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dracoma
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LANDAU

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Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 16.06.2024
Ungleich vereint (MP3-Download)
Mau, Steffen

Ungleich vereint (MP3-Download)


ausgezeichnet

Mein Hör-Eindruck:

Steffen Mau legt mit diesem Hörbuch einen Essay vor, der sich mit einem Thema befasst, das alle angeht: Wie sieht 35 Jahre nach dem Mauerfall das Verhältnis Ost-West aus? Ist es tatsächlich so, dass der Westen die Norm ist und der Osten eine Abweichung von der Norm, mit gewissen Anpassungsschwierigkeiten? Dass also der Westen den Osten erfindet?

Diese These vertritt Dirk Oschmann, und Mau möchte den Diskurs neu ordnen und stellt plakativ seine eigene These vor: Der Osten wird nicht vom Westen erfunden, sondern die Bundesländer der ehemaligen DDR haben tatsächlich ihre eigenen Strukturen – soziokulturell, politisch, demografisch und wirtschaftlich. Um das Fazit vorwegzunehmen: die meisten Spannungen, die sich in den Ost-Bundesländern beobachten lassen, stammen aus der DDR-Zeit und konnten aus verschiedenen Gründen bei der Transformation nicht gelöst werden.

Mau beobachtet das Thema in einem sauber strukturierten Essay, und die Komplexität des Themas zeigt sich an den wiederholten Querverweisen. Seine Ausführungen sind auch für den soziologischen Laien immer verständlich.

Eine Vielzahl von Faktoren prägt, so Mau, die ostdeutsche Identität. Als westdeutscher Leser lernt man, dass man mit schnellen Urteilen und Schuldzuschreibungen den Problemen nicht gerecht wird. Wieder einmal zeigt es sich: die Vergangenheit bestimmt die Gegenwart, und die Geschichtsvergessenheit unserer Tage führt zu verhärteten Verwerfungen.

Besonders genau schaut Mau beim Demokratieverständnis hin. Die DDR wurde geschluckt, die westlichen Institutionen wurden einfach transferiert, ostdeutsche Impulse zur Neugestaltung wurden nicht beachtet – und damit wurden die Menschen ein zweites Mal entmündigt und nicht demokratisch aktiviert. In diese Lücke schiebt sich nach Maus Auffassung die AfD hinein; an diesem Punkt holt Mau zu einem Exkurs aus nicht nur über die Gefahr des schleichend wachsenden Rechtspopulismus, sondern auch über die aktuellen Wahlen. Dieser Blick auf die Tagespolitik führt einerseits vom Thema fort, aber andererseits ist es Mau ein Anliegen, die konkreten Auswirkungen seiner Thesen zur Diskussion zu stellen.

Mau bleibt aber nicht bei der Diagnose stehen, sondern bietet auch eine Therapie. Er erinnert daran, dass der ostdeutsche Wunsch nach einer direkten Demokratie mit plebiszitären Elementen, wie er sich in den Straßendemonstrationen gezeigt hatte, bei der Transformation nicht berücksichtigt wurde. Daher schlägt er neue Möglichkeiten der politischen Partizipation vor: die Bürgerräte. In solchen Bürgerräten sieht er die Möglichkeit, die Bevölkerung an der politischen Willensbildung teilhaben zu lassen und damit den Populismus rechtsextremer Parteien einzudämmen. Eine faszinierende Idee, die in Pilotprojekten umgesetzt werden sollte!

Fazit: Eine differenzierte Bestandsaufnahme, augenöffnend, anregend und wohltuend sachlich!

Bewertung vom 15.06.2024
Ein Zimmer für sich allein
Woolf, Virginia

Ein Zimmer für sich allein


ausgezeichnet

"Um gut schreiben zu können, muss man intensiv leben."

Hätte Shakespeare eine Schwester gehabt, begabt wie er – wie wäre es ihr ergangen? Einer Frau ohne Schulbildung, wie es für untere Stände im elisabethanischen Zeitalter üblich war? Sie bringt sich um. Und schon ist Virginia Woolf bei ihrem Thema, nämlich der Überlegung, welcher Zusammenhang zwischen der Ausbildung eines Talentes oder Genies und den äußeren Lebensbedingungen besteht.

Virginia Woolfs Essay ist jetzt fast 100 Jahre alt, aber hat nichts Verstaubtes an sich. Sie versteht es, ihre Botschaft in anschauliche Bilder zu verpacken und kurzweilig zu präsentieren. Ich bin sicher, ihre Zuhörerinnen im Jahr 1928 hörten ihr genau so gebannt zu wie ich heute der Sprecherin!

Virginia Woolf erzählt von einer fiktiven Figur Mary, in der man unschwer ihr Alter Ego erkennt. Mary besucht ein College für Männer, und dort darf den Rasen nicht betreten, weil sie eine Frau ist, und auch die Bibliothek wird ihr als Frau nur geöffnet mit einem Empfehlungsschreiben. Und sehr anschaulich beschreibt sie das leckere Mittagessen, das dort serviert wird. Anschließend besucht sie ein neugegründetes Frauen-College, das finanziell wesentlich schlechter ausgestattet ist und wo das Mittagessen auch wesentlich ärmlicher ausfällt. Warum ist das so? Warum sind Frauen arm? Welche Auswirkungen hat das auf ihren Geist? Warum wird ihre Arbeit so anders bewertet als die von Männern? Mary unternimmt einen Spaziergang und zugleich einen amüsanten und kurzweiligen Spaziergang durch die Kulturgeschichte des weiblichen Schreibens. Dabei erkennt sie, dass intellektuelle Freiheit immer von wirtschaftlichen Faktoren abhängig war. Sie sieht aber auch die inneren Auswirkungen. Wer nicht frei von Hass und Bitterkeit ist, kann keinen freien Geist entwickeln, und Einbildungskraft und Genie können sich nicht entfalten.

Und so erklärt sich der Titel: Gebt Frauen also 500 Pfund pro Jahr, ein eigenes Zimmer und ein Schloss an der Tür!
Das sind eigentlich Kampfthesen, aber Virginia Woolf erzählt sie so leichtfüßig, so anschaulich und unverkrampft, dass die Lektüre noch heute lohnend ist.

Sandra Voss, die Sprecherin dieses Hörbuchs, trifft genau diesen unaufgeregten, aber trotzdem kritischen und zugleich eleganten Sprechduktus, den ich mir bei Virginia Woolf vorgestellt hätte.

Bewertung vom 15.06.2024
Der Tote im Pool
Rufin, Jean-Christophe

Der Tote im Pool


ausgezeichnet

Ein skurriler Ermittler!
Der Autor versetzt uns nach Maputo, der Hauptstadt von Mosambik, und dort treffen wir auf Aurel Timescu, Vizekonsul an der französischen Botschaft. Aurel Timescu ist ein Jude aus Rumänien, und er liebt sein Klavier und die Musik, aber noch mehr liebt er seinen täglichen Weißwein. Eines liebt er nicht: die Arbeit im Diplomatischen Corps, und er drückt sich nach Kräften. Geschieht allerdings ein Mord, wird er aktiv und läuft zur Hochform auf. In diesem Roman ist es der Mord an einem älteren Hotelbesitzer, ebenfalls ein Franzose, der in Mosambik seinen ganz großen Coup durchziehen will.

Mit der Figur schafft des Aurel Timescu schaff Rufin einen sehr eigenwilligen und skurrilen Ermittlertypus, der den Leser zum Lachen bringt. Gelegentlich bedient der Autor allerdings das Klischee des Ritters von der traurigen Gestalt zu kräftig. Dennoch nötigen die Kombinationsgabe, die Phantasie und Beobachtungsgabe dem Leser Respekt ab und machen die Figur liebenswert und sympathisch, trotz seiner Faulheit. Vor allem seine ungewöhnliche und zugleich systematische Art, das Figurengeflecht aufzudröseln, hat mir gefallen.

Nebenbei erfährt der Leser einiges über die postkoloniale Situation von Mosambik, mit einem durchaus kritischen Beigeschmack. Hier kommt dem Autor offensichtlich seine diplomatische Tätigkeit in Afrika zugute.
Das alles erzählt Rufin in einer ruhig dahinfließenden Sprache, oft mit einem Augenzwinkern oder einem unverhofften Vergleich, der den menschenfreundlichen Humor des Autors durchscheinen lässt.

Wer einen eher leisen Krimi liebt ohne dramatische Verfolgungsjagden, Schießereien, Prügeleien und dergleichen, ist mit diesem Roman sehr gut beraten!

Bewertung vom 11.06.2024
Die Zeit im Sommerlicht
Laestadius, Ann-Helén

Die Zeit im Sommerlicht


sehr gut

Mein Lese-Eindruck:

Fünf samische Kinder sind es, die die ebenfalls samische Autorin uns vorstellt. Fünf Kinder im Grundschulalter, die ihren Familien entzogen werden und in sog. Umerziehungsschulen zu Schweden geformt werden sollen. Eine harte Zeit! Ihre Muttersprache wird ihnen verboten, ihr traditioneller Gesang, das Joiken, wird als Sünde bezeichnet, ihre samischen Namen werden geändert, kurz: sie werden ihrer Kultur, ihrer Familie und ihrer Identität entfremdet. Dazu müssen sie mit der Verachtung der Lehrer klarkommen, die sie verächtlich als Lappen bezeichnen, und vor allem sind sie der Grausamkeit der Heimleiterin ausgesetzt. Ebenso hilflos stehen sie einer Bande älterer samischer Jungen gegenüber, die die erlittenen Grausamkeiten ungefiltert an die Jüngeren weitergeben.

Der Autorin geht es aber nicht nur darum, das Unrecht dieser Nomadenschulen zu zeigen, sondern es geht ihr vielmehr um die Folgen dieser Maßnahmen. Und daher springt sie immer wieder von den 50er in die 80er Jahre hinein und zeigt die Folgen. Die Kinder, inzwischen Erwachsene, sind sichtlich traumatisiert. Alkoholismus, Medikamentensucht, Gewalttätigkeit, Anpassung, Verleugnung der Ethnie, Landflucht, Hypochondrie, Bindungsangst, Einsamkeit, Sinnsuche bei der Erweckungsbewegung der Laestadianer, aber auch Verdrängung und übersteigerte Anpassung an die schwedische Umgebung: die Zöglinge der Nomadenschulen sind für ihr Leben gezeichnet, und nicht jedem gelingt ein zufriedenes Leben. Allen gemeinsam ist das Verschweigen ihrer Erlebnisse.

Die Autorin wirft nur einzelne Schlaglichter und erzählt in Episoden, und das Füllen der Zwischenräume bleibt dem Leser überlassen. Und so erfährt er eher am Rande von den Schädelvermessungen der 20er Jahre, von den aktuellen Problemen der Rentierzüchter, vom nach wie vor virulenten Rassismus und der Ausgrenzung der Samen. Laestadius erzählt das alles in einer eher spröden Sprache, und ihr Roman weist (leider) einige Längen auf, aber trotzdem entstehen hier sehr eindringliche Lebensbilder, und die seelische Not vor allem der Kinder ist berührend.

Wer die Romane von Richard Wagamese und Zeitungsberichte über die Residential Schools in Kanada gelesen hat, kennt das unmenschliche System solcher Umerziehungsanstalten. Aber bislang war mir unbekannt, dass es solche Anstalten auch für die Samen, das letzte und einzige indigene Volk Europas, gegeben hat.

Laestadius hält der schwedischen Gesellschaft selbstbewusst einen Spiegel vor, ohne aber in Schwarz-Weiß-Malerei zu verfallen.
Lesenswert!!

Bewertung vom 05.06.2024
Die Stimme (MP3-Download)
Rilke, Rainer Maria

Die Stimme (MP3-Download)


ausgezeichnet

Die Erzählung ist kurz, aber kompakt. Sie fängt mit einer Urlaubsidylle an: Zwei Freunde am Ostseestrand, sechs Wochen Urlaub, das könnte herrlich sein! Und gleich in der 1. Szene werden die Unterschiede zwischen den Freunden klar. Der eine ist ein Poet, der mit der Rationalität seines Freundes wenig anfangen kann. Er leidet unter einem gewissen Lebensüberdruss und erwartet mehr vom Leben als nur die Realität, die er als vordergründig und nicht wesentlich betrachtet. Er setzt daher seine Hoffnung auf eine Stimme, die ihm die verborgenen Schönheiten und Wunder der Welt zeigt.

Diese Unterschiede gestaltet Rilke zügig und wie gekonnt wortsicher mit wenigen Sätzen. Sinnfällig wird die unterschiedliche Weltsicht der beiden Freunde an ihrer Sicht auf einen Dampfer, der für den einen lediglich der fahrplanmäßige Transferdampfer ist, während er für den anderen das Symbol für eine andere Wirklichkeit ist. Die Sympathie des Autors liegt dabei auf Seiten des Poeten.

Es hat seinen Reiz, sich die Erzählung „Die Stimme“ auch über eine Stimme vermitteln zu lassen, also nicht primär über das Lesen und die Schriftlichkeit, sondern über das Hören und die Mündlichkeit. Wenn die Stimme dann so professionell vorliest wie hier, wird das Zuhören zu einem Vergnügen. Der Sprecher beherrscht die Kunst des Vorlesens souverän. Mit seiner flexiblen und nuancenreichen Stimme gestaltet er den Text beim Lesen und vermittelt damit zugleich dem Hörer seine Deutung, der ich als Zuhörer folgen konnte.

Hörenswert!

Bewertung vom 31.05.2024
Der König und der Uhrmacher (eBook, ePUB)
Indriðason, Arnaldur

Der König und der Uhrmacher (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Jeder Schritt nach vorne ist ein Schritt in die Vergangenheit

Islands erfolgreichster Krimi-Autor legt einen historischen Roman vor: das macht neugierig. Dienen historische Fakten vielleicht nur als Hintergrundfolie für einen Kriminalfall? Um es gleich vorwegzunehmen: nein, das tun sie nicht. Indridason hat hervorragend recherchiert und verbindet zwei historische Epochen miteinander, indem er Gemeinsamkeiten herausstellt und zugleich Kontrapunkte setzt. Ein spannendes Unterfangen, in dessen Mittelpunkt das Phänomen der Zeit steht.

Indridason versetzt seine Leser ins ausgehende 18. Jahrhundert. Im Kopenhagener Schloss befindet sich eine der berühmten astronomischen Uhren des Schweizer Uhrenbauers Habrecht; und tatsächlich befindet sich eine dieser Zimmeruhren noch heute in den königlichen Sammlungen. Im Roman ist sie in einem desolaten Zustand, sodass sich der Isländer Jon dieser Uhr annimmt. Er nimmt sie auseinander, ersetzt fehlende Teile und setzt wieder zusammen.

Dabei beobachtet ihn immer wieder der dänische König Christian VII., und da Island zur dänischen Krone gehört, lässt er sich von Jon die Geschichte seiner Familie erzählen.
Und Jon erzählt. Sein Vater und seine geliebte Pflegemutter waren Opfer des Storidomur aus dem 16. Jhdt geworden, einer vom dänischen König bewilligten Gesetzessammlung, die auf Unzucht im weitesten Sinn strengste Strafen verhängte. König Christian ist geistesgestört, aber er hat seine hellen Momente, und je weiter Jon die Uhr und zugleich seine Familiengeschichte zusammensetzt, umso klarer erkennt der König erschreckende Parallelen zu seiner eigenen Biografie und zu seiner eigenen Familiengeschichte. Vergangenes und Vergessenes wird wieder in die Gegenwart hochgeholt, und die Spiegelungen verstören ihn zutiefst.

Die Handlung läuft auf zwei Erzähl- und Zeitebenen ab, und im Mittelpunkt steht die kunstvolle Uhr. Die Parallelität der Ereignisse wird sehr sinnfällig durch das Glockenspiel betont, dem Jon seine eigene Melodie gibt: die eines Psalms über Recht und Unrecht der Mächtigen. Mit diesem Motiv werden nicht nur die Personen und Handlungsstränge, sondern auch die erzählten Zeiten miteinander verbunden.

Fazit: ein intelligent komponierter Roman über die Zeit und über die Relativität von Recht und Unrecht.

Bewertung vom 27.05.2024
Die Stadt der Anderen
Melo, Patricia

Die Stadt der Anderen


ausgezeichnet

Patricia Melo versetzt ihren Leser nach Sao Paolo/Brasilien, eine 12-Millionen-Stadt. Das Eingangszitat aus Victor Hugos „Die Elenden“ stimmt den Leser schon ein auf das, was ihn erwartet: einen Roman über Obdachlose, über soziale Probleme, über ethnisch Diskriminierte, über sozial Deklassierte, Menschen aller Couleur, die am Rande der Gesellschaft leben und nicht in der Lage sind, sich an ihren eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen.

Melo lässt einen Figurenreigen auftreten, dessen Figuren locker miteinander verbunden sind und die eines gemeinsam haben: alle sind auf der Straße gelandet, und sie kämpfen mit unterschiedlichen Mitteln ums tägliche Überleben. Die Autorin führt die vielen Personen sehr sicher durch die Handlung, sie behält die Erzählung souverän in ihrer Hand. Traumatisierte, Bettler, Junkies, Prostituierte, elternlose Kinder, Transvestiten, Tagelöhner, Diebe und andere Kriminelle, aber auch Studenten und ehemals Bürgerliche, die in eine Schieflage geraten sind und nicht mehr herausfinden – sie alle sammeln sich an einem Platz.
Mit dieser Situation nimmt Melo aber auch andere Probleme der brasilianischen Gesellschaft ins Visier: eine korrupte Justiz, eine gewalttätige Polizei, die Lynchjustiz praktiziert, den alltäglichen Rassismus, die staatliche Förderung von Großkapital, den Pauperismus breiter Gesellschaftsschichten – kurz: die gewaltige Schieflage der brasilianischen Gesellschaft und das Versagen eines Staatswesens.

Melos Sozialkritik ist überdeutlich und auch berechtigt. Gelegentlich geht ihre Empörung mit ihr durch, etwa wenn sie als Autorin Informationen über das Gesundheitswesen gibt, die die Perspektive der jeweiligen Figur übersteigen.

Die einzelnen Figuren des großen Reigens sind voller Empathie gezeichnet. Sehr anrührend ist es, wenn sie selber ihre Träume schildern: eine Steuernummer, eine Arbeit, das tägliche Essen für sich und die Familie, ein Dach über dem Kopf. Im Zentrum der Handlung steht das sog. Makan-Gebäude, das einem weiblichen Immobilien-Tycoon gehört, die es als Spekulationsobjekt verkommen lässt. Eine Gruppe besetzt das Haus, renoviert es, installiert eine funktionierende Gemeinschaft – ein Hoffnungsschimmer für die Obdachlosen und zugleich der Ansatz einer Revolution, die allerdings durch Polizei und Militär zerschlagen wird. Was bleibt? Wer hat eine Zukunft?

4,5/5*

Bewertung vom 26.05.2024
Besondere Tage
Whitman, Walt

Besondere Tage


ausgezeichnet

Walt Whitman, the good grey poet, legt hier eine Sammlung von Tagebuchnotizen vor, die seine Autobiografie ersetzen können. Er selber bezeichnet die Sammlung zwar als „Überbleibsel“, aber sie sind geordnet und lassen sich verschiedenen großen Themenbereichen zuordnen; genealogische Betrachtungen und „Charakterquellen“, der Sezessionskrieg, der mehrjährige Landaufenthalt nach seinem Schlaganfall, Reiseerlebnisse und Gedanken zu anderen Autoren.

Den meisten Raum beanspruchen seine Notizen zu seinen Erlebnissen während des Sezessionskrieges. Dieser Bürgerkrieg war einer der verlustreichsten Kriege und ist nach wie vor tief im kollektiven Gedächtnis der USA verankert. Whitman schildert ausschließlich seine persönlichen Erlebnisse und Eindrücke. Damit bricht er die politischen Ereignisse herunter auf das Menschliche und Individuelle. Er stellt viele Einzelschicksale vor, Verwundete, die er in den verschiedenen Lazaretten besucht und betreut und deren Schicksale – und auch die ihrer Familien – ihn anrühren. Obwohl er die Südstaaten als „personifizierten Erzfeind“ bezeichnet, sieht er auch im gefangenen und verwundeten Feind in erster Linie den Menschen, der Trost und Hilfe braucht.

Dennoch ist sein Nationalstolz unüberhörbar. So leidet er einerseits beim Anblick der geschlagenen Truppen, aber sein Herz lebt auf, wenn er eine Truppenparade mit militärischem Pomp und Musik erlebt. Die „hübschen amerikanischen jungen Männer“ gefallen ihm; ein homoerotisches Element ist in vielen seiner Beschreibungen nicht zu überhören. Tiefen Eindruck machen auf ihn die kurzen Begegnungen mit dem Präsidenten Lincoln, dem er sein bekanntestes Gedicht „Oh Captain! My Captain!“ widmete.

Sein Nationalstolz zeigt sich auch in sehr poetischen Beschreibungen z. B. des Weißen Hauses, die an Überhöhung grenzen. Whitmans nationales Pathos ist dem heutigen Leser fremd geworden.

Überzeitlich schön sind dagegen seine Naturbeschreibungen. Nach einem Schlaganfall führte Whitman ein fast symbiotisches Leben mit und in der Natur. Er entdeckte die Freikörperkultur für sich und führte seine Gesundung auf seine innige Verbundenheit mit der Natur zurück. Ein Fluss, der bestirnte Nachthimmel, Wolkenbilder, ein Baum – Whitman beobachtet sehr genau und beschreibt seine Beobachtungen voller Poesie. Gelegentlich rutscht er zwar ins Pathetische hinein, wenn er z. B. die heroischen Eigenschaften eines Baumes beschreibt. Dennoch waren diese Beschreibungen für mich der schönste Teil des Buches, den man ohne Übersättigung mehrmals lesen kann.

Bewertung vom 07.05.2024
Der Friedhofswärter
Rash, Ron

Der Friedhofswärter


ausgezeichnet

Mein Lese-Eindruck:

Der Autor versetzt uns in die 50er Jahre, in eine ländliche Kleinstadt in den Appalachen. Das Leben dort ist geprägt von bürgerlich-konservativen Vorstellungen. Dazu gehören auch die sozialen Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen den Kaufleuten im Ort und den Farmern im Umland. Aus dieser Diskrepanz bezieht der Roman einen seiner Impulse.


Jacob Hampton, der Sohn reicher und dominanter Eltern, überschreitet die Grenzen in zweierlei Hinsicht. Einmal dadurch, dass er an seiner Kinderfreundschaft mit Blackburn Gant festhält, einem Jungen, der durch Polio entstellt wurde und der daher mit Hingabe und Sorgsamkeit der eher einsamen Tätigkeit eines Friedhofwärters nachgeht. Zum anderen widersetzt er sich den konkreten Zukunftsplanungen seiner Eltern und brennt mit Naomi durch, Tochter eines armen Kleinbauern. Und da Jacobs Eltern diese Aufsässigkeit nicht tatenlos hinnehmen wollen, entwickeln sie eine abenteuerliche und nicht recht glaubwürdige Intrige, die langfristig nicht funktionieren kann und auch nicht wird. Dank Blackburn Gant.

So bündeln sich in diesem Roman mehrere Konflikte: ein Generationen-Konflikt, die positiven und negativen Auswirkungen von wirtschaftlich-finanzieller Überlegenheit, soziale Kontrolle, soziale Ausgrenzung von benachteiligten Menschen, das Schicksal von Veteranen des Korea-Kriegs, die ambivalente Liebe von Eltern und vor allem die Frage der Belastbarkeit einer Freundschaft.

Wie Ron Rash das alles erzählt, ist ein Erlebnis. Ron Rash kann einfach wunderbar erzählen, und es ist eine Freude, dass der Verlag ars vivendi endlich eine deutsche Übersetzung herausbringt.

Schon die erste Szene zeigt Rashs Erzählkunst, wenn er Jacobs Angst schildert, wie er als Soldat im Korea-Krieg Wache steht, nachts in der Kälte, nur durch einen Fluss vom Feind getrennt und sich dem plötzlichen Angriff eines Partisanen ausgesetzt sieht. Rash scheut auch nicht davor zurück, die Traumatisierung der heimgekehrten Soldaten zu erzählen.

Seine Figuren sind lebendig, mit Ecken und Kanten. Z. B. die Eltern Jacobs: sie wollen ihrem Sohn mit Enterbung und Betrug ihre eigenen Vorstellungen aufzwingen und bedrohen dazu auch andere Menschen; andererseits aber pflegen sie aufopfernd ihren traumatisierten und schwer verletzten Sohn und helfen anderen Menschen aus finanziellen Engpässen. Auch Naomi ist nicht nur die selbstlos Liebende; sie sieht in der Verbindung mit dem reichen Erben auch die Möglichkeit, endlich ihre Eitelkeit ausleben zu können. Nur Blackburn ist eindeutig gezeichnet, der einzig Aufrechte, der sich nicht auf Dauer korrumpieren lässt. Er ist und bleibt der treue Freund, der sich schließlich auch über Drohungen hinwegsetzt und die Wahrheit buchstäblich ans Licht bringt. Ihm hätten einige Ecken und Kanten auch gutgetan.

Rash erzählt langsam und eindringlich. Jedes Wort ist mit Bedacht gewählt, jeder Satz sitzt. Der reduzierte Stil bringt es mit sich, dass der Leser seine Einschätzung der Figuren ausschließlich aus deren Handeln gewinnt. Dazu verwebt der Autor immer wieder sehr kunstvoll und ohne jeden Bruch die Gegenwart mit der Vergangenheit. Dieses konzentrierte und trotzdem anschauliche Erzählen zieht den Leser so sehr in die Geschichte hinein, dass er manche Unglaubwürdigkeiten und Trivialitäten der Handlung verschmerzen kann.

Es ist mir unbegreiflich, dass ein so begnadeter Erzähler am deutschen Publikum bisher vorbeiging!

4,5/5*