Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
gst
Wohnort: 
pirna

Bewertungen

Insgesamt 201 Bewertungen
Bewertung vom 23.09.2022
Verbrenn all meine Briefe
Schulman, Alex

Verbrenn all meine Briefe


ausgezeichnet

Lesehighlight

Diesen Autor sollte man sich merken. Die beiden Büchern, die ich von ihm kenne, haben mich bezüglich Stil und Aussage überzeugt.

Als ich dieses Buch entdeckte, wusste ich, dass ich es lesen muss. Der Autor hatte mich mit „Die Überlebenden“ vollkommen für sich eingenommen. Auch dieses, sein zweites ins Deutsche übersetzte Buch begeistert mich für Alex Schulman.
Vor der Lektüre befasste ich mich kaum mit dem Inhalt, sondern begann einfach nur zu schmökern. Unklar, wohin mich die Reise führt, erfuhr ich von der Wut des Autors. Er berichtet, wie er - ohne es zu wollen – seine Töchter in die Enge treibt. Erschrocken darüber beginnt er eine Therapie, die ihn tief in seine Familiengeschichte eintauchen lässt. Er entdeckt, dass sich seine Großmutter zwei Jahre nach der Verehelichung mit Sven Stolpe in einen anderen Mann verliebte. Der war – genau wie ihr Angetrauter – Autor und hat in seinen Schriften die heimliche Liebe verarbeitet. Ebenso wie der Großvater, der sich zeitlebens in einem Zwist mit seinem Widersacher Olof Lagercrantz verwickelt war. Karin Stolpes Versuche ihren Ehemann zu verlassen, scheiterten an der Angst, die er ihr, die mit ihren Übersetzungen selbst Geld verdiente, eingejagt hat. Der Ehe entstammen vier Kinder, die inzwischen alle zerstritten sind.

Dieses Buch ist vollkommen anders als „Die Überlebenden“. Zwar handelte es sich darin auch um Familiengeheimnisse, doch waren die wahrscheinlich nicht so der Realität entliehen. Alex Schulman erwähnt in seinem Dankeswort zu „Verbrenn all meine Briefe“, dass ihm die Familie von Olof Lagercrantz private Aufzeichnungen des Autors für die Recherche zur Verfügung gestellt hat. Zusammen mit den Büchern seines Großvaters hat er einen authentischen Bericht zu einem Roman verarbeitet, der tief unter die Haut geht.

Mich hat das Buch nach wenigen Seiten so gefesselt, dass ich es kaum mehr aus der Hand legen konnte. Ein weiteres Mal hat mich der Schwede Alex Schulman (am 17.2.1976 in Hemmesdynge geboren und Vater von drei Kindern) voll überzeugt. Und zum wiederholten Mal würde ich die Lektüre besser als mit sehr gut bewerten.

Anmerkung: Nach wie vor ist er erschreckend, wie sich Frauen von ihren Männern in die Enge treiben lassen und kaum fähig sind, sich dagegen zu wehren. Dies ist schon das zweite Buch, das mir in letzter Zeit zu diesem Thema in die Hände gekommen ist. In „Lügen über meine Mutter“ von Daniela Dröscher, das es 2022 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, wird das gleiche Phänomen behandelt. Allerdings sprach mich „Verbrenn all meine Briefe“ noch stärker an. @gst

Bewertung vom 18.09.2022
Lügen über meine Mutter
Dröscher, Daniela

Lügen über meine Mutter


ausgezeichnet

Tyrannei einer Ehe

Elas Mutter hatte es nicht leicht. Sie stammt aus einer Aussiedlerfamilie, die es mit viel Arbeit geschafft hat, zu Reichtum zu kommen. Von ihrem Vater mit Nichtbeachtung bestraft, weil ihre Geburt seiner Frau beinahe das Leben gekostet hat, wird das hübsche Mädchen von einem jungen Mann aus dem Hunsrück geheiratet. Der leidet unter seinem Sein, da er gerne mehr darstellen würde. Als Familienoberhaupt versucht er das Sagen zu behalten, doch Elas Mutter macht was sie will. Zumindest solange sie nur ein Kind hat.

Daniela Dröscher erzählt aus Sicht des Kindes, das zu Beginn sechs Jahre alt ist. Viele ihrer Erinnerungen drehen sich um die Gewichtsprobleme der Mutter, die vom Vater ständig an die große Glocke gehängt werden. Meist erinnert sie sich liebevoll an die Mutter, die bemüht ist, allen Anforderungen gewachsen zu sein: Sorge um das Wohl der Familie, Berufstätigkeit, Kümmern um ihre eigene kranke Mutter.

Viele der geschilderten Situationen kommen mir wie aus einer früheren Zeit vor, nicht wie aus den 80er Jahren. Doch Männer, die sich mit ihren Frauen aufwerten wollen, gab es auch zu meinen Zeiten noch. Ebenso Frauen, die um ihren Kindern die Familie zu erhalten, viele seelische Verletzungen ertrugen.


Ich habe dem von Sandra Voss vorzüglich eingelesenen Hörbuch mit wachsendem Entsetzen zugehört. Die Emotionen wechselten zwischen Mitleid, Unverständnis und Wut ob des Martyriums, dem sich die Frau kaum zu entziehen verstand. Ganz im Gegenteil, sie versuchte trotz eigener Krankheit immer allen und allem gerecht zu werden. Statt den Mann in seine Schranken zu weisen, übernahm sie sogar noch finanzielle Verantwortung für sein Unvermögen.

Gefallen haben mir auch die kurzen Einschübe der erwachsenen Autorin, die anhand diverser später Erkenntnisse analysierte, wie Mutter und der Vater so werden konnten, wie das Kind sie erlebte.


Auch wenn manches überspitzt geschildert ist, finde ich die Lektüre gelungen. Möge sie Betroffenen die Augen öffnen und zum Nachdenken über Veränderungen anregen. Von mir eine klare Hörempfehlung!

Bewertung vom 13.08.2022
Denk ich an Kiew
Litteken, Erin

Denk ich an Kiew


ausgezeichnet

Russlands geschichtlicher Kampf um die Ukraine – fast wie heute

Spätestens seitdem die Russen die Getreideausfuhr aus der Ukraine verhindert haben, ist uns bewusst geworden, dass dort viel Getreide produziert wird. Das scheint schon vor knapp hundert Jahren so gewesen zu sein. Zumindest wenn man dem Inhalt dieses Buches glaubt. Dass während des Holodomor mehrere Millionen Menschen verhungerten, wird Josef Stalin zugeschrieben. Laut Wikipedia verfolgte er in den 1930er Jahren das politische Ziel, den ukrainischen Freiheitswillen zu unterdrücken und die sowjetische Herrschaft in der Ukraine zu festigen.


Dieses Buch führt uns die damalige Zeit vor Augen und verursacht Gänsehaut. Allerdings beginnt die Geschichte viel später in Amerika. Die erst vor kurzem verwitwete Cassie soll zusammen mit ihrer Tochter zu ihrer Großmutter Bobby umsiedeln, da diese immer merkwürdiger wird und nicht mehr allein wohnen kann. Zusammen mit einem hilfsbereiten jungen Nachbarn übersetzt sie das Tagebuch ihrer Oma und erfährt von den Grausamkeiten, denen die alte Frau im Laufe ihres Lebens ausgesetzt war.


Das Buch hat mich erschüttert. Denn bisher wusste ich nichts vom Holodomor und wozu uns Hunger treiben kann. Der Schreibstil ist angenehm zu lesen und erzählt auf zwei Zeitebenen. Die eine ist im heute angesiedelt, die andere spielt um 1930 in der Ukraine. Das Buch macht wütend auf die sowjetische Machtverfolgung. Die Autorin spricht so manches an, was wir aus den heutigen Nachrichten erfahren. Dabei entstand das Buch schon vor dem sowjetischen Einmarsch in die Ukraine. Erin Litteken wollte ursprünglich die Geschichte ihrer ukrainischen Großmutter erzählen, entschied sich nach ihrer Recherche jedoch dafür, den Holodomor in Mittelpunkt dieses Romans zu stellen.


Fazit: Ein lesenswertes Buch, da es viel Wissen über eine bei uns unbekannte Zeit vermittelt.

Bewertung vom 25.07.2022
Susanna
Capus, Alex

Susanna


ausgezeichnet

Lebendige Vergangenheit

Susanna hatte „von frühester Jugend an sorgfältig darauf geachtet, immer frei und unabhängig zu bleiben und sich keinesfalls von Arbeitgebern, Ehemännern und anderen Schindern in Kettenhaft nehmen zu lassen.“ (Seite 216)

Bisher war mir Susanna Faesch kein Begriff. Aber wir lesen ja, um etwas dazu zu lernen. Dank diesem Buch und Wikipedia weiß ich nun, dass sie aus der Schweiz stammt. Mitte des 19. Jahrhunderts wanderte sie mit ihrer vom Vater geschiedenen Mutter nach New York aus, wurde zur Malerin und lernte später Sitting Bull kennen.

Alex Capus hat ihr mit seinem Buch ein Denkmal gesetzt. Doch das wurde mir erst relativ spät bewusst. Denn auf den ersten einhundert Seiten bekommt sie nur in drei von sieben Kapiteln eine tragende Rolle. Capus malt sie als resolutes Kind, das schon früh weiß, was es will. Anfangs empfand ich das als zu wenig, um einen näheren Bezug aufzubauen. Erst später stellte sich heraus, dass die Vorgeschichte zum Verständnis ihrer Situation eine wichtige Rolle spielt.

Was das Buch trägt, sind vor allem die Beschreibungen der damaligen Zeit. Da erleben wir Leser die Eröffnung der Brooklyn Bridge mit und die Gefühle der Menschen, als der elektrische Strom ihr Leben erleichterte. Wir erfahren von den ersten stocksteifen Fotos und wie Susanna sie durch ihre farbenprächtige Porträtmalerei zum Leben erweckte. Interessant sind auch die damaligen Reisen per Schiff, Nachtexpress oder Planwagen.

Alex Capus Stil erinnerte mich teilweise an einen mit den Augen zwinkernden Märchenerzähler. Eine ironische Heiterkeit schimmert an vielen Stellen durch und macht das Lesen zum Vergnügen.


Fazit: Ein historisch geprägter Roman über eine Frau, die mehr Bekanntheit verdient hätte. Mich hat er neugierig auf mehr von ihr gemacht, so dass ich mir das Buch „Die Zwischengängerin“ von Thomas Brunnschweiler vorgemerkt habe.

Bewertung vom 21.07.2022
Die Ewigkeit ist ein guter Ort
Noort, Tamar

Die Ewigkeit ist ein guter Ort


gut

Das Leben ist ein Tanz auf dem Seil

Selten fand ich ein Cover so gut zum Buch passend wie hier. Elke, die Ich-Erzählerin, hat Theologie studiert. Bevor sie die erste Stelle antritt, arbeitet sie als Sterbebegleiterin. Doch plötzlich fehlen ihr beim Beten die Worte. Nicht einmal der vertraute Wortlaut des Vaterunsers fällt ihr mehr ein. Völlig aus der Spur grenzt sie sich wegen ihrer „Gottdemenz“ überall aus.


Als Leser begleiten wir die junge Frau auf ihrem unsicheren Weg durch all ihre Zweifel. Wir erleben ihr Ringen um festen Boden unter den Füßen; bis verbannte Erinnerungen an ihren verstorbenen Bruder auftauchen. Seinen Tod hat sie nie verwunden.


Der Titel dieses Buches hat mich magisch angezogen. Ich war überzeugt, dass ich (vielleicht wegen meines fortgeschrittenen Alters?) dieses Buch unbedingt lesen muss! Doch das Verhalten der jungen Frau hat mich – besonders im Mittelteil – regelrecht abgestoßen. Auf der anderen Seite fand ich es gut, wie die Autorin hier thematisiert, dass auch Pastoren nur Menschen sind.


Tamar Noort, 1976 in Göttingen geboren, beschreibt in ihrem Debütroman sehr deutlich die Befindlichkeiten ihrer Protagonistin – auch wenn sie für mich nicht immer nachvollziehbar sind. Elke ist so mit sich selbst beschäftigt und wirkt häufig wie ein kleines Mädchen, das ihr nahe stehende Menschen vor den Kopf stößt. Erst als sie sich ihren Erinnerungen stellt, findet sie zu sich.


Fazit: Eine Geschichte über Zweifel, Verlust, Unsicherheit und schließlich Selbstfindung. Eine Geschichte über Festhalten und Loslassen, Himmel und Erde und das, was dazwischen ist.

Bewertung vom 18.07.2022
Violeta
Allende, Isabel

Violeta


ausgezeichnet

Bewegtes Leben in ausführlichem Brief zusammengefasst

„Ich bin 1920 während der Grippepandemie geboren und werde 2020 während der Coronapandemie sterben“, resümiert Violeta in einem ausführlichen Brief an ihren Enkel Camilo, in dem sie die Geschichte ihres Lebens erzählt.

Geboren während der spanischen Grippe entwickelte sie sich nach vier Brüdern zu einem verwöhnten Gör, das erst durch ihre englische Gouvernante Erziehung genoss. Sie berichtet von der Weltwirtschaftskrise, die ihrem spekulationsfreudigen Vater letztendlich das Genick brach.

Das ganze Buch ist wie ein Brief verfasst und enthält vier Lebensabschnitte. Im zweiten ist sie zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt. Sie heiratet, noch bevor sie ihrer großen Liebe begegnet. Sehr intensiv lässt sie uns LeserInnen an ihrer erwachten Leidenschaft teilhaben, an der Unmöglichkeit einer Scheidung und dem Leben mit einem unberechenbaren Liebhaber, mit dem sie zwei Kinder hat. Im dritten Abschnitt wird sie von großen Problemen eingeholt: Tochter Nieves hängt an Drogen und scheint unrettbar verloren. Zudem steht Sohn Juan Martín auf der schwarzen Liste der Militärs. Nach seiner Flucht weiß Violeta lange nicht, ob er mit dem Leben davongekommen ist oder nicht. Schließlich werden im vierten Teil die Toten der Diktatur thematisiert. Während Violetas Bericht die meiste Zeit von ihrem ganz persönliche Leben handelt, geht sie zum Ende hin näher auf den Enkel ein, auf seine Kindheit, die Jugendsünden und sein jetziges Leben als Jesuit.

Wieder einmal ist es Isabel Allende gelungen, mich mit ihren Worten tief ins Buch zu ziehen. Ich durfte nicht nur eine eigenwillige Frau kennenlernen, die es mehrmals schaffte, das Lebenschaos wieder zu ordnen. Gleichzeitig erfuhr ich etwas vom Lebensgefühl in Chile während der vergangenen hundert Jahre.

Dieser fünfte Roman, den ich von Isabel Allende nun gelesen habe, erinnerte mich abschnittsweise an andere Bücher dieser Autorin. In meinen Augen hat die inzwischen 80jährige engagierte Journalistin und Frauenrechtlerin mit diesem Roman ihr bewegtes Leben verarbeitet.

Gefallen hat mir daran, dass am Ende nicht mehr viel von der Aufsässigkeit der Jugend geblieben ist, sondern Altersmilde ohne Reue im Vordergrund steht.

Seite 391: „ Leben hat seine Zeit und Sterben hat seine Zeit. Dazwischen ist die Zeit, sich zu erinnern. Das habe ich in der Stille dieser Tage getan ...“

Bewertung vom 15.07.2022
Virginia und die neue Zeit / Die Liebenden von Bloomsbury Bd.1
Martin, Stefanie H.

Virginia und die neue Zeit / Die Liebenden von Bloomsbury Bd.1


gut

Es geht vor allem um die Liebe

Manchmal frage ich mich, warum Virginia Woolf so eine Anziehungskraft auf mich ausübt. „Mrs. Dalloway“, das erste Buch, das ich von ihr las, hat mir so gar nicht gefallen. Doch das Wissen, dass sie zu ihrer Zeit etwas besonderes war, eine neue Art zu schreiben einführte, schürte meine Neugierde. So las ich mit Begeisterung „Ach, Virginia“ von Michael Kumpfmüller, ein Buch über ihre letzten Lebenstage. Mit dem vorliegenden Buch bot sich mir nun die Gelegenheit, die junge Virginia kennenzulernen.

Ja, ihr Leben war für die damalige Zeit unkonventionell. Zusammen mit ihrer Schwester Vanessa und den Brüdern Thoby und Adrian zog Virginia Stephen nach dem Tod des Vaters nach Bloomsbury, dem Künstlerviertel Londons. Beide Frauen hatten keine Möglichkeit zum Studium, doch setzten sie sich für ihre Selbstverwirklichung als Malerin und Schriftstellerin ein, anstatt sich von ihrem ältesten Bruder George auf die verhassten Bälle der Upper Class schicken zu lassen. Lieber beteiligten sie sich an den in ihrem Haus stattfindenden Treffen der Brüder mit Studienkollegen. Vanessa malte und Virginia, der der Arzt aus gesundheitlichen Gründen die Zeit zum Lesen beschränkt hatte, schrieb Essays und Rezensionen, bevor sie mit der Arbeit an ihrem ersten Roman begann.

So weit, so gut. Doch abgesehen von den Tatsachen langweilte mich der Roman schrecklich. Zwar hat die Autorin versucht, durch viele wörtliche Reden das Lebensgefühl der damaligen Zeit nachvollziehbar zu machen, doch vielleicht hätte ich den Titel genauer lesen müssen? Da war mir vor allem „Virginia und die neue Zeit“ ins Auge gesprungen, „Die Liebenden von Bloomsbury“ hatte ich wohl geflissentlich übersehen. Denn die Liebe zwischen Frauen und Männern und die damals noch verbotenen homoerotischen Beziehungen spielen eine tragende Rolle in diesem Buch. Es gibt Liebeskummer und Eifersüchteleien. Wobei vor allem die Liebesgeschichte von Virginias Schwester Vanessa im Mittelpunkt steht. Leonhard Woolf ist in diesem Teil der Trilogie noch weit entfernt in Ceylon. Die Männer, die Virginia zur Verfügung stehen, sind allesamt ungeeignet.

So blieb ich nach Beendigung der Lektüre unbefriedigt zurück. Dass der Roman trotzdem drei Sterne bekommt, liegt an meiner Anerkennung für die Recherchearbeit der Autorin.

Bewertung vom 23.05.2022
Wütendes Feuer
Fang, Fang

Wütendes Feuer


ausgezeichnet

China zwischen Tradition und Zukunft

Yingzhi wartet im Gefängnis auf die Vollstreckung ihres Todesurteils. Wie es dazu kam, wird in diesem Roman geschildert, der mich tief eintauchen ließ in ihr erbärmliches Leben.


Früh geschwängert ist sie gezwungen, bei den sie ablehnenden Schwiegereltern zu leben. Während ihr Mann Guiqing sich beim Majong-Spiel vergnügt und das von ihr durch Singen in einer Band verdiente Geld versäuft, soll sie auf der Obstplantage helfen. Doch so ein Leben will sie sich nicht gefallen lassen, sie begehrt auf, was alles noch viel schlimmer macht. Brutal wird versucht, sie in die alten Sitten und Gebräuche zu zwängen.


Die chinesische Autorin Fang Fang (*1955) hat sich in unseren Breiten erst durch das Wuhan Diary, ein Tagebuch über die Ereignisse während der Quarantäne in der am härtesten von der Covid-19-Pandemie betroffenen Millionenmetropole Wuhan einen Namen gemacht. Doch zu schreiben begann sie schon früher. Bis 1982 studierte sie an der Wuhan-Universität chinesische Literatur, arbeitete dann als Redakteurin einer Fernsehstation, schrieb Drehbücher für TV-Serien und veröffentlichte ihren ersten Roman. Eine Erzählung, für die sie 1989 den "Nationalen Preis für herausragende Romane" erhielt, gilt als eines der ersten Werke der damals in China neu aufkommenden Gattung des Neorealismus. 2021 veröffentlichte der Hoffmann und Campe-Verlag den Roman Weiches Begräbnis, übersetzt von Michael Kahn-Ackermann.


Der hat sich nun ein Jahr später auch dem Roman „Wütendes Feuer“ angenommen und ihn mit einem sehr aufschlussreichen Nachwort ausgestattet. Hier erfährt man, dass der Roman 2002 zum ersten Mal veröffentlicht wurde und zeitlich in der ersten Hälfte der neunziger Jahre spielt. Das sind die Jahre eines gigantischen gesellschaftlichen Veränderungsprozesses, der bis in die Gegenwart andauert. Während wir im Westen nur die schnelle wirtschaftliche Entwicklung des Landes zur Kenntnis nehmen, entgeht uns die gesellschaftliche Revolution.


Die wird in diesem Roman thematisiert und hat mich völlig vor den Kopf gestoßen. Yingzhis Leben ist für mich unvorstellbar. Ihre Emanzipationsbestrebungen werden regelrecht niedergeknüppelt und die von ihr angestrengte Scheidung unmöglich gemacht – egal ob von ihrer eigenen Familie oder von der eingeheirateten. Das Buch ist in einer schnörkellosen Sprache geschrieben und teilweise so spannend, dass ich es kaum aus der Hand legen wollte. Auf der anderen Seite kam ich kaum mit dem Kopfschütteln ob der in meinen Augen unvorstellbaren Zustände hinterher.


Fazit: Ein gut lesbarer, erschütternder Roman, der einen guten Einblick in das chinesische Landleben Ende des vergangenen Jahrhunderts gibt. Leseempfehlung!

@gst

Bewertung vom 15.05.2022
Die Molche
Widmann, Volker

Die Molche


sehr gut

Dörfliche Kindheitserinnerungen in der Natur

Wer Naturbeschreibungen liebt, sollte sich dieses Buch unbedingt gönnen. Über weite Strecken war ich entzückt von der buntschillernden Welt, die hier beschrieben wird. Sie trägt die Geschichte von Max, dem elfjährigen Jungen, der in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ins Dorf kam und gleich schlechte Erfahrungen mit der Gruppe um den gewalttätigen Tschernik machen musste: Sein dreizehn Monate jüngerer Bruder bekam einen Stein an den Kopf und starb. Während die Erwachsenen es als Unglück sahen, das sie auf die schwächliche Gesundheit des zartbesaiteten Jungen zurückführten, wussten die Kinder, was wirklich geschehen war.

Max quält sich in diesem Buch durch die Erinnerungen: „Mein Bruder war ein zartes, ratloses, wie aus Gold gesponnenes Geschöpf. Er hatte die großen grünblauen Augen unserer Mutter. Auf seinem blonden Haar glänzte ein rötlicher Schimmer, und er trug es länger als wir übrigen Jungen mit unserem Kahlschnitt, den uns der Dorffriseur alle vier Wochen verpasste.“ Zum Glück findet Max Freunde, mit denen er der Bande um Tschernik das Handwerk zu legen versucht. Als LeserInnen begleiten wir ihn auch durch seine ersten erotischen Erfahrungen, aber vor allem lernen wir die Natur durch seine Augen zu sehen.

„Wir lauschten erschrocken auf ein Rascheln im Dickicht, auf ein Knacken von Ästen jenseits der Anhöhe – waren das Schritte? - und grinsten uns erleichtert an, wenn wir sahen, wie sich eine Blindschleiche, ein Wurm aus schillerndem Kupfer, zwischen Halmen von Schilfgras schlängelte und ein Rehbock in hohen Sprüngen durch den leuchtenden Farn setzte.“
„Zu Füßen des in sich verwundenen Stammes lag das Altwasser wie dunkles Glas, wie geölt, lichtgeädert, darauf schwammen lanzettförmige Weidenblätter, wie mit Bedacht ausgestreut.“
„Die Sträucher und Bäume zu beiden Seiten begleiteten in einem Farbenspiel, das mit olivvioletten Berberitzen und metallisch glänzenden schwarzroten Pflaumen begann, gefolgt von purpurbraunem und satt tiefrotem Ahorn über das kupfrige und bronzene Rot von Buchen und in das flammende, leuchtende Feuerrot von anderen Berberitzen am Ende des Bogens gipfelte und mir den Atem verschlug.“

Solch farbenprächtige Naturbeschreibungen tragen den Roman. Anfangs trafen mich die überbordend bildhaften Sätze mitten ins Herz, doch die Vielzahl erschlug mich im Laufe des Buches. Sie heben sich angenehm von der heute manchmal bis zur Unkenntlichkeit reduzierten Sprache ab; allerdings hätte ihnen ein wenig Reduzierung gut getan. Ausgesprochen misslungen fand ich, das in manchen Kapiteln plötzlich ein anderes Kind erzählt. Es irritiert und durchbricht den Lesefluss, wenn nirgends darauf hingewiesen wird.

Alles in allem ist es Volker Widmann in seinem Erstlingswerk gelungen, die Zeit kurz nach dem zweiten Weltkrieg wachzurufen. Er thematisiert die Strenge der Erwachsenen, die mit dem Erlebten durch Schweigen fertig zu werden versuchten, aber auch die Freiheit der Kinder, die oft tun und lassen konnten, was sie wollten.

Fazit: Wer sich in einem Buch viel Handlung und Fortgang wünscht, ist hier fehl am Platze. Wer jedoch das gemächliche Zuschauen genießen kann, wird hier fündig.