie z. B. die beiden Mütter oder die Brüder als Gegensatz gestaltet, wobei der Kontrast aber oft zu scharf, zu pointiert ausfällt.

Darüber hinaus hat mir das Erzählen der Autorin sehr gut gefallen. Sie gestaltet sehr stimmige Szenen, und vor allem bei schmerzlichen Szenen verzichtet sie auf Lamento und Dramatik, sondern erzählt unaufdringlich und empathisch. Jede Einzelszene wirkt gut durchdacht und sorgfältig komponiert. Dasselbe gilt auch für den Roman als Ganzes.

Die Schwächen des Romans liegen im Plot. Das Ziel des Romans ist offensichtlich die allumfassende Harmonie der Familie, die wieder ihren Sehnsuchtsort, den angestammten Sommersitz bewohnt. Diesem Ende wird alles untergeordnet. Die angedeuteten Konflikte werden keiner Klärung zugeführt, sondern sie verpuffen einfach. Auch die Figurengestaltung muss sich dem intendierten Ende unterordnen. Die Autorin vergibt jede Möglichkeit, einen Konflikt und damit auch ihre Figuren zu entwickeln. Ihre Figuren wachsen nicht an den Konflikten, sondern sie machen abrupte Änderungen durch, die nicht motiviert werden und daher unglaubwürdig sind. Und wenn die Figuren von ihrer ursprünglichen Anlage nicht zum Ende passen wollen, werden sie gewaltsam zurechtgebogen und sogar -gebrochen. Und das Ende muss man mögen: alle unter einem Dach, alle Generationen vereint, innere und äußere Ähnlichkeiten werden beschworen, jeder ist nur Teil einer Generationenkette, endlich ist jeder glücklich, keine Konflikte, keine Sorgen, keine finanziellen Probleme.

Schade. Die vielversprechenden Ansätze des Beginns werden nicht genutzt.

Trotzdem bin ich überzeugt, dass der Roman seine Leserinnen finden wird, die wohlig-seufzend damit einverstanden sind, dass der märchenhafte Schluss wenig mit der Realität zu tun hat.

Das Hörbuch wurde eingelesen von Sandrine Mittelstädt. Sie liest in einem angenehmen Tempo, und ihre Stimme hat ein besonderes Timbre, ich habe ihr sehr gerne zugehört. Das Hörbuch ist gekürzt, die Kürzungen sind aber geschickt vorgenommen worden.

Bewertung vom 18.08.2024
Eve (MP3-Download)
Towles, Amor

Eve (MP3-Download)


sehr gut

30er Jahre. Ein Mann und eine Frau im Zug nach Los Angeles: Charlie, eher alt, ein ehemaliger Polizist, und Eve, die durch eine große Narbe im Gesicht auffällt und nicht viel von sich preisgibt. In Los Angeles verlieren sich die Beiden aus den Augen, und auch der Leser muss zunächst auf sie verzichten.

Dafür lässt Towles ihn eintauchen in die Welt Hollywoods. Eine bunte Welt tut sich auf, aber auch eine menschenverachtende. Ein alter Schauspieler, dick geworden und seit langem ohne Rollen, verzweifelte Menschen, junge ehrgeizige Schauspielerinnen, die nach oben kommen wollen, die Macht der Produzenten und ihr Konkurrenzkampf, Verträge, die die Schauspieler knebeln, windige Juristen, Intrigen und skrupellose Agenten – hier zeigt der Autor die Filmindustrie aus verschiedenen Blickwinkeln. Es kommt ihm offensichtlich nicht auf die Handlung an, sondern auf eine Beschreibung der nach außen hin so glanzvollen Welt des Films. Allerdings zerfasert der Roman durch die vielen Perspektiven. Towles kritischer Blick ist unübersehbar, wird aber immer gemildert durch seinen eleganten, humorvollen Erzählton. Und diesen Erzählton trifft der Sprecher Hans Jürgen Stockerl perfekt.

Im 2. Teil mausert sich der Roman unvorhergesehen zu einem Kriminalroman. Nacktfotos von berühmten Schauspielerinnen, Erpressungsversuche und Korruption sind die Zutaten, und mittendrin Eve. Eve hat sich zwischenzeitlich mit Olivia de Havilland angefreundet und übernimmt nun den Schutz ihrer Freundin. Sie erweist sich als starke Frau: willensstark, durchsetzungsstark, nervenstark. Hier mäandert die Erzählung, weil ein- und dieselbe Handlung aus einer jeweils anderen Perspektive erzählt wird und damit Tempo verliert.

Bis zum Schluss fragt sich allerdings der Leser, wer Eve eigentlich ist. Sie gibt nichts von sich preis, und auch der Autor lässt sie als geheimnisvolle Schöne stehen. Sehr schön die Schlusszene: Beim Dreh von „Vom Winde verweht“ wird die Kulisse übermalt, um die Auswirkungen des Krieges zu zeigen. Alles nur Schall und Rauch, wie das Leben.

Bewertung vom 11.08.2024
Gegenlicht
Saisio, Pirkko

Gegenlicht


ausgezeichnet

Pirkko ist 19 Jahre jung und hat Träume. Gerade hat sie ihr Abitur gemacht und will die Welt sehen, v. a. ihr Traumland Schweiz. Und da macht sie ihre ersten Gegenlicht-Erfahrungen: die Schweiz mag durchaus ein Gegenentwurf zu Finnland sein, aber ein Traumland ist sie nicht. Frauen dürfen hier nicht wählen, die Schulbücher erzählen dummes Zeug über die Finnen, und den Nationalstolz der Schweizer empfindet sie als arrogant.

Auch ihr Lebenstraum muss ein scharfes Gegenlicht aushalten. Sehr humorvoll erzählt Pirkko Saisio von ihrem Traum, ein Schweizer Waisenhaus in idyllischer Lage zu leiten, wo sie von den lieben Kindern abgöttisch verehrt wird. Die Wirklichkeit sieht anders aus: das Haus, in dem sie ein Praktikum ableistet, ist alles andere als ein idyllischer Ort, sondern geprägt von Konkurrenzdenken, Egoismus und oft lieblosem Umgang mit den Kindern.

Die radikale Ernüchterung führt dazu, dass sie sich von ihrem romantischen Ideal einer umschwärmten Waisenhausmutter verabschiedet und ihre eigentliche Stärke entdeckt: das Beobachten von Menschen und das Schreiben über Menschen. Und dann fällt ein so wunderbarer Satz über ihre Erkenntnis: „denn ihre Welt, das hat sie noch immer nicht erkannt, besteht aus Menschen, spinnennetzfeinen Fäden: raschen Blicken; […] unausgesprochenen Worten und ausweichenden oder nachgebenden Gesten; endlosem Rätselraten und tastenden Interpretationen.“

Das ist nur ein Beispiel für ein „Gegenlicht“, dem die junge Pirkko ausgesetzt ist. Ihre Jugend wird quasi durchzuckt von Gegenlichtern: ihre Hinwendung zur Religion, ihr Interesse für Literatur und Kunst in einem Elternhaus, in dem lediglich die Werke von Stalin und Lenin im Regal stehen, die zögernde Entdeckung ihrer sexuellen Identität und schließlich der Wunsch, Schriftstellerin zu werden.

Das alles erzählt Pirkko Saisio mit einer Leichtigkeit und Ehrlichkeit, die den Mief der 50er und 60er im kommunistisch orientierten Finnland noch deutlicher hervortreten lassen. Immer wieder springt sie zwischen den Zeitebenen hin und her und wechselt von der Ich-Erzählung zum reflektierten, beobachtenden Sie-Erzählen.

Damit schafft sie eine Distanz zwischen ihren beiden Ichs, dem der Jetzt-Zeit und ihrer Situation als bekannteste Autorin Finnlands, und dem Ich der erzählten Zeit ihrer Jugend. Ein witziger Kunstgriff gelingt ihr, wenn ihre beiden Ichs in einen kurzen Dialog eintreten. Sie betrachtet sich selber und ihre kommunistische kleinbürgerliche Familie mit einem scharfen Blick, aber vor allem einen wunderbar leichten und menschenfreundlichen Humor. Und das alles in assoziativen Splittern, die jede Chronologie aufbricht bzw. erst im Nachhinein deutlich werden lässt.

Großes Lese-Vergnügen!

Bewertung vom 04.08.2024
Anständige Leute
Padura, Leonardo

Anständige Leute


ausgezeichnet

Krimi? Das ist dieser Roman nur vordergründig. Er erzählt vom kubanischen Lebensgefühl, der Geschichte der Insel und der kubanischen Gesellschaft, die durch extreme Gegensätze gespalten wird und die vor allem geprägt ist von der Unterdrückung durch Diktatoren und ihre korrupten Nutznießer. Sehr eingängig zeigt Padura auf, dass man die Gegenwart nur versteht, wenn man die Vergangenheit kennt und wie die Gegenwart immer bestimmt wird von der Vergangenheit.

Dazu erzählt er in zwei Handlungssträngen mehrere Kriminalfälle aus verschiedenen Zeiten. Ein Handlungsstrang befasst sich mit zwei über 100 Jahre zurückliegenden Morden aus dem Rotlicht-Milieu im Umkreis des charismatischen Alberto Yarini, einer in Kuba nach wie vor umglänzten historischen Gestalt. Hier ist es ein junger Polizist, der in der Rückschau erzählt, wie er Schritt für Schritt in die Verkommenheit seiner Zeit hineingezogen wird.

Auch im anderen Handlungsstrang ist ein Polizist der Erzähler: Mario Conde, inzwischen in die Jahre gekommen und aus moralischen Gründen aus dem Polizeidienst ausgeschieden. Conde hat sämtliche Illusionen und jeden Fortschrittsglauben verloren. Ein einsamer Mensch, der sein kleines Glück täglich neu finden muss. Auch seine Morde sind in einem dekadenten Milieu angesiedelt: im Milieu der Unterdrücker und ihrer Nutznießer.

Padura verbindet beide Handlungsstränge nicht nur durch die Gemeinsamkeiten der Erzähler und das Milieu, sondern auch dadurch, dass er alle Mordfälle ursächlich ineinanderfügt und damit ein sehr deprimierendes Bild seiner Heimat zeichnet: das eines Landes, das schon immer bestimmt wurde von Unterdrückung, Korruption und Verkommenheit auf der einen Seite und Angst, Hass, Verzweiflung und großer Armut auf der anderen Seite.

Padura verklammert darüber hinaus seine Handlungsstränge durch einen ethischen Gesichtspunkt. Wie kann ein Mensch in schwierigen Zeiten seinen Anstand bewahren? Sich nicht korrumpieren zu lassen? Ist ein Mensch, der blutige Rache an einem Richter und Henker nimmt, anständig? Heiligt der Zweck die Mittel?

Die Beantwortung dieser Frage überlässt Padura dem Leser.

Fazit: Das Buch fordert die Konzentration des Lesers, aber entschädigt mit prallen Schilderungen Kubas und einem stets präsenten augenzwinkernden Humor.

Bewertung vom 23.07.2024
Der Totenarzt / Detective Robert Hunter Bd.13 (2 CDs)
Carter, Chris

Der Totenarzt / Detective Robert Hunter Bd.13 (2 CDs)


sehr gut

Ein Mord, der als Selbstmord bzw. als Unfall getarnt wird – das ist vielleicht keine neue Idee für einen Krimi, aber auf alle Fälle ein Ausgangspunkt, der funktioniert. Chris Carter nutzt die Möglichkeiten sehr geschickt aus, wenn er beschreibt, wie sich das Ermittlerduo dem Mörder anhand von kleinsten Indizien und einem glücklichen Zufall annähert. Hier erzählt ein Profi, der weiß, wie man Spannung aufbaut und wie man seine Leser mitnimmt. Seine Erzählung ist immer fokussiert, die Dialoge sind gekonnt ausgebaut, und die meisten Kapitel schließen mit einem effektvollen Cliffhanger. Dazu nutzt er die Möglichkeiten des Perspektivenwechsel, wenn er abwechselnd die Jäger und das Opfer des Gejagten sprechen lässt und damit seinen Leser immer nahe am Geschehen hält.

Die Morde sind sehr grausam, aber dem Leser wird nur das Ergebnis präsentiert und nicht der Vorgang – vielen Dank, Herr Carter. Das Spiel des Bösewichts mit seinen Werkzeugen reichte mir durchaus, um meine Phantasie in Gang zu setzen. Wer also dezidiert Grausamkeiten lesen will, kommt hier nicht ganz auf seine Kosten. Ich wäre auch mit weniger Blut sehr einverstanden gewesen.

Am Schluss folgt Carter dem bekannten Muster: der Jäger wird selber Opfer des Gejagten, und der Letztere nutzt die Gelegenheit, seine Lebensgeschichte zu erzählen und sich selber als Opfer darzustellen. Hier kippt die Geschichte endgültig um ins Unglaubwürdige und maßlos Übertriebene.

Der Sprecher Uve Teschner reißt die Geschichte heraus. Er liest strukturiert und engagiert, einfach perfekt.
3,5/5*

Bewertung vom 22.07.2024
Seinetwegen
Del Buono, Zora

Seinetwegen


ausgezeichnet

Mich hat Zora del Buonos Roman sehr beeindruckt.

Die Autorin wächst vaterlos auf und empfindet sich deshalb ihr Leben lang als anders. Sie stellt ihre „Deformationen“, wie sie es nennt, dem Leser vor, z. B. ihr Problem mit festen Zweierbeziehungen und ihre Verlustängste. Der große Schmerz der Mutter und ihr Schweigen hatten das Kind Zora für ihr Leben traumatisiert. Zum Zeitpunkt des Erzählens ist Zora del Buono 60 Jahre alt, sie ist beruflich erfolgreich und betrachtet ihr Leben insgesamt als gelungen – und nun will sie die Leerstelle füllen, die ihr Vater hinterlassen hat. Sie will aber nicht das kurze Leben ihres Vaters nachzeichnen, sondern sie will seinen „Töter“ finden, von dem sie zunächst nur die Initialen hat: E.T. Also reist sie an die Orte ihrer Kindheit und begibt sich auf Spurensuche.

Ihre Erzählung ist durchsetzt mit Exkursen z. B. zur Lokal- und Sozialgeschichte der 70er Jahre wie etwa der Situation der italienischen Gastarbeiter, die sie als Tochter eines Italieners anders wahrnimmt als ihre damaligen Freunde. Irritiert erlebt sie, dass sie jetzt selber auf dem Land zur Fremden geworden ist, der die Menschen mit Vorbehalten gegenübertreten. Dennoch fügt sich aus ihren Erinnerungen, aus Archivmaterial, aus Briefen, aus Gerichtsprotokollen, assoziativen Episoden und Reflexionen ein immer dichter werdendes Bild der Zeit zusammen.

Wichtig sind die Treffen mit Freunden im Kaffeehaus, die sie zur Recherche ermuntern und ihr aber auch zeigen, dass ihr Schicksal nicht einzigartig ist. Die Gesprächsnotizen strukturieren die Erzählung und geben ihr einen zusätzlichen inneren roten Faden.

Besonders gut gefallen haben mir die Überlegungen der Autorin zur eventuellen Homosexualität des E.T. Ist sie ihm in Berlin vielleicht begegnet? Floh er vor der restriktiven Moral der Schweiz nach Berlin, ist sie ihm vielleicht auf den ausschweifenden Festen dort begegnet? Auch die Entdeckung, dass er, wie sie, ein großer Hundefreund ist, macht das Phantom E. T. greifbarer und menschlicher.

Das alles erzählt die Autorin in immer ruhigen Ton, sprachlich ausgefeilt, aber ohne manieriert zu wirken, immer sachlich, ohne ins Rührselige abzurutschen.

Ein lesenswerter Roman, der aufzeigt, wie sehr der frühe Verlust eines Elternteils das Leben des Kindes prägen kann.
4,5/5*

Bewertung vom 19.07.2024
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


ausgezeichnet

Lynch, Das Lied des Propheten

Regierungswechsel in Irland, und die NAP, eine nationalistisch orientierte Partei, trägt den Wahlsieg davon. In rasantem Tempo setzt die Regierung nun die Mittel ein, die eine rechtslastige, faschistoide Regierung hat. So wird die ordentliche Gesetzgebung ausgeschaltet und durch Notverordnungen ersetzt, die Grundrechte werden beschnitten bzw. abgeschafft, Zensur, Geheimpolizei, willkürliche Verhaftungen, Ausgangssperren, Ausschaltung politischer Gegner, Sippenhaft und so fort. Das ist kein neues Szenario; die Geschichte, auch die Zeitgeschichte, bieten hinreichend Beispiele.

Die Regierung bzw. die Partei bleibt als dunkle, nicht greifbare Macht im Hintergrund. Der Autor rückt stattdessen eine Familie in den Mittelpunkt und zeigt, welche Auswirkungen der politische Rechtsruck auf diese Familie hat. Der Roman startet mit dem Verschwinden des Vaters, eines führenden Gewerkschaftlers, und es bleibt nun Sache seiner Frau Eilish, einer Wissenschaftlerin, ihre vier Kinder und ihren Vater durch das Chaos zu bringen und ihre Familie zu schützen. Der Familie droht die äußere und innere Zertrümmerung, wie es das Cover eindringlich zeigt. Eilish ist zunächst noch ungläubig, aber sie verliert sehr schnell das Vertrauen in einen Rechtsstaat. Es muss erst zum Äußersten kommen, bis sie sich zur Rettung ihrer Kinder durch die Flucht entschließt.

Eilishs steigende Angst und Panik zeigen sich sprachlich sehr eindrucksvoll. Die schnelle Abfolge der Sätze, die teilweise ohne Punkt und Komma ineinander übergehen, der Verzicht auf Anführungszeichen, die Atemlosigkeit der Sprache – das alles wirkt provozierend und macht das Lesen nicht einfach, aber der Autor schafft damit eine ungemein dichte Atmosphäre, die den Leser aufrüttelt.
Zugegeben: einige Metaphern fand ich zu gewollt, zu konstruiert – aber das tut der Botschaft dieses Romans keinen Abbruch: dem leidenschaftlichen Appell, die Demokratie zu schützen.

Bewertung vom 18.07.2024
In den Farben des Dunkels
Whitaker, Chris

In den Farben des Dunkels


ausgezeichnet

Chris Whitakers Debut „Von hier bis zum Anfang“ hatte mich begeistert, und daher war ich sehr neugierig auf diesen neuen Roman, der im Klappentext als „grandios“ und „unvergesslich intensiv“ gefeiert wird.

Der Roman beginnt rasant: ein Entführungsversuch, ein Rettungsversuch – und der Retter, der Junge Patch, wird entführt und ein Jahr in völliger Dunkelheit eingekerkert. In dieser Zeit führt er intensive Gespräche mit einer geheimnisvollen und unsichtbaren Unbekannten, die sich als „Grace“ bezeichnet. Ihre Gesellschaft erhält ihn mental am Leben, aber er erfährt auch, dass sein Entführer ein Serientäter ist und viele junge Mädchen entführt und getötet hat. Schließlich wird Patch gefunden, und seine Rettung verdankt er seiner treuen Kinderfreundin Saint.
Die Suche nach Grace wird für Patch zur Obsession, die sein Leben in den nächsten Jahrzehnten bestimmt, und Saint unterstützt die Suche.

Der Leser begleitet Patch, Saint und deren Familien für ca. 30 Jahre auf ihrer Odyssee durch Amerika, immer auf der Suche nach anderen Entführungsopfern und vor allem nach Grace.

Um diesen Kern eines Kriminalfalles ranken sich vielerlei andere Geschichten. Die Geschichten handeln vom ganzen Spektrum des Lebens: von unehelichen Schwangerschaften, Mobbing, Bigotterie, Bienenzucht, Abschlussbällen, Diebstählen, Geheimnissen, Fürsorge, sozialem Gefälle, Vietnam-Traumatisierungen, vernachlässigten Kindern, Recht und Unrecht, Gefängnisaufenthalten, Herz und Schmerz, Heldenmut und Opfergeist – und so fort. Die Fantasie des Autors ist unerschöpflich.

Nach dem durchaus packenden Einstieg kommt es nun zu überflüssigen Längen und Wiederholungen, die die Handlung zu lange auf der Stelle treten lassen. Hier hätte mir eine Fokussierung, eine Konzentration besser gefallen, um dem Roman mehr Spannkraft zu geben.

Wichtige Ereignisse bleiben dagegen merkwürdig blass. So wird z. B. der Höhepunkt des Romans, das Ziel einer immerhin 30jährigen Suche, in einem kurzen Satz abgehandelt und bleibt unklar, wirkt konstruiert.
Zugleich spielt der Autor gekonnt auf der Klaviatur der Gefühle seines Lesers, und auch hier wäre weniger mehr gewesen. Er scheut leider auch nicht vor Klischees und logischen Brüchen zurück. Seinen Figuren legt er immer wieder Sentenzen in den Mund wie „Nichts ist stärker als die Sehnsucht des Herzens“, die dem Roman wohl eine existenzielle Tiefe geben wollen, ihn aber meiner Meinung nach ins Triviale abrutschen lassen.

Der Sprecher Richard Barenberg verleiht dem Text mit seiner professionellen Stimme Leben. Trotz der beachtlichen Spieldauer von 16,5 Stunden behält er in Dialogen die entsprechen Stimmfärbungen bei, sodass es zu keinem Bruch kommt.

Ich hatte leider kein intensives Lese-Erlebnis, wie es die Werbung verspricht, sondern war eher enttäuscht. Wer aber episch-breite Gesellschafts- und Familienromane mit viel Herzschmerz und Gefühl liebt, ist sicher gut beraten mit diesem Roman.

Bewertung vom 16.07.2024
Die sieben Federn des Papageis
Biegel, Paul

Die sieben Federn des Papageis


ausgezeichnet

Ein zauberhaftes kleines Märchen! Paul Biegel greift tief in die Motivkiste traditioneller Märchen hinein und fügt sie neu zusammen.

Ein Geschwisterpaar sucht den Vater, der von der Nebelkönigin entführt worden ist und nur durch sieben bunte Federn eines exotischen Papageis befreit werden kann. Und so beginnt die lange Reise der Kinder, auf der sie Gefahren und Prüfungen bestehen müssen und auf der sie auf viele Helferfiguren treffen. Die magische Zahl Sieben, Zauberkräfte und wiederkehrende Sprüche, Wahrsage-Träume, ein Zauberwald und Wesen aus einer anderen Welt bestimmen die Abenteuer-Reise.
Und wie schön: die Nebelkönigin ist nicht böse, sondern wünscht sich mit den Federn nur etwas Farbe in ihrem grau-weißen Leben.
Die Kinder beweisen Mut und Durchhaltewillen, sie lassen sich von einem Rückschlag nicht verunsichern, sie erleben Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Und eine schöne Wendung zum Schluss: nur die Kinder haben Zugang zu der magisch-mythischen Welt der Naturgeister.

Die traumhaft schönen Illustrationen von Linde Faas sind auch für den erwachsenen Vorleser ein Genuss. Durch die Kleinschrittigkeit des Erzählens ist das Buch auch für Kindergarten-Kinder geeignet.
4,5/5*