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dracoma
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LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 183 Bewertungen
Bewertung vom 23.07.2024
Der Totenarzt / Detective Robert Hunter Bd.13 (2 CDs)
Carter, Chris

Der Totenarzt / Detective Robert Hunter Bd.13 (2 CDs)


sehr gut

Ein Mord, der als Selbstmord bzw. als Unfall getarnt wird – das ist vielleicht keine neue Idee für einen Krimi, aber auf alle Fälle ein Ausgangspunkt, der funktioniert. Chris Carter nutzt die Möglichkeiten sehr geschickt aus, wenn er beschreibt, wie sich das Ermittlerduo dem Mörder anhand von kleinsten Indizien und einem glücklichen Zufall annähert. Hier erzählt ein Profi, der weiß, wie man Spannung aufbaut und wie man seine Leser mitnimmt. Seine Erzählung ist immer fokussiert, die Dialoge sind gekonnt ausgebaut, und die meisten Kapitel schließen mit einem effektvollen Cliffhanger. Dazu nutzt er die Möglichkeiten des Perspektivenwechsel, wenn er abwechselnd die Jäger und das Opfer des Gejagten sprechen lässt und damit seinen Leser immer nahe am Geschehen hält.

Die Morde sind sehr grausam, aber dem Leser wird nur das Ergebnis präsentiert und nicht der Vorgang – vielen Dank, Herr Carter. Das Spiel des Bösewichts mit seinen Werkzeugen reichte mir durchaus, um meine Phantasie in Gang zu setzen. Wer also dezidiert Grausamkeiten lesen will, kommt hier nicht ganz auf seine Kosten. Ich wäre auch mit weniger Blut sehr einverstanden gewesen.

Am Schluss folgt Carter dem bekannten Muster: der Jäger wird selber Opfer des Gejagten, und der Letztere nutzt die Gelegenheit, seine Lebensgeschichte zu erzählen und sich selber als Opfer darzustellen. Hier kippt die Geschichte endgültig um ins Unglaubwürdige und maßlos Übertriebene.

Der Sprecher Uve Teschner reißt die Geschichte heraus. Er liest strukturiert und engagiert, einfach perfekt.
3,5/5*

Bewertung vom 22.07.2024
Seinetwegen
Del Buono, Zora

Seinetwegen


ausgezeichnet

Mich hat Zora del Buonos Roman sehr beeindruckt.

Die Autorin wächst vaterlos auf und empfindet sich deshalb ihr Leben lang als anders. Sie stellt ihre „Deformationen“, wie sie es nennt, dem Leser vor, z. B. ihr Problem mit festen Zweierbeziehungen und ihre Verlustängste. Der große Schmerz der Mutter und ihr Schweigen hatten das Kind Zora für ihr Leben traumatisiert. Zum Zeitpunkt des Erzählens ist Zora del Buono 60 Jahre alt, sie ist beruflich erfolgreich und betrachtet ihr Leben insgesamt als gelungen – und nun will sie die Leerstelle füllen, die ihr Vater hinterlassen hat. Sie will aber nicht das kurze Leben ihres Vaters nachzeichnen, sondern sie will seinen „Töter“ finden, von dem sie zunächst nur die Initialen hat: E.T. Also reist sie an die Orte ihrer Kindheit und begibt sich auf Spurensuche.

Ihre Erzählung ist durchsetzt mit Exkursen z. B. zur Lokal- und Sozialgeschichte der 70er Jahre wie etwa der Situation der italienischen Gastarbeiter, die sie als Tochter eines Italieners anders wahrnimmt als ihre damaligen Freunde. Irritiert erlebt sie, dass sie jetzt selber auf dem Land zur Fremden geworden ist, der die Menschen mit Vorbehalten gegenübertreten. Dennoch fügt sich aus ihren Erinnerungen, aus Archivmaterial, aus Briefen, aus Gerichtsprotokollen, assoziativen Episoden und Reflexionen ein immer dichter werdendes Bild der Zeit zusammen.

Wichtig sind die Treffen mit Freunden im Kaffeehaus, die sie zur Recherche ermuntern und ihr aber auch zeigen, dass ihr Schicksal nicht einzigartig ist. Die Gesprächsnotizen strukturieren die Erzählung und geben ihr einen zusätzlichen inneren roten Faden.

Besonders gut gefallen haben mir die Überlegungen der Autorin zur eventuellen Homosexualität des E.T. Ist sie ihm in Berlin vielleicht begegnet? Floh er vor der restriktiven Moral der Schweiz nach Berlin, ist sie ihm vielleicht auf den ausschweifenden Festen dort begegnet? Auch die Entdeckung, dass er, wie sie, ein großer Hundefreund ist, macht das Phantom E. T. greifbarer und menschlicher.

Das alles erzählt die Autorin in immer ruhigen Ton, sprachlich ausgefeilt, aber ohne manieriert zu wirken, immer sachlich, ohne ins Rührselige abzurutschen.

Ein lesenswerter Roman, der aufzeigt, wie sehr der frühe Verlust eines Elternteils das Leben des Kindes prägen kann.
4,5/5*

Bewertung vom 19.07.2024
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


ausgezeichnet

Lynch, Das Lied des Propheten

Regierungswechsel in Irland, und die NAP, eine nationalistisch orientierte Partei, trägt den Wahlsieg davon. In rasantem Tempo setzt die Regierung nun die Mittel ein, die eine rechtslastige, faschistoide Regierung hat. So wird die ordentliche Gesetzgebung ausgeschaltet und durch Notverordnungen ersetzt, die Grundrechte werden beschnitten bzw. abgeschafft, Zensur, Geheimpolizei, willkürliche Verhaftungen, Ausgangssperren, Ausschaltung politischer Gegner, Sippenhaft und so fort. Das ist kein neues Szenario; die Geschichte, auch die Zeitgeschichte, bieten hinreichend Beispiele.

Die Regierung bzw. die Partei bleibt als dunkle, nicht greifbare Macht im Hintergrund. Der Autor rückt stattdessen eine Familie in den Mittelpunkt und zeigt, welche Auswirkungen der politische Rechtsruck auf diese Familie hat. Der Roman startet mit dem Verschwinden des Vaters, eines führenden Gewerkschaftlers, und es bleibt nun Sache seiner Frau Eilish, einer Wissenschaftlerin, ihre vier Kinder und ihren Vater durch das Chaos zu bringen und ihre Familie zu schützen. Der Familie droht die äußere und innere Zertrümmerung, wie es das Cover eindringlich zeigt. Eilish ist zunächst noch ungläubig, aber sie verliert sehr schnell das Vertrauen in einen Rechtsstaat. Es muss erst zum Äußersten kommen, bis sie sich zur Rettung ihrer Kinder durch die Flucht entschließt.

Eilishs steigende Angst und Panik zeigen sich sprachlich sehr eindrucksvoll. Die schnelle Abfolge der Sätze, die teilweise ohne Punkt und Komma ineinander übergehen, der Verzicht auf Anführungszeichen, die Atemlosigkeit der Sprache – das alles wirkt provozierend und macht das Lesen nicht einfach, aber der Autor schafft damit eine ungemein dichte Atmosphäre, die den Leser aufrüttelt.
Zugegeben: einige Metaphern fand ich zu gewollt, zu konstruiert – aber das tut der Botschaft dieses Romans keinen Abbruch: dem leidenschaftlichen Appell, die Demokratie zu schützen.

Bewertung vom 18.07.2024
In den Farben des Dunkels
Whitaker, Chris

In den Farben des Dunkels


ausgezeichnet

Chris Whitakers Debut „Von hier bis zum Anfang“ hatte mich begeistert, und daher war ich sehr neugierig auf diesen neuen Roman, der im Klappentext als „grandios“ und „unvergesslich intensiv“ gefeiert wird.

Der Roman beginnt rasant: ein Entführungsversuch, ein Rettungsversuch – und der Retter, der Junge Patch, wird entführt und ein Jahr in völliger Dunkelheit eingekerkert. In dieser Zeit führt er intensive Gespräche mit einer geheimnisvollen und unsichtbaren Unbekannten, die sich als „Grace“ bezeichnet. Ihre Gesellschaft erhält ihn mental am Leben, aber er erfährt auch, dass sein Entführer ein Serientäter ist und viele junge Mädchen entführt und getötet hat. Schließlich wird Patch gefunden, und seine Rettung verdankt er seiner treuen Kinderfreundin Saint.
Die Suche nach Grace wird für Patch zur Obsession, die sein Leben in den nächsten Jahrzehnten bestimmt, und Saint unterstützt die Suche.

Der Leser begleitet Patch, Saint und deren Familien für ca. 30 Jahre auf ihrer Odyssee durch Amerika, immer auf der Suche nach anderen Entführungsopfern und vor allem nach Grace.

Um diesen Kern eines Kriminalfalles ranken sich vielerlei andere Geschichten. Die Geschichten handeln vom ganzen Spektrum des Lebens: von unehelichen Schwangerschaften, Mobbing, Bigotterie, Bienenzucht, Abschlussbällen, Diebstählen, Geheimnissen, Fürsorge, sozialem Gefälle, Vietnam-Traumatisierungen, vernachlässigten Kindern, Recht und Unrecht, Gefängnisaufenthalten, Herz und Schmerz, Heldenmut und Opfergeist – und so fort. Die Fantasie des Autors ist unerschöpflich.

Nach dem durchaus packenden Einstieg kommt es nun zu überflüssigen Längen und Wiederholungen, die die Handlung zu lange auf der Stelle treten lassen. Hier hätte mir eine Fokussierung, eine Konzentration besser gefallen, um dem Roman mehr Spannkraft zu geben.

Wichtige Ereignisse bleiben dagegen merkwürdig blass. So wird z. B. der Höhepunkt des Romans, das Ziel einer immerhin 30jährigen Suche, in einem kurzen Satz abgehandelt und bleibt unklar, wirkt konstruiert.
Zugleich spielt der Autor gekonnt auf der Klaviatur der Gefühle seines Lesers, und auch hier wäre weniger mehr gewesen. Er scheut leider auch nicht vor Klischees und logischen Brüchen zurück. Seinen Figuren legt er immer wieder Sentenzen in den Mund wie „Nichts ist stärker als die Sehnsucht des Herzens“, die dem Roman wohl eine existenzielle Tiefe geben wollen, ihn aber meiner Meinung nach ins Triviale abrutschen lassen.

Der Sprecher Richard Barenberg verleiht dem Text mit seiner professionellen Stimme Leben. Trotz der beachtlichen Spieldauer von 16,5 Stunden behält er in Dialogen die entsprechen Stimmfärbungen bei, sodass es zu keinem Bruch kommt.

Ich hatte leider kein intensives Lese-Erlebnis, wie es die Werbung verspricht, sondern war eher enttäuscht. Wer aber episch-breite Gesellschafts- und Familienromane mit viel Herzschmerz und Gefühl liebt, ist sicher gut beraten mit diesem Roman.

Bewertung vom 16.07.2024
Die sieben Federn des Papageis
Biegel, Paul

Die sieben Federn des Papageis


ausgezeichnet

Ein zauberhaftes kleines Märchen! Paul Biegel greift tief in die Motivkiste traditioneller Märchen hinein und fügt sie neu zusammen.

Ein Geschwisterpaar sucht den Vater, der von der Nebelkönigin entführt worden ist und nur durch sieben bunte Federn eines exotischen Papageis befreit werden kann. Und so beginnt die lange Reise der Kinder, auf der sie Gefahren und Prüfungen bestehen müssen und auf der sie auf viele Helferfiguren treffen. Die magische Zahl Sieben, Zauberkräfte und wiederkehrende Sprüche, Wahrsage-Träume, ein Zauberwald und Wesen aus einer anderen Welt bestimmen die Abenteuer-Reise.
Und wie schön: die Nebelkönigin ist nicht böse, sondern wünscht sich mit den Federn nur etwas Farbe in ihrem grau-weißen Leben.
Die Kinder beweisen Mut und Durchhaltewillen, sie lassen sich von einem Rückschlag nicht verunsichern, sie erleben Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Und eine schöne Wendung zum Schluss: nur die Kinder haben Zugang zu der magisch-mythischen Welt der Naturgeister.

Die traumhaft schönen Illustrationen von Linde Faas sind auch für den erwachsenen Vorleser ein Genuss. Durch die Kleinschrittigkeit des Erzählens ist das Buch auch für Kindergarten-Kinder geeignet.
4,5/5*

Bewertung vom 08.07.2024
Solito
Zamora, Javier

Solito


ausgezeichnet

El Salvador 1999: Korruption, eine nicht funktionierende Justiz, wirtschaftliche Probleme. Armut, Alkoholismus und vor allem Gewalt, wohin man sieht, im staatlichen und im familiären Bereich: mit den Augen eines Kindes beschreibt Zamora in Episoden, oft nur in Nebensätzen die Welt, in der er groß geworden ist. Seine Eltern sind illegal in die USA eingewandert, und so bleibt ihnen auch nur der illegale Weg, ihren Sohn nachzuholen. Der 9jährige Javier begibt sich auf den Weg, der sich als lebensgefährliche Route entpuppt, und nach über 20 Jahren ist er nun in der Lage, die traumatische Geschichte seiner wochenlangen Flucht zu erzählen.

Javiers Geschichte ist beeindruckend. Er erlebt ein Höchstmaß an Einsamkeit, Angst und Hilflosigkeit, und er erkennt selber, dass er nun seine Kindheit hinter sich lässt. Er erlebt aber auch die selbstlose Zuwendung von Menschen, die vor allem bei der tödlichen Durchquerung der Sonora-Wüste sein Überleben ermöglichen.

Auch die Weise, wie Zamora seine Geschichte erzählt, ist beeindruckend. Er bleibt streng bei der Perspektive des Kindes. Dadurch entstehen Leerstellen, die er der Phantasie des Lesers überlässt und der dadurch z. B. zur grausigen Überzeugung kommt, dass außer Javier und seinen drei Begleitern niemand aus dem Treck die Durchquerung der lebensfeindlichen Sonora-Wüste überlebt hat. Durch eine meist parataktische, eher einfache Sprache ahmt er den Sprechduktus des Kindes nach und verleiht dem Erzählten eine beklemmende Authentizität – und die wird wiederum gesteigert durch kindliche Erinnerungen an Tiere, an das Aussehen der Pflanzen, an Gerüche und Geschmäcke. Es ist erstaunlich, mit welcher Intensität Zamora sich an Geschmäcker, an Gerüche, an das Aussehen von Pflanzen etc. erinnert, an das Aussehen, die Gesten und die Sprache anderer Menschen. Hier zeigt Zamora seine Sprachkunst: jedes Wort und jeder Satz sitzt, alles ist durchdacht, und auch anrührende Stellen werden in einer kunstvollen sprachlichen Verhaltenheit erzählt, ohne in Sentimentalität und Larmoyanz abzurutschen.

Zur Authentizität gehört auch die ständige Verwendung spanischer Begriffe. Das Nachschlagen im Glossar bremste den Lesefluss sehr, aber der Kunstgriff hat seine Funktion. Das erzählende Kind vergewissert sich damit seiner Herkunft und seiner Heimatsprache. Und der erzählende Autor geht einen Schritt weiter: er versetzt seinen Leser damit in die Rolle eines Migranten und lässt ihn die sprachlichen Barrieren selber erleben, denen ein Migrant ausgesetzt ist. Damit werden die Einsprengsel über die Frage der Authentizität hinaus zu einem Symbol für die Heimatlosigkeit dieser Menschen bzw. für den Verlust ihrer alten Welt.

Insgesamt ein ungemein beeindruckendes Lese-Erlebnis, das den Blick weitet!

Bewertung vom 07.07.2024
Janes Roman
Cusset, Catherine

Janes Roman


gut

„Teufelskreis aus Zurückweisung ... und Misstrauen“

Der Roman fängt seine Leser ein mit einer Situation, die aus einem Krimi stammen könnte: eine junge Frau, Jane, erhält ein geheimnisvolles Paket, eine Absenderangabe fehlt. Was enthält das Paket? Ein Manuskript, und in diesem Manuskript erkennt Jane mit wachsender Bestürzung und Beunruhigung die genaue Beschreibung ihres Lebens. Das Rätselraten beginnt: wer ist der Verfasser oder die Verfasserin? Wer kennt die Details ihres Lebens so genau?

Die Handlung spielt sich nun auf zwei Zeitebenen ab. Die Vergangenheit des Manuskripts wird immer wieder unterbrochen durch die Erzählung der Gegenwart. Die Erzählerin greift aus der Gegenwart schlaglichtartig einzelne Szenen heraus, von denen aus sie in die Vergangenheit zurückgreift oder aber diesen Rückgriff dem Leser überlässt.

So entsteht allmählich ein Bild der Protagonistin. Sie hat wenig Empathie, und daher lacht sie über die falschen Dinge und kränkt ihre Freunde mit Taktlosigkeiten. Zunächst ist sie offensichtlich Anhängerin der Libertinage und wünscht keine feste Bindung, und hier bietet der Roman Gespräche über einige Sexszenen an, deren Genauigkeit nicht notwendig gewesen wäre; ein Erzähler kann der Phantasie seines Lesers getrost vertrauen. Auf der anderen Seite leidet Jane aber heftig unter der Trennung von ihrem Mann, einem überirdisch schönen Menschen. Sie klammert, kann nicht loslassen und kann sich auch nach Jahren nicht auf die neue Situation einstellen.
Ihre Liebesdinge werden ergänzt mit der Schilderung ihrer akademischen Karriere; ein interessanter Einblick in die gänzlich andere Welt des US-amerikanischen Universitätsbetriebes. Jane erlebt sie als stark konkurrenzorientiert, sie misstraut ihren Kollegen und erkennt zu spät die Notwendigkeit einer guten Vernetzung.

Hat man die Schilderung des Liebeslebens überstanden, baut das Buch kontinuierlich Spannung auf, dem man sich als Leser nicht mehr entziehen kann – bis hin zu einem unerwarteten und witzig konstruiertem Ende.

3,5/5*

Bewertung vom 04.07.2024
Das Dorf der acht Gräber / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.3 (eBook, ePUB)
Yokomizo, Seishi

Das Dorf der acht Gräber / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.3 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Mein Hör-Eindruck:

Ein junger Mann, Tatsuya, erfährt, dass er der einzige Erbe einer reichen Familie auf dem Lande ist und reist ins Gebirge in das Dorf Acht Gräber, um sein Erbe zu übernehmen. Hinter dem ungewöhnlichen Namen des Dorfes versteckt sich eine blutige und gruselige Geschichte um ermordete Samurais und einen Fluch, den sie über das Dorf verhängt hatten.

Tatsuya trifft auf ein abgelegenes Dorf, wo seine Familie in einem mächtigen Anwesen residiert. Als Leser bzw. Hörer taucht man ein in die fremde Welt des vorindustriellen ländlichen Japan und lernt die Sitten und Gebräuche dieser Welt kennen. Das Dorf ist geprägt durch traditionelle Sozial- und Besitzstrukturen, die nicht hinterfragt werden und daher unangetastet bleiben. Und es ist geprägt durch religiöse bzw. abergläubische Vorstellungen, durch Vorurteile und Ängste einer einfachen Bevölkerung, die in Zusammenhang mit der legendenhaften Vorgeschichte der Samurais und eines weiteren Massakers stehen.

Tatsuya gerät nun in eine neue Mordserie, in der er selber bald der Verdächtige ist. Stück für Stück entdeckt er seine eigene grausame Familiengeschichte und die unheilvolle Verflechtung mit den Morden. Bei der Aufdeckung der Morde greift der Autor tief in die Wunderkiste mit märchenhaften Motiven: da gibt es ein geheimnisvolles Amulett, es gibt verrätselte Karten, ein unterirdisches Höhlensystem, Giftkapseln, Familienaltäre, einen vergrabenen Schatz, eine Falltüre, Geheimgänge, versteckte Briefe und so fort – und aus all diesen Zutaten webt der Autor einen bunten und spannenden Roman, bei dem der Leser zusammen mit Tatsuya immer wieder auf falsche Fährten gelockt wird, aber letzten Endes doch den Bösewicht entlarvt. Der schrullige und geniale Ermittler Kosuke Kondaichi taucht erst gegen Schluss auf und fügt die vielen Einzelteile zu einem stimmigen Ergebnis zusammen.

Bei spannenden Stellen macht es sich der Autor leicht: da greift er in seine Kiste mit den Stereotypen. Da klappern die Zähne, die Haare stehen zu Berge, der Schweiß bricht aus wahlweise im Nacken oder am Rücken, die Zunge ist gelähmt, die Nackenhaare sträuben sich etc. Diese Stereotypen sind Versatzstücke, die in wechselnden Kombinationen verwendet werden, und gerade weil ihre Verwendung so durchsichtig ist, wirken sie eher erheiternd als langweilig.

Der Sprecher Dennis Moschitto trägt die Geschichte mit einer immer unaufgeregten Stimme vor, die sehr gut zur japanischen Mentalität des Gleichmutes passt. Trotzdem hatte man als Hörer keine Probleme, in Dialogen die verschiedenen Sprecher zu unterscheiden. Moschitto liest zügig und sinnbetont; ein Vergnügen!
4,5/5*

Bewertung vom 02.07.2024
Ein sanfter Mann
Appelbe, Uwe

Ein sanfter Mann


gut

Das Buch besticht mit seinem schönen Cover: Caspar David Friedrichs Gemälde „Ein Mönch am Meer“. Die romantisch-existenzialistische Schwermut dieses Bildes gibt die Grundstimmung des Buches vor, das mit einem Paukenschlag beginnt: dem Sekundentod der jungen Ruth Sander. Renè, ihr Mann, stürzt in eine Lebenskrise. Die psychische Situation des Protagonisten wird sehr einfühlsam erzählt: sein Allein-Sein, seine Sinnsuche, das Beschwören alter Erinnerungen und die „Gespenster der Nacht“, die ihn heimsuchen.

Die sieben Kapitel des Buches handeln von seinen Versuchen, seinem Leben wieder Sinn zu geben. Der Autor entwirft eine Art Road Movie, in dem der Protagonist unterschiedlichen Menschen begegnet, die alle eines gemeinsam haben: ihr Leben verläuft nicht wie erwartet und erwünscht, sie alle sind einsame Existenzen, fühlen sich nirgendwo beheimatet und setzen sich über bürgerlich-moralische Vorstellungen hinweg. Sie alle leiden unter Verlusten und stehen dem Leben illusionslos gegenüber. So entstehen teilweise bizarre Szenen, deren Sinnhaftigkeit der Leser nicht immer folgen kann bzw. will. Der Schluss aber ist ein Hoffnungsschimmer in all dem Elend: Renè konsolidiert sich beruflich.

Unbestritten: der Autor kann erzählen. Er wechselt souverän immer wieder die Erzählinstanz und vermittelt dem Leser dadurch eine gewisse Nähe zu den anderen Figuren. Trotzdem wirken die Personen wie auch ihre Handlungen teilweise eher konstruiert. Viele Motive klingen an und bleiben isoliert wie z. B. die Neigung zur Gewalt bei Renè, seine pädophilen Träume und dergleichen. Immer wieder aber gelingen dem Autor sehr schöne kleine Bilder, etwa wenn Renè eine Blüte vom Boden aufhebt und damit zeigt, dass er seine Isolation beenden und sich wieder dem Leben zuwenden will.
Seine Sprache habe ich als wendig und elegant erlebt. Allein schon deshalb hätte ich seinem Buch ein sorgfältigeres Lektorat hinsichtlich Rechtschreibung/Grammatik gewünscht.

3,5/5*

Bewertung vom 29.06.2024
Das deutsche Alibi
Hoffmann, Ruth

Das deutsche Alibi


ausgezeichnet

Geschichte ist eben nicht einfach Geschichte, sondern Geschichte wird gemacht! So die Historikerin Frauke Geyken. Ruth Hoffmann zeichnet nach, wie die deutsche Geschichte in der Nachkriegszeit „gemacht“ wurde und welche Rolle das Attentat vom 20. Juli darin spielte. Es geht also nicht in erster Linie um das Attentat, sondern um dessen Instrumentalisierung im Umgang mit den Verbrechen der nationalsozialistischen Vergangenheit. Und damit geht es um den Umgang mit der eigenen Geschichte und um Vergangenheitsbewältigung.

Kein Ruhmesblatt! In der Bewertung des 20. Juli zeigen sich peinlich deutlich die Interessenlagen der Bundesrepublik und der konservativen Parteien. Eines der ersten Gesetze, die der neu geschaffene Bundesrat in seiner erst 7. Sitzung verabschiedete, sicherte die Amnestie für ehemalige Nationalsozialisten, egal ob „Mitläufer oder Massenmörder“. Im Fortgang der Entwicklung zeigte sich immer deutlicher, dass die Täter wieder in Amt und Funktionen gesetzt wurden, während die Opfer das Nachsehen hatten.

In diesem „Großprojekt kollektiver Selbsttäuschung“, wie Hoffmann das nennt, war für eine Würdigung des Widerstands kein Platz; schließlich wäre damit deutlich geworden, dass jeder die Möglichkeit zu einem anderen Handeln gehabt hätte. Stattdessen wurde die Vorstellung eines moralisch integren Volkes gepflegt, das von einer Verbrecherbande verführt worden war. Widerstand wurde daher als Hoch- und Landesverrat bewertet, und es ist erst dem hartnäckigen Staatsanwalt Fritz Bauer zu verdanken, der in einem Aufsehen erregenden Prozess 1952 erreichte, dass das Dritte Reich zum Unrechtsstaat und der Widerstand damit als legitim erklärt wurde. Ein noch lange umstrittenes Urteil.

In der Folge zeigt Ruth Hoffmann, wie das Attentat z. B. dazu diente, die Wiederbewaffnung der Republik zu fördern und die Wehrmachtsoffiziere wieder einzugliedern. Oder wie es benutzt wurde, um den Vorwurf der Kollektivschuld zurückzuweisen und abzulenken von der historisch längst bewiesenen Tatsache, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten ohne eine breite Beteiligung der Deutschen nicht möglich gewesen waren. Oder wie es im Kalten Krieg nützlich zur Abgrenzung gegen den Osten war. Zugleich diente es dazu, den kommunistischen und sozialdemokratischen Widerstand nicht wahrzunehmen, sondern zu verteufeln und keinesfalls zu würdigen. Und das Attentat wurde innenpolitisch missbraucht und diente der neuen Etablierung der alten Eliten und der Diffamierung von Sozialdemokraten und Kommunisten als „vaterlandslose Gesellen“.

Auch in anderen Bereichen weist Ruth Hoffmann präzise nach, wie die Ergebnisse der historischen Forschung zum Widerstand entweder negiert oder auf den ideologischen Tagesgebrauch zurechtgeschnitten werden Dies betrifft v. a. die Ära Kohl, und hier verlässt die Autorin immer wieder ihren grundsätzlich sachlichen Ton. Sie ist deutlich empört, und als Leser kann man ihre Empörung nur teilen. Und sich selber darüber Gedanken machen, wieso das Wort „Widerstand“ und Vergleiche mit den Scholl-Geschwistern bei den sog. Querdenkern wieder auftauchen.

Insgesamt ein aufwühlendes Buch, spannend und kurzweilig, keine Sekunde langweilig, und zugleich der Versuch, die Vereinnahmung des Widerstands durch konservative Interessen zu beenden. Ruth Hoffmann wertet den versuchten Staatsstreich nicht ab, sondern sie bewertet ihn neu: als Überwindung idelogischer und sozialer Grenzen und Fokussierung auf ein gemeinsames Ziel. Ein „leuchtendes Beispiel“ für „die Bereitschaft zu Toleranz und Kompromiss.“