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Bücherbummler

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Insgesamt 110 Bewertungen
Bewertung vom 27.11.2022
Lincoln Highway
Towles, Amor

Lincoln Highway


ausgezeichnet

Nebraska 1954. Als der 18-jährige Emmett aus dem Jugendgefängnis nach Hause kommt, ist nichts mehr, wie es vorher war. Sein Vater ist mittlerweile gestorben und Emmett ist nun für seinen kleinen Bruder Billy verantwortlich. Ein Neuanfang in Kalifornien, wo auch die Mutter der Brüder lebt, scheint die beste Lösung, und so beschließen die Brüder, sich auf den Weg zu machen, immer den Lincolen Highway entlang, der sich von San Francisco bis New York zieht.

Aber Emmett und Billy haben ihre Rechnung ohne Duchess und Wooly gemacht, zwei Freunden aus dem Gefängnis, aus welchem sie gerade ausgebrochen sind. Ihr Weg führt genau in die entgegengesetzte Richtung, nämlich nach New York, wo Woolys wohlbetuchte Eltern ihr Anwesen und auf diesem jede Menge Geld haben. Und um an dieses heranzukommen, brauchen Duchess und Wooly Emmett. Oder zumindest dessen Auto…

Wenn ich der deutschen Hörbuchversion von Amor Towles’ „Lincoln Highway“ etwas vorwerfen kann, dann, dass sie gekürzt ist. Ja, es ist nicht das schlankeste Buch und ja, 15 Stunden und 20 Minuten sind auch schon nicht wenig, aber ich hätte problemlos noch mehr davon ausgehalten. Ich wage sogar zu behaupten: mit Begeisterung. (Update: eine ungekürzte Lesung ist ebenfalls bei Hörbuch Hamburg erhältlich. Warum man allerdings für knapp zwei Stunden mehr fast das doppelte zahlen muss, erschließt sich mir nicht so ganz.)

Das liegt vor allem an Towels’ Charakteren. Ich habe mich quasi viermal schockverliebt. Erst in Emmett, den vernunftbegabten Traumbruder, dann in den intelligenten kleinen Billy. Aber noch mehr in Duchess, der auf konsequente Weise seine Lebenseinstellung als politisch korrekter Kleinverbrecher durchzieht, und in Wooly, den Sohn aus reichem Hause, bei dem das Denken nicht ganz so schnell funktioniert, der dafür aber ein Herz aus Gold hat. Und auch in den Nebenfiguren lässt Towels eine Schar auftreten, die durch (fast) nie überzogene, glaubwürdige Originalität besticht.

Dass die Geschichte durch diese Stärke der Personen an Bedeutung verliert, stört dabei nicht weiter. Im Prinzip hat Towels hier eine Schar Menschen erschaffen, die auch einfach nur 600 Seiten lang hätte Tee trinken können, ohne langweilig zu werden. Und, so viel sei vorsichtig verraten, er hält für den Leser durchaus ein paar Überraschungen bereit.

Auch die Besetzung der Sprecher fand ich sehr gelungen. Uve Teschner höre ich sowieso gerne, da war es mir eine Freude und ein Vergnügen, dass er den Großteil des Romans eingelesen hat. Logisch plausibel hat der Verlag für Duchess und Sally (eine Nachbarin Emmetts, mit, wie es scheint, einst amourösen Hoffnungen. Sie gerät in der Geschichte ein wenig ins Abseits, ob als Opfer der Kürzung vermag ich nicht zu sagen), die einzigen, die aus der Ich-Perspektive erzählen, Julian Greis und Lisa Hrdina verpflichtet. Beide haben mich absolut überzeugt.

Man ahnt es vielleicht, meine Rezension läuft auf eine dicke, fette Hörempfehlung hinaus. Nicht von der Länge abschrecken lassen! Anschaffen! Hören/Lesen! Lieben!

Bewertung vom 23.11.2022
Candy Haus
Egan, Jennifer

Candy Haus


sehr gut

Unsere Erde in sehr naher Zukunft. Und wenn ich sehr nah sage, meine ich sehr nah, wir sprechen hier von in zwei bis zehn Jahren. Bix Boutons Ruhm baut sich auf einer technischen Erfindung auf. Dank seiner können Menschen jetzt den gesamten Inhalt ihres Gedächtnisses in einen externen Speicher herunterladen, der dann allen anderen zur Verfügung steht. Allen anderen, die ebenfalls bereit sind, ihre Erinnerungen, Gedanken und Gefühle mit der Allgemeinheit zu teilen… Was erst für praktische Zwecke, wie das Aufklären von Kriminalfällen und Hilfe für Demenzerkrankte, gedacht war, wird schnell zum viralen Trend. Gleichzeitig erobern weitere Entwicklungen den Markt. Das Hinauszögern der Entdeckung einer verschwundenen Person, indem man sie durch einen Proxy ersetzt. Die daraus entstehende Sparte von darauf Spezialisierten, genau diese Proxys auffliegen zu lassen. Elektronische Asseln, die im Kopf implantiert werden, und damit Zuschauern erlauben, live bei den eigenen Erlebnissen dabei zu sein. Chips, Knöpfe, Kameras… Das Repertoire an Gadgets, die dem Körper hinzugefügt werden können, scheint unerschöpflich. Die mentale Stärke des Menschen ist es nicht...

Nach dieser Beschreibung würde man sich unter „Candy Haus“ von Jennifer Egan wohl einen dystopischen Roman vorstellen, aber ich habe ihn nicht wirklich als solchen empfunden. Dazu war das Thema nicht präsent genug, standen menschliche Beziehungen und Psyche zu sehr im Vordergrund. Ich habe mich des Öfteren gefragt, ob gerade das ein geschickter Schachzug der Autorin ist. Ob sich darin spiegelt, wie schleichend die Technik in unser Leben eindringt und alles übernimmt. Mit welcher Selbstverständlichkeit wir uns ihr anpassen. Aber letztendlich fand ich die ganze Konstruktion zu schwammig. Ich hätte mir hier mehr Handfestigkeit und Fokussierung gewünscht.

Auch ob der Begriff „Roman“ hier greift, kann man diskutieren. Ich würde es eher als eine Sammlung geschickt verflochtener Erzählungen beschreiben. Egan wechselt konsequent die Erzählperspektive, als Leser erfahren wir oft erst spät im Kapitel, bei wem wir uns gerade befinden. Klingt kompliziert, aber für mich war das der größte Teil des Vergnügens, wie ein kleiner Detektiv meine Puzzleteile zu sammeln und in das große Personennetz einzufügen. Jedenfalls den größten Teil des Buches. Irgendwann hat mich die Komplexität überfordert und ist in Sättigung umgeschlagen. Hier wäre weniger vielleicht besser gewesen (das gilt besonders für das letzte Kapitel, liebe Frau Egan. Das vorletzte wäre ein wunderbarer Abschluss gewesen, warum nur haben Sie das zerstört? Zu viele Ideen, die unbedingt untergebracht werden mussten?).

Wer sich fragt, ob man, um „Candy Haus“ verstehen zu können, „Der größere Teil der Welt“ gelesen haben muss: nein, muss man nicht. „Candy Haus“ ist keine Fortsetzung, sondern, wie die Autorin es beschreibt, ein „companion book“. Meines Wissens finden einige Personen in beiden Werken Erwähnung, aber ansonsten stehen sie völlig für sich.

Im Endeffekt befürchte ich, dass „Candy Haus“ in meinen Erinnerungen den gleichen Weg gehen wird, wie „Der größere Teil der Welt“ (Pulitzer-Preis 2011), den Weg ins Schnelle Vergessen. Der Roman ist ohne Frage gut geschrieben, die Themen sind interessant, die Figuren charakterstark, aber dem ganzen mangelt es an einer Struktur, an der man sich festhalten kann. Es hat mir Spaß gemacht, ihn zu lesen, aber am Ende überwiegt bei mir das Gefühl, nichts in den Händen zu halten. Das ist bedauerlich, weil das Potenzial eindeutig vorhanden war.

Bewertung vom 17.11.2022
Miss Kim weiß Bescheid
Cho, Nam-joo

Miss Kim weiß Bescheid


ausgezeichnet

Vor zwei Jahren habe ich „Kim Jiyoung, geboren 1982“ von Nam-Joo Cho gelesen. Und das, so verrät mir ein Blick auf meine damalige Rezension, durchaus nicht ungern, immerhin vier von fünf Sternen, aber mit Einschränkungen. Der Stil (oder die Übersetzung?) hatte mich gestört, die dramaturgische Entwicklung nicht überzeugt. Außerdem musste ich feststellen, dass mir zwei Jahre später absolut nichts davon im Gedächtnis geblieben ist, weder Inhalt noch einzelne Bilder oder Gefühle. Genug Gründe, um zu zögern, bevor ich zu einem weiteren ihrer Bücher gegriffen habe.

Ohne es zu bereuen. Auch in „Miss Kim weiß Bescheid“ greift Cho wieder die Rolle der Frau in ihrem Heimatland Südkorea auf, stellt sich aber thematisch noch mal breiter auf. In acht Geschichten begegnen wir acht Frauen unterschiedlichsten Alters und einem Themenspektrum, das unter anderem das Älterwerden (und trotzdem noch Wünsche für sich selbst haben), Hass im Internet, Gaslighting, Übergriffigkeit in der Schule und erste Liebe zu Zeiten von Corona umfasst. Mit einem ganz entscheidenden Unterschied: Chos Frauen sind keine bloßen Opfer mehr. Sie erdulden und zerbrechen nicht, sondern sie beginnen, ihre Positionen zu verteidigen und zum Gegenschlag auszuholen, werden durchaus auch in gewisser Weise zu Tätern.

Auch meinen Kritikpunkt zur sprachlichen Umsetzung kann ich dieses Mal fast komplett fallen lassen. Vielleicht liegt es daran, dass dieser Erzählband eine andere Übersetzerin hatte, als der Roman, aber es gab nur ein oder zwei Stellen, an denen mich eine Formulierung aus dem Lesefluss geholt hat, weil ich sie überraschend schlecht gelungen fand. Ansonsten konnte ich Chos nach wie vor klarem und nüchtern schilderndem Ton viel abgewinnen. Als Leser hat man viel Freiraum, sich seine Urteile selbst zu bilden, zu entscheiden, wie Recht und Unrecht verteilt, oder überhaupt gerechtfertigte Begriffe sind.

Somit ist „Miss Kim weiß Bescheid“ für mich ein gelungener Erzählband, der wieder beides schafft, sowohl einen Einblick in die südkoreanische Kultur zu gestatten, als auch Themen aufzugreifen, die uns alle angehen und nach wie vor nichts an ihrer Aktualität und Dringlichkeit verloren haben. Eine komplett uneingeschränkte Leseempfehlung von mir und Cho wandert von „könnte ich vielleicht noch etwas von lesen“ in die „von ihr möchte ich alles lesen“ Kategorie.

Bewertung vom 13.11.2022
Wie die einarmige Schwester das Haus fegt
Jones, Cherie

Wie die einarmige Schwester das Haus fegt


ausgezeichnet

Der Baxter’s Beach auf Barbados ist oberflächlich betrachtet ein Touristen-Paradies. Weißer Sand, blaues Meer, Kokosnusspalmen – ganz, wie man sich die Karibik vorstellt. Auch die Reichen haben hier ihre Urlaubsdomizile. Für die Einwohner der Unterschicht sieht die Realität allerdings anders aus. Ihr Leben ist von Armut, häuslicher und außerhäuslicher Gewalt geprägt, von Prostitution und Kriminalität.

Auch Lala ist in diese Spirale des Überlebens am Limit hineingeraten. Mit ihrem Mann Adan lebt sie in dessen heruntergekommenen Haus direkt am Strand, wo sie ein wenig Geld mit dem Flechten von Zöpfen für Touristinnen hinzuverdient. Adan, offiziell als Reparateur tätig, beschafft das zum Überleben Notwendige durch Drogenschmuggel und Einbrüche.

Es ist ein unglücklicher Zufall, der dazu führt, dass Adan just in der Nacht, als Lala ihre Tochter zur Welt bringt, vom Kleinkriminellen zum Mörder wird. Und als dieses Kind kurze Zeit später auch noch ums Leben kommt, löst sich eine Welle aus angestautem Zorn, die alles zu verschlingen droht.

Aus neun Blickwinkeln erzählt Cherie Jones in ihrem eindrucksstarken Romandebüt „Wie die einarmige Schwester das Haus fegt“ eine Geschichte des Überlebens. Des Überlebens auf mehreren Ebenen, von der physischen Bedrohung durch Armut und Gewalt, aber auch von den Auswirkungen dieser Belastungen auf Seele und Geist. Den Schwerpunkt legt Jones dabei auf Lala, aber auch Mrs. Whalen, Ehefrau des von Adan ermordeten Peter Whalens, wird als eine, die es vom „Inselmädchen“ zur Gattin eines wohlbetuchten Langzeittouristen gebracht hat, mehr Raum eingeräumt.

In ihrer Sprache bleibt Jones, selbst Opfer und Überlebende häuslicher Gewalt, nüchtern und undramatisch. Ebenso verzichtet sie weitestgehend auf Bewertungen. Sie erzählt einfach und schafft es dabei auf faszinierende Weise, das Bedrückende und Trostlose ihrer Geschichte nicht nur intellektuell, sondern auch atmosphärisch verdichtet auf den Leser zu übertragen.

Zeitlich befinden wir uns in den 1980ern, bewegen uns aber auch immer wieder zurück, bis in die 1940er, erfahren mehr über Vorbedingungen und Ereignisse, die schließlich dazu geführt haben, dass die Figuren zu dem wurden, was sie sind. Eine Kausalität, die aber nie eine Entschuldigung oder ein Freispruch ist. Und auch heute nach wie vor ihre traurige Aktualität hat.

„Wie die einarmige Schwester das Haus fegt“ befand sich auf der Shortlist für den Women’s Prize for Fiction 2022 und hat es im selben Jahr auch bis in das Halbfinale des Booktube Prizes geschafft. Beides mehr als verdient. Mich hat dieses Buch tief beeindruckt und hat mich für Fragen geöffnet, ohne sie konkret zu stellen. Ich warte gespannt auf den nächsten Roman von Cherie Jones und gebe derweil eine ganz klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 11.11.2022
Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit
Pulley, Natasha

Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit


gut

London 1898. Joe findet sich an einem Bahnhof ohne jede Spur einer Erinnerung an seine Vergangenheit wieder. Man weist ihn in ein Hospital ein, wo sich schnell herausstellt, dass er Leibeigener eines Franzosen ist. Dass überhaupt ganz England zu Frankreich gehört.
Langsam findet er sich in seinem alten/neuen Leben zurecht, bis eines Tages eine Postkarte für ihn eintrifft. Eine Postkarte mit einem Leuchtturm darauf und den Worten „Liebster Joe, komm nach Hause, wenn du dich erinnerst. M.“. Das merkwürdigste ist aber, dass dieses Postkarte vor 90 Jahren abgeschickt wurde, viele Jahrzehnte, bevor Joe überhaupt geboren wurde.
Lange versucht Joe, das Rätsel um diese Postkarte zu vergessen, und sein eigenes Leben zu führen, aber dann macht er sich doch auf den Weg zu jenem Leuchtturm. Auf den ersten Blick scheint dieser seine Geheimnisse nicht preiszugeben. Bis Joe eines Tages einen fremden Mann aus dem Meer rettet. Ein Mann, der aus einer anderen Zeit zu stammen scheint.

„Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit“ von Natasha Pulley ist eines jener Bücher, zu denen ich nicht wirklich viel zu sagen weiß. Die Thematik „Zeitreisen“ finde ich nicht uninteressant, vor allem den Aspekt, wie kleinste Änderungen in der Vergangenheit die Gegenwart beeinflussen. Aber die Umsetzung in diesem vorliegenden Fall war… mittelmäßig. Im Prinzip kann ich weder groß kritisieren, noch irgendeinen Aspekt begeistert hervorheben. Alles plätscherte gefällig vor sich hin, ohne große Höhen und Tiefen, ohne mich zu überraschen oder zu fesseln. Aber auch, ohne mich so zu langweilen, dass ich gerne abgebrochen hätte. Es war okay.

Das gilt auch für die Einlesung durch Jonas Minthe. Sie hat mich nicht mitgerissen, sie war aber auch nicht schlecht. Okay eben.

Von meiner Warte aus hätte der Roman einiges gewonnen, wenn er mehr in die Tiefe gegangen wäre. Etwas mehr psychologisches Spektrum jenseits der Verwirrung, etwas weniger Vorhersehbarkeit und eine kleine Kürzung der Seitenzahl würde er gut vertragen. Vielleicht würde man dann auch das Gefühl, dass die Autorin gerne hier und da das Geschehen ein wenig so zurechtrückt, dass es, auch gegen die Gesetze der Logik, passt, vergessen. Aber Freunde von Abenteuerromanen und Fantasy sollten sich nicht abschrecken lassen und ihr eigenes Urteil bilden.

Bewertung vom 30.10.2022
Spitzweg
Nickel, Eckhart

Spitzweg


gut

Schon länger ist der namenlose Ich-Erzähler heimlich in seine Klassenkameradin Kirsten verliebt. Darum ist er, als diese von der Kunstlehrerin so gekränkt wird, dass sie aus der Klasse rennt, gleich dabei, als der neue charismatische Mitschüler Carl beschließt, dass Kirsten gerächt werden muss. Carls Plan beinhaltet, Kirsten bei sich zu verstecken und den Eindruck zu erwecken, der Kommentar der Lehrerin hätte sie womöglich in den Selbstmord getrieben. Doch dann verschwindet Kirsten aus dem Versteck und aus der gespielten wird eine echte Suche.

„Spitzweg“ von Eckhart Nickel hat mich in vielfältiger Hinsicht verwirrt. Da wäre zum einen die Sprache, die aus einem anderen Jahrhundert zu stammen scheint. Rein von ihrem Klang her wäre Carl als erstes in Form eines junger Stutzers aus besserem Hause vor meinem inneren Auge erschienen. Einem intelligenten, aber besserwisserischen jungen Mannes, der durch die Salons des 19. Jahrhunderts schlendert, und seine Zuhörer amüsiert oder entsetzlich nervt. Aber man findet schon bald heraus, dass sich nicht nur Carl, dem man es noch zugetraut hätte, dieses Tonfalls bedient, sondern schlicht jede Figur des Romans über das gleiche Maß an antiquiertem Wortschatz und, zu meinem großen Erstaunen, einem beeindruckenden Grundwissen auf allen Kunstgebieten, zu verfügen scheint. Und sich diesen ununterbrochen bedient.

Ein anderes Rätsel ist das permanente Gefühl, sich in einer surrealen Atmosphäre zu bewegen, ohne dass etwas in letzter Konsequenz surreales passieren würde. Sicher liegt es zum einen an der oben schon erwähnten Ausdrucksweise, aber auch an den Situationen und den Verhaltensweisen der Handelnden an sich, die einem nur selten ein Gefühl von Realitätsnähe geben.

Und dann wäre da die Handlung, die völlig im stilistischen Enigma versinkt. Man könnte meinen, der Autor hätte vor lauter Auslebung seiner künstlerischen Ader vergessen, was er eigentlich erzählen wollte. Für den Stringenz liebenden Leser, wie ich einer bin, kein leichtes Spiel.

In der Konsequenz habe ich das Buch mit gespannter Begeisterung begonnen, um am Ende ernüchtert, irritiert und leicht gelangweilt zurückzubleiben. Wenn dieser Roman ein symbolisches Rätsel war, dann hat es bei mir nicht den Ehrgeiz, es zu lösen, wach kitzeln können. Ich war nicht mal in der Lage, die angekündigte „Kritik an der Bildvergötterung der sozial verwahrlosten Digitalgesellschaft“ zu entdecken. Was ich allerdings entdeckt habe, ist ein Interesse für Spitzwegs Werk.

So gesehen war die Zeit, die der Roman und ich zusammen verbracht haben, dann doch keine ganz verlorene Liebesmüh. Nickel hat mir nicht nur die Augen für noch unentdeckte Kunstbereiche geöffnet, er hat auch meinen Respekt als Schriftsteller. Zwar konnte ich mit der Diskrepanz zwischen oder dem Spiel mit Schein und Sein nicht umgehen, aber andere Leser werden gerade das sicher zu schätzen wissen. Eine Nominierung für die Shortlist des Deutschen Literaturpreises kriegt man ja auch nicht grundlos.

Bewertung vom 20.10.2022
Im Rausch: Russlands Krieg (MP3-Download)
Babtschenko, Arkadi

Im Rausch: Russlands Krieg (MP3-Download)


sehr gut

Zweimal war Arkadi Babtschenko für sein Heimatland Russland im Krieg. Für den ersten Tschetschenienkrieg wurde er eingezogen, für den zweiten meldete er sich freiwillig. Eine Posttraumatiche Belastungsstörung, die den Krieg für ihn zu einer Droge hatte werden lassen, habe ihn dazu bewegt, so erklärt er später. Nach den Kriegen arbeitet Babtschenko als Journalist, wird Kriegsberichterstatter und veröffentlicht Bücher über die Realität an den Fronten. Nach und nach wird der ehemalige freiwillige Soldat durch seine Erfahrungen zum Kriegsgegner, kritisiert die Methoden der Armee, aber auch immer mehr das Regime. Er wird ein unbequemer Gegner, die Anfeindungen gegen ihn werden stärker. Bis er 2017 beschließt, das Land zu verlassen, und erst nach Prag, dann nach Kiew ins Exil zu gehen, um von dort aus weiter seine Einblicke und Gedanken mit der Welt teilen zu können. In „Im Rausch – Russlands Krieg“ veröffentlicht er eine Sammlung aus Essays, die bis in das Jahr 2014 zurückreichen, und, im zweiten Teil, ein Tagebuch, das am Vorabend des Angriffes Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 bis zum 9. Mai 2022 reicht.

Wer „Im Rausch“ lesen oder hören möchte, sollte vor allem eins wissen: Wenn er, wie ich, kein Bewohner Russlands oder zumindest eines ehemaligen Staates der Sowjetunion ist, dann wurde dieses Buch nicht für ihn geschrieben. Babtschenko wendet sich in erster Linie an seine russischen Landsleute und vielleicht noch deren direkten Nachbarn. Wer nicht in diesem Kulturkreis aufgewachsen ist oder über einen sehr tiefen Einblick in selbigen verfügt, bleibt oft außen vor. Namen, Anspielungen auf Filme, Ereignisse, auf die nicht unbedingt in der ausländischen Presse berichtet wurde… All diese Dinge werden als kollektives Allgemeinwissen vorausgesetzt und bleiben daher ohne jede Erklärung. Als unbedarfter Westler kann man sich nur dahinter klemmen und recherchieren, oder es auf sich beruhen lassen.

Was man aber auf jeden Fall mitnehmen wird, ist ein starker Eindruck der Person Babtschenko. Dieser Mann nimmt kein Blatt vor den Mund, hält nichts von Diplomatie und scheint, trotz der Drohungen und Anklagen gegen ihn, fast furchtlos. Er ist, auch wenn man nicht immer mit ihm einer Meinung sein mag, scharfsinnig, radikal und sarkastisch bis hin zur Verbitterung. Seine Sprache wirkt zuweilen grob, kennt kaum Tabus. Wenn er den amerikanischen Präsidenten „Opa Biden, der alte Pupser“, nennt (was mag wohl „alter Pupser“ auf Russisch heißen?), dann ist das geradezu noch anrührend freundlich. Für Putin, dessen Staat Babtschenko gerne als Mordor und dessen Einwohner als Orks bezeichnet, findet er noch ganz andere Ausdrücke.

Als Sprecher konnte der Saga Egmont Verlag Omid-Paul Eftekhari gewinnen, eine perfekte Besetzung. Für mich sind hier Leser und Autor so zu einer Einheit verschmolzen, dass ich zwischendurch vergessen habe, dass nicht Babtschenko persönlich zu mir spricht.

Da „Im Rausch“ eine Sammlung verschiedener Texte ist, hat es seine Wiederholungen, sowohl von Situationen, als auch Metaphern und Phrasen. Aber das macht nichts, denn es ist so reich an Informationen und Eindrücken, dass man auf jeden Fall viel Stoff zum Nachdenken daraus ziehen kann. Ein weiteres wichtiges Puzzleteil im großen Rätsel Russland.

Bewertung vom 17.10.2022
Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois
Jeffers, Honorée Fanonne

Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois


sehr gut

William Edward Burghardt „W. E. B.“ Du Bois ([duːˈbɔɪz], *23. Februar 1868 in Great Barrington, Massachusetts; †27. August 1963 in Accra, Ghana) war ein US-amerikanischer Historiker, Soziologe, Philosoph und Journalist, der in der Civil Rights Movement mitwirkte. (Wikipedia)

Aileys Stammbaum reicht weit in die amerikanische Geschichte zurück. Unter ihren Vorfahren befinden sich sowohl Ureinwohner als auch weiße Einwanderer, aber vor allem Schwarze mit afrikanischen Wurzeln. Dieses Erbe und ihre Sommer in Chicasetta, wo ihre Großmutter in dem ehemaligen Herrenhaus einer Plantage lebt, auf der ihre Ahnen früher als Sklaven schuften mussten, haben Ailey geprägt. Und so widmet sie ihr Studium der Historie, versucht, sich selbst zu finden, indem sie denen, die vor ihr lebten und litten, eine Stimme gibt.

In zwei Strängen und auf fast 1000 Seiten erzählt Honorée Fanonne Jeffers in ihrem Roman „Die Liebeslieder von W. E. B. Du Bois“ eine gewaltige Familien- und Landesgeschichte. In dem einen beschreibt Ailey als Ich-Erzählerin ihr Leben in einer Zeit, in der Afroamerikaner zwar offiziell die gleichen Rechte haben, wie Weiße, in der der Rassismus aber noch lange nicht überwunden ist. Aber auch von einer Realität, in der Schwarze in ihren eigenen Reihen Regeln unterliegen, die sich nach Abstammung und Farbton der Haut richten. In einer Welt, in der, trotz Fortschritten, Hautton und Geschlecht nach wie vor mitbestimmen, welche Wege einem offen stehen. Und unter welchen Bedingungen.
Die zweite Stimme gehört einem kollektiven „wir“, eine Art Flüstern aus der Vergangenheit, das vermutlich von den Ahnen der Creek, den Ureinwohnern im Gebiet des heutigen Georgia, stammt. Eine Stimme, die die Geschichte der Familie über den Verlauf von gut 400 Jahren erzählt, und dabei als Individuum immer mehr hinter der Erzählung verloren geht.

1000 Seiten sind viel, auch für Freunde dicker Schinken. Manchen Büchern schadet das nicht, aber zu denen gehören „Die Liebeslieder“ meiner Empfindung nach nicht ganz. Die Geschichte der Vorfahren ist ehrgeizig, will viele Themen unterbringen, alle Aspekte der Sklaverei, die Vernichtung der Ureinwohner, persönliche Familiendramen und -konflikte… Als Leser habe ich, trotz Familienverzeichnis im Anhang (einen grafischen Stammbaum hätte ich sinnvoller gefunden), den Überblick, und, als Folge dessen, auch einen Teil meines Interesses verloren. Aileys Geschichte auf der anderen Seite war das genaue Gegenteil, in die Länge gezogen und teilweise irrelevant. Wie ein eher mittelmäßiger Campus-Roman, den ich nicht unbedingt hätte lesen müssen.

Aber neben diesen Schwächen hat das Buch auch starke Seiten. Ich bin in der Regel eher Kopf- als Gefühls-Leserin. Dass ich emotional wirklich mitleide, kommt so gut wie nie vor. Aber hier schon. Einige Szenen, besonders die über Kindesmissbrauch, der sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht, waren so heftig, dass ich das Buch zur Seite legen und ein paar Tage pausieren musste. Heftig auf eine nüchterne Art, die ohne Drama und Sensationsgier auskommt. Das Leid vieler, vieler Betroffener spürbar zu machen, das ist der Autorin wirklich gelungen.

Ein großes Lob geht an die Übersetzerinnen Maria Hummitzsch und Gesine Schröder. Einen Roman, in dem Sprache eine so wichtige Rolle spielt, in eine andere, die diese spezielle Distinktion nicht hat, zu übertragen, muss einen verzweifeln lassen. Die Idee, Originalsätze aus dem sogenannten African American Vernacular English in die deutsche Version einfließen zu lassen, fand ich eine intelligente und gut umgesetzte Lösung. Die Nachworte der Beiden sollte man unbedingt lesen. Vielleicht sogar schon vor der Lektüre.

Und ebenso wenig schadet es, wenn man sich im Vorfeld über die Debatte zwischen W. E. B. Du Bois und Booker T. Washington informiert. Leser mit Vorwissen sind hier deutlich im Vorteil.

Zusammengefasst ist „Die Liebeslieder von W. E. B. Du Bois“ ein Buch, das mich ein paar Nerven gekostet hat, aber alles in allem die Mühe wert war. Der Roman will viel, vielleicht zu viel, aber auf diese Weise nimmt man auch auf jeden Fall etwas daraus mit. Leseempfehlung für Interessierte und Geduldige.

Bewertung vom 13.10.2022
Mehr als ein Wunsch
Rohner, Werner

Mehr als ein Wunsch


gut

Sunny ist ratlos. Er soll sich für nur ein Geschenk für Weihnachten entscheiden, dabei sind auf seiner Wunschliste schon über 20. Und ihm fallen immer neue Dinge ein, die er wirklich gut gebrauchen könnte. Was soll er sich nur wünschen? Eine Schokolade, die genauso groß und schwer ist, wie er selbst (was sich wirklich lohnen würde, denen Sunny hat einen großen Bauch, weil er so klug ist, dass sein Gehirn im Kopf nicht genug Platz hat), spezielle Torhüterschuhe mit Düsenantrieb? Eine Wetterfernbedienung? Eine andere Schwester, weil Lala wirklich nicht immer nett ist? Einen neuen Kopf für Oma, die Alzheimer hat und immer mehr vergisst? Oder doch eine neue Frau für Papa? Denn seit Mama tot ist, weint Papa viel, besonders zu Weihnachten.
Sunny beschließt, dass nicht nur eine Freundin für Papa hermuss, sondern weiß auch schon, wer das sein soll. Elif, die Postbotin. Die kommt schließlich fast jeden Tag, es kann also nicht so schwer sein. Und so macht sich Sunny daran, seine Wünsche zu sortieren und für ein schönes Weihnachtsfest zu sorgen.

Für viele ist die Weihnachtszeit die schönste Zeit des Jahres. Für andere ist sie die schwerste. Besonders für jene, die eine geliebten Menschen verloren haben. Mit „Mehr als ein Wunsch“ wagt sich Werner Rohner an dieses schwere Thema heran und verpackt es kindgerecht. Mit Sunny hat er dafür einen Protagonisten geschaffen, der nicht nur clever, amüsant und liebenswert ist, sondern auch genau die richtige Balance hält zwischen einer eigenen, herausstechenden Persönlichkeit und einem Wesen, das für kleine Leser genug Projektionsfläche bietet, um sich selbst wiederzufinden.

Auch die Idee, die Geschichte in 24 Kapiteln für die Tage bis Weihnachten zu erzählen, fand ich nett. Was ich allerdings nicht weiß, ist, ob sich bei Kindern der Spannungsbogen hält. Denn so niedlich und pfiffig Sunny auch sein mag, habe ich zumindest irgendwann das Interesse an seinem Geschenk-Dilemma verloren.

Würde ich das Buch selbst verschenken? Ehrlich gesagt, eher nicht. Zum einen fand ich die Umsetzung der großen Themen, Tod der Mutter und Alzheimererkrankung der Großmutter, nicht wirklich gelungen. Bei ersterem habe ich den Verlust der Kinder nicht richtig gespürt. Natürlich trauert jeder anders, und der Mangel an echter Kommunikation über das Ungreifbare ist sicher in vielen Familien Realität, aber für mich las es sich fast so, als würde nur der Vater leiden. Und damit zum Problemfall werden. Was die Erkrankung der Großmutter betrifft, so bleibt sie weitestgehend ohne große Kommentare außen vor. Da hätte ich mir mehr gewünscht, zumindest ein wenig Aufklärung. Ausschlaggebend ist für mich aber, dass mir die Themen und die Konfliktlösung der Familie einfach zu wenig weihnachtlich sind, da bin ich zu traditionell. Das typische Gefühl von Wärme und Kerzenschein ist bei mir nicht aufgekommen. Trotz sehr schöner Stellen, zum Beispiel als Sunnys Oma auf seine Frage, ob sie ihn eines Tages auch vergessen wird, antwortet: „Wahrscheinlich schon. (…) Du wirst trotzdem irgendwie bei mir sein, im Herzen – nur hab ich dann halt vergessen, wo das ist.“ (18. Dezember)

Auch die Illustrationen von Gareth Ryans fand ich ein wenig deprimierend. Was vor allem wohl daran lag, dass sie in schwarz-weiß gehalten sind, mit jeweils einem in Rot hervorgehobenen Element. Mich hat das sehr an „Schindlers Liste“ und den roten Mantel des kleinen jüdischen Mädchens erinnert, aber gut, diese Assoziation werden Kinder wohl nicht haben.

So war „Mehr als ein Wunsch“ für mich letztendlich leider nur ein mittelmäßiges Leseerlebnis, das seinen Charme hat, aber auch seine Schwächen. Wer sich gemeinsam mit seinen Kindern mit so wichtigen Themen wie dem Tod eines Elternteils und dem Gedächtnisverlust der Großeltern auseinandersetzen möchte, hat mit diesem Buch aber durchaus einen guten Ansatz. Es muss ja nicht unbedingt zur Weihnachtszeit sein.

Bewertung vom 06.10.2022
Lügen über meine Mutter
Dröscher, Daniela

Lügen über meine Mutter


ausgezeichnet

Deutschland in den 1980ern. Eigentlich will Elas Vater nur eins: ein Leben, das seinen Vorstellungen entspricht. Eine Familie, die er stolz präsentieren kann, eine Karriere mit Aufstiegschancen, Ansehen, Statussymbole. Nichts allzu großes, alles im Rahmen dessen, dass er in seinem Heimatdorf, in dem er mit Frau, Tochter (später Töchtern) und Eltern lebt, ganz oben mitmischen kann. Dass das Leben nicht immer so läuft, wie man es sich wünscht, ist für ihn inakzeptabel, daran muss irgendwer schuld sein. Jemand, der nicht er selbst ist. Und da bietet sich in erster Linie das Übergewicht seiner Frau an, eine sichtbare Erinnerung der Diskrepanz zwischen Wunsch und Realität. Ein ständiger Dorn im Auge, der seine Ehe an den Rand ihrer Existenz drängt. Ein Übel, für dessen Beseitigung er auch vor drastischen Maßnahmen bis hin zur Erpressung nicht zurückschreckt.

Ein Mann, der seine Idee von der Position eines Familienvaters umsetzen will, eine Frau, die der ihr zugedachten Rolle als Ehefrau und Mutter in diesem Gefüge nur bedingt gerecht werden kann und will, eine Tochter, die zwischen die lieblosen Fronten gerät. In „Lügen über meine Mutter“ erzählt Daniela Dröscher aus Sicht der Tochter Ela von einer Ehe, die an Erwartungen und Schuldzuweisungen zu zerbrechen droht. Dabei mag das Gewicht der Mutter der Punkt sein, um den die Geschichte immer wieder kreist, aber in dem Roman geht es um sehr viel mehr. Zum einen ist er die detailgenaue Spiegelung einer Zeit, in der Frauen in Deutschland erst seit wenigen Jahren einen Job ohne die Einwilligung ihres Ehemannes annehmen konnten. In der die Rollenverteilung von der Frau am Herd und dem Mann, der für das Wohlergehen seiner Familie verantwortlich ist, noch mehr Gewicht hatte. Besonders – und hier kommen wir zu der zweiten Ebene – in einer ländlichen Gegend, einem Milieu, in der jeder Schritt beobachtet wird und klar definiert ist, was man zu tun und zu lassen hat. Wo der Aufrechterhaltung eines Wunschbildes nach Außen das Wohlergehen im Inneren an schnell mal an Wichtigkeit überbietet.

Dröschers Sprache ist eher einfach gehalten, spielt aber gleichzeitig auch eine zentrale Rolle. Eingeschobenen Passagen zwischen den Kapiteln reflektieren das Erzählte aus Sicht der nun erwachsenen Tochter, setzen sich aber auch mit dem Schreiben und der Arbeit des Schriftstellers auseinander. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei Redewendungen zu, der Frage, wann ihre Verwendung akzeptabel ist. In den Kapiteln selbst werden sie oft kursiv hervorgehoben, was ich nicht uninteressant fand, weil man als Leser schnell dazu tendiert, sie gar nicht mehr wahrzunehmen. So ergibt sich sozusagen eine Sprachstudie innerhalb einer Gesellschafts- und Milieustudie.

Wer in den 1980ern Kind war, ist, denke ich, klar im Vorteil. Ich weiß nicht, ob ich den Roman mit der gleichen Begeisterung gelesen hätte, wenn ich mich nicht immer wieder in meine Kindheit zurückkatapultiert gefühlt hätte.

Ob „Lügen über meine Mutter“ eine Chance auf den Deutschen Buchpreis 2022 hat, vermag ich nicht zu sagen. Ich habe Zweifel, vor allem, weil das Buch stilistisch nicht aus der Menge heraussticht, keine exzentrische Stimme oder ausgefallenes Thematik hat. Gönnen würde ich es ihm trotzdem, gerade weil es unaufgeregt, aber eindrucksstark ein Stück Zeitgeschichte transportiert, die wir noch lange nicht ganz hinter uns gelassen haben. Von mir gibt es auf jeden Fall eine große Leseempfehlung und gedrückte Daumen.