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Irisblatt

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Insgesamt 93 Bewertungen
Bewertung vom 11.07.2022
Dämmerstunde
Sok-Yong, Hwang

Dämmerstunde


sehr gut

Gesellschaftskritisches Verwirrspiel
„Dämmerstunde“ ist der zweite Roman, den ich von Hwang Sok-yong gelesen habe. Wie auch „Vertraute Welt“ führt er die Leser:innen in die Megacity Seoul.

Dabei stehen zwei Personen in unterschiedlichen Erzählsträngen im Fokus, eine weitere Figur erweist sich als verbindendes Element.

Bak Minu blickt auf eine außergewöhnliche Karriere zurück. Er wächst unter ärmlichen Verhältnissen in einem kleinen Dorf am Rande der Megacity auf und zieht mit seiner Familie schließlich nach Seoul in einen Slum. Der Umstände zum Trotz gelingt ihm ein exzellenter Schulabschluss, der ihm den Zugang zu den besten Universitäten ermöglicht. Bak Minu wird Architekt, lebt einige Jahre in den USA, kehrt schließlich nach Seoul zurück, gründet eine eigene Baufirma und ist an zahlreichen Großbauprojekten beteiligt. Wir lernen Bak Minu als älteren Mann kennen. Seine Frau und Tochter leben schon lange ein von ihm getrenntes Leben in den USA, zwei seiner alten Wegbegleiter sind todkrank und die Frau, in die er als Jugendlicher verliebt war, nimmt Kontakt zu ihm auf. Bak Minu lässt sein Leben Revue passieren, erinnert sich und nimmt zum ersten Mal wahr, dass er mit seinen Bauprojekten auch für Zwangsumsiedlungen, Leid und eine anonyme Architektur verantwortlich ist.

Während Bak Minus Geschichte mehrere Jahrzehnte umfasst, lernen wir Uhi in einem kürzeren Abschnitt ihres Lebens in der Gegenwart kennen. Sie ist Ende zwanzig, träumt von einer Karriere als Theaterregisseurin. Da sie mit ihrer Theaterarbeit kaum etwas verdient, versucht sie sich mit anderen schlecht bezahlten, kräftezehrenden Arbeitsverhältnissen über Wasser zu halten. Uhi steht dabei stellvertretend für eine Generation gut ausgebildeter junger Menschen, deren Lebens- und Wohnsituation äußerst prekär ist.

Im Gegensatz zu „Vertraute Welt“ habe ich zunächst schwer Zugang zu „Dämmerstunde“ bekommen. Lange Zeit wusste ich nicht, wohin uns der Autor mit dieser Geschichte führen will, konnte Verknüpfungen schwer herstellen. Ich habe das Buch bis zum letzten Drittel vor allem abwartend, distanziert und mit einem sehr neutralen Gefühl gelesen. Hwang Sok-yong berichtet gerafft und trotzdem dicht. Manchmal bin ich über sprachliche Ausdrücke gestolpert, die für mich im ersten Moment altbacken klangen wie z.B. „Strolch“ und viele weitere. Dass ich diese Wörter als ungewohnt empfinde, lässt sich eventuell mit der österreichischen Herkunft des Übersetzers erklären. Eine unvorhergesehene Wendung gegen Ende und der Schluss haben mich mit dem Roman versöhnt. Der Abschluss ist für mich rund und hat mir ausgesprochen gut gefallen. „Dämmerstunde“ wirkt vor allem im Nachhinein. Ich habe sehr viele Szenen aus dieser fremden Welt bildlich vor Augen und trotz der Kürze des Romans einen sehr guten Einblick in die Lebenssituation reicher und armer Menschen in Südkorea erhalten. Vieles steht zwischen den Zeilen, gesellschaftskritische Themen werden angesprochen, jedoch nicht in der Tiefe bearbeitet. „Dämmerstunde“ erfordert Konzentration beim Lesen - es handelt sich um ein vom Grundton distanziertes, von Wehmut geprägtes Werk, dessen Wirkung sich vor allem nach Beendigung der Lektüre entfaltet.

Bewertung vom 09.07.2022
Edition Piepmatz: Wenn ich groß bin, kann ich alles werden

Edition Piepmatz: Wenn ich groß bin, kann ich alles werden


ausgezeichnet

Vielfältige Berufswelt entdecken
Ravensburger hat ein neues, stabiles Pappbilderbuch aus der Edition Piepmatz zum Thema Berufe veröffentlicht. Über 70 Berufe werden mittels klarer, kindgerechter Illustrationen von Frau Annika vorgestellt.
Das Buch kommt ohne Text aus und eignet sich hervorragend, um mit Kindern über die unterschiedlichsten Tätigkeiten ins Gespräch zu kommen. Auf jeder Seite werden jeweils mit einem Bild fünf bis sechs verschiedene Berufe dargestellt. Die Bilder zeigen Menschen in typischen Arbeitssituationen und der entsprechenden Kleidung. Besonders gut gefallen mir die Auswahl der Berufstätigen, da auf eine diversitätssensible Darstellung geachtet wurde.
Mir ist kein Kinderbuch bekannt, in dem eine so große Palette an Beschäftigungsmöglichkeiten aufgezeigt wird. Ob Opernsängerin, Erzieher, die Bäuerin auf dem Traktor, Taucher, Clown, Dirigentin, Astronom, Eisverkäufer, Richterin, Töpfer, Arzt, Fischer, Tierpfleger, Astronaut, Bibliothekarin, Automechaniker, Forscherin oder Musiker - es ist spannend zu sehen wie vielfältig berufliche Möglichkeiten sind. Auch Superwoman und ein Ninja-Kämpfer sind mit an Bord und laden zum Schmunzeln, aber auch Überlegen ein, wo diese besonderen Fähigkeiten ihren Platz haben.
Ich bin rundum zufrieden mit diesem Buch, das für Kinder bestimmt über einen längeren Zeitraum hinweg interessant bleibt.

Bewertung vom 07.07.2022
Der Mann mit den Facettenaugen
Wu, Ming-Yi

Der Mann mit den Facettenaugen


ausgezeichnet

Bedrohung Wohlstandsmüll
Eine riesige Insel aus Müll treibt im Pazifik. Leider spielt diese nicht nur im Roman von Ming-Yi Wu eine Rolle - sie ist gefährlich real. Der große pazifische Müllstrudel (Great Pacific Garbage Patch) soll etwa zwanzigmal so groß wie Österreich sein und ist ein riesiges Problem für unser Ökosystem.

In „Der Mann mit den Facettenaugen“ treibt ein Teil dieses gigantischen Müllteppichs auf die Ostküste Taiwans zu mit weitreichenden Konsequenzen für Flora, Fauna und die dort lebenden Menschen.

Es ist schwer etwas über Ming-Yi Wus Roman zu schreiben, ohne zu viel vom Inhalt zu verraten. Der Autor, der einer der bekanntesten taiwanesischen Schriftsteller ist, verwebt auf eine sehr besondere Art knallharte reale Fakten mit der Mythologie taiwanesischer indigener Völker, aber auch dem normalen Alltagsleben der dort lebenden Menschen. Parallel dazu entwickelt er eine fiktive Kultur, deren Abschnitte sich wie Märchen aus längst vergangenen Zeiten lesen. Unabhängig davon tauchen im Verlauf der Geschichte mehrmals Elemente auf, die an magischen Realismus erinnern.

Zu Beginn lernen wir die kleine Insel Wayowayo mitten im Pazifischen Ozean kennen. Der Autor lässt dort eine fiktive Welt entstehen, die isoliert und von der restlichen Welt vergessen mit eigenen Vorstellungen, Bräuchen und Tabus existiert. Eine der wichtigsten Regeln dort sieht vor, dass zweitgeborene Jungen im Alter von 15 Jahren die Insel mit einem Boot verlassen müssen. In den Weiten des Ozeans kommt dies einem Todesurteil gleich. Atile’i ist ein Zweitgeborener, ein hervorragender Schwimmer, der sein kleines Boot beherrscht und im Rahmen einer Abschiedszeremonie fortgeschickt wird. Er strandet auf besagter Müllinsel und wird mit dieser nach Taiwan gespült.

Unmittelbar an der taiwanesischen Ostküste lebt in einem freistehenden Haus die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Alice. Sie ist Han-Chinesin und hat einen Lehrauftrag an der Universität in Taipeh. Auf einer Europareise lernte sie ihren Mann Thom kennen, der als passionierter Abenteurer und Bergsteiger gerne seine dänische Heimat verließ, um mit Alice in Taiwan zu leben. Die beiden bauten, inspiriert vom schwedischen Architekten Gunnar Asplund ein „sommarhus“ am Meer. Seit ihr Mann Thom und ihr Sohn Toto nicht mehr von einem Kletterausflug zurückkehrten, hat Alice jedoch ihren Lebensmut verloren und spielt immer häufiger mit Selbstmordgedanken. Das Meer kommt ihrem Haus bedrohlich näher - ungewöhnlicher Starkregen und der steigende Meeresspiegel sind dafür verantwortlich, dass ihr Haus dem Untergang geweiht ist. Ebenso unmittelbar betroffen von den klimatischen Veränderungen sind die Fischer der Ostküste, aber auch Hafays Kneipe, die direkt am Meer liegt. Hafay gehört zum Volk der Amís - auch ihre Geschichte erfahren wir im Laufe des Romans, ebenso wie die von Daho, der u.a. als Bergretter arbeitet und dem Volk der Bunun angehört. Wichtig für die Geschichte sind außerdem der Geologe Konrad, der maßgeblich an einem Tunnelprojekt in den Bergen Taiwans beteiligt ist und seine Partnerin Sarah, promovierte Meeresbiologin und Umweltaktivistin.

Ein zentrales Thema des Romans ist der maßlose Umgang mit natürlichen Ressourcen, eine zügellose nach immer mehr Wohlstand strebende Menschheit, die durch ihr Verhalten nicht nur ihre Umwelt, sondern auch sich selbst gefährdet. Während die indigenen Völker und auch die fiktive Kultur auf Wayowayo mythologisch begründete Regeln haben, die letztendlich die Natur vor übermäßigem Eingreifen der Menschen schützen, ist genau das der vom Kapitalismus geprägten Welt verloren gegangen.

„Der Mann mit den Facettenaugen“ ist ein Roman, der deutlich Konsumkritik betreibt und den Klimawandel, die Ausbeutung und die Vermüllung der Erde als existenzgefährdende Faktoren in den Mittelpunkt stellt. Es geht aber auch auf unterschiedlichen Ebenen um Verlust, Trauer, Verbundenheit, Menschlichkeit und Freundschaft. Der Roman bietet nicht nur einen Blickwinkel au

Bewertung vom 27.06.2022
Amelia
Burns, Anna

Amelia


sehr gut

Innerer und äußerer Krieg
„- dieser innerer Krieg muss nicht sein." "Natürlich muss der sein“, sagte Mr Hunch.“ (S. 165)

"Amelia" ist das bereits 2001 erschienene, erst jetzt übersetzte Debüt von Anna Burns, die vor einigen Jahren mit ihren Roman „Milchmann“ den Man Booker Prize gewann.
Der Roman setzt 1969 mit dem Beginn des Nordirlandkonflikts ein und spannt einen Bogen bis ins Jahr 1994. Die achtjährige Amelia lebt mit ihrer Familie in Belfast, im Arbeiter-Stadtteil Ardoyne, in dem während des Bürgerkriegs besonders viele Menschen starben. Relativ zu Beginn des Romans sehen wir Amelia wie sie unter dem Tisch kauert; die Familie hat alle Fenster mit Brettern vernagelt, während verfeindete Gruppen versuchen, gewaltsam ins Haus einzudringen.
Fortan bestimmen unberechenbare Gewalt und Angst das Leben der Menschen, von dem Anna Burns bruchstückhaft, sehr eindringlich und mit großen zeitlichen Sprüngen erzählt. Rohe Gewalt ist allgegenwärtig; auch innerhalb der Familie wird auf Konflikte mit brutaler Gewalt reagiert. Es gehört zum ganz normalen Alltag, dass Familienmitglieder, Nachbar:innen und Klassenkamerad:innen sterben, Kinder missbraucht werden. Jugendliche wissen sehr genau wie Bomben gebaut werden, spielen zum Zeitvertreib Russisch Roulette und zerschießen sich dabei die Kniescheiben. Einige Szenen sind so brutal, so verroht, dass sie fast grotesk wirken; dabei fühlte ich mich in einem Abschnitt von der Atmosphäre an das Finale des „Seidenraupenzimmers“ von Sayaka Murata erinnert.
Amelia überlebt wie viele andere auch. Sie verlässt Belfast als Erwachsene, zieht nach London, erleidet einen Zusammenbruch und landet in der psychiatrischen Klinik. Die Überlebenden der „Troubles“ zahlen auch nach Beendigung des gewaltsamen Konflikts einen hohen Preis; sie leiden unter Alkohol- bzw. anderen Drogenabhängigkeiten, Essstörungen und diversen psychischen Erkrankungen.
Anna Burns schreibt mit einem ganz eigenen Sound. Thematisch und stilistisch erinnert vieles an den "Milchmann", wobei ich "Amelia" sprachlich als zugänglicher empfunden habe. Inhaltlich ist "Milchmann" aber wesentlich stringenter erzählt. Ich finde es beeindruckend wie Anna Burns das Grauen noch steigert, indem sie manchmal Gräueltaten an die Peripherie ihrer Beobachtung verbannt und den Fokus auf scheinbar Nebensächliches legt. So erinnert sie sich z.B. beiläufig wer alles erschossen wurde während ihre wichtigste Erinnerung an diesen Tag die heiße Sonne und die süße Schokolade zu sein scheinen. Das ist schwer zu ertragen, von der Wirkung aber unglaublich stark.
Wer etwas über die Entstehungsgeschichte und die Abläufe des Nordirlandkonflikts erfahren möchte, wird bei „Amelia“ nicht fündig. Anna Burns zeigt die Auswirkungen des Kriegsirrsinns auf die psychische Gesundheit des Menschen. Krieg läutet immer auch einen inneren Verwesungsprozess ein. „Amelia“ ist harte Kost, schonungslos erzählt und ist eines der hoffnungslosesten Bücher, die ich je gelesen habe.

Bewertung vom 26.06.2022
Das Marterl
Laubmeier, Johannes

Das Marterl


ausgezeichnet

Verlust
Das Jahr 2009 markiert für Johannes den „Nullpunkt einer Zeitrechnung“ (S. 249). Der tödliche Motorradunfall seines Vaters treibt ihn weg vom Ort des Unglücks, seiner Heimatregion, den dort lebenden Menschen und allem, was ihn an seinen Verlust erinnern könnte. Zehn Jahre später kehrt er zurück in seine niederbayrische Heimatstadt, um zu verstehen, was damals geschah, was mit ihm seither geschehen ist. Zaghaft begibt er sich auf die Suche nach Verlorenem, knüpft Kontakte zu Menschen, die ihm weiterhelfen könnten.
In der Gegenwart begleiten wir Johannes durch die Stadt, das Haus und den Garten seiner Kindheit. Er lässt sich treiben, beobachtet, registriert Veränderungen, erzählt Historisches aus der Umgebung. Die atmosphärischen Beschreibungen lassen die Landschaft und die Bauwerke vor dem inneren Auge entstehen. Besonders gut gelingt es dem Autor, die Empfindungen einzufangen, die mit einer solchen Rückkehr ins Vertraute und doch teilweise fremd Gewordenem verbunden sind.
Die Episoden aus der Vergangenheit lassen sich deutlich an der Veränderung der Erzählperspektive erkennen. Es wird in der dritten Person Singular von dem Jungen erzählt, der er einmal war. Erlebnisse mit dem Vater beim Wandern, gemeinsame Spaziergänge mit dem Hund tauchen ebenso auf wie Erinnerungen an die Großeltern, Schulstreiche, die Auftritte mit der Ska-Punk-Band und vieles mehr. Wir erfahren auch die Geschichte rund um den als Tiefseetaucher verkleideten Jungen auf dem Titelbild.
Die sich abwechselnden Kindheits- und auch Erwachsenenperspektiven sind auf ihre jeweilige Art sehr authentisch. Die kindliche Perspektive hat mich oft schmunzeln, manchmal auch mitleiden lassen, immer mein Herz erwärmt. Auch den philosophischen Gedankengängen, dem Schmerz und der Verlorenheit des erwachsenen Ich-Erzählers konnte ich gut folgen.
In den Text verwoben sind englische Verse des us-amerikanischen Dichters Charles Olson, die Johannes seelischen und emotionalen Zustand gut widerspiegeln. Filmreif sind auch die Szenen diverser Bierfeste, die im niederbayrischen A. als Volksfest gefeiert werden und die der bereits nicht mehr ganz so kindliche Junge in der Vergangenheit und natürlich auch der erwachsene Johannes in der Gegenwart miterleben. Diese Abschnitte brechen für einen kurzen Moment den schwermütigen Grundton des Romans auf und liefern erstaunliche Erkenntnisse bezüglich „bayrischer Kultur“.
„Das Marterl“ ist ein gelungenes autofiktionales Debüt, das mich in seiner melancholischen, leisen, poetischen und authentischen Art sehr berührt hat.

Bewertung vom 16.06.2022
Bekenntnisse eines Betrügers
Raina, Rahul

Bekenntnisse eines Betrügers


sehr gut

Letzter Ausweg Kidnapping
„Das erste Kidnapping war nicht meine Schuld. Alle weiteren - das war definitiv ich.“ So beginnt der rasant erzählte, gesellschaftskritische, satirische Debütroman von Rahul Raina.
Ich-Erzähler Ramesh wächst als Sohn eines einfachen, zu Gewaltausbrüchen neigenden Teeverkäufers, eines Chai-Wallahs, in Delhi auf. Glückliche Umstände ermöglichen dem Jungen trotz widriger Voraussetzungen eine gute Schulbildung und letztendlich eine Karriere als sogenannter „Bildungsberater“. Ramesh absolviert stellvertretend für die verhätschelten, ungebildeten Kinder der Reichen die alles entscheidenden mehrtägigen Abschlussprüfungen. Denn nur ein sehr gutes Prüfungsergebnis sichert den Zugang zu den Elite-Universitäten der Welt und stellt damit die Weichen für ein erfolgreiches Leben. Rameshs Professionalität spricht sich schnell herum, er verdient ausgezeichnet bis ihm seine Berufserfahrung unvorhergesehen zum Verhängnis wird und der langjährige Betrug aufzufliegen droht.
„Bekenntnisse eines Betrügers“ wirft einen bitterbösen Blick auf das heutige Indien, in dem das längst abgeschaffte Kastensystem immer noch in den Köpfen präsent, die Schere zwischen Arm und Reich gigantisch ist. Alles und jede:r ist käuflich in diesem System, ein Deal immer möglich. Raina entlarvt die Oberflächlichkeit der indischen Upper Class bzw. der zu Geld gekommenen oberen Mittelschicht. Alles ist Show, mehr Schein als Sein, dabei sind alle doch irgendwie auf der Suche nach dem Echten, nach aufrichtigen zwischenmenschlichen Begegnungen.
Der Ich-Erzähler berichtet temporeich in einer lockeren, manchmal derben und flapsigen Sprache, aber immer auf den Punkt und mit einer guten Prise schwarzem Humor gewürzt. Der Text ist mit zahlreichen Hindi-Wörtern gespickt, deren Bedeutungen in einem Glossar am Ende des Buches nachgeschlagen werden können. Immer wieder gibt es Referenzen zu Kinofilmen, aber Rameshs Geschichte ist alles andere als typisch für einen Bollywood Blockbuster, obwohl durchaus vereinzelt Elemente auftauchen wie z.B. eine gesellschaftlich nicht anerkannte Liebe, Heldentum sowie eine Achterbahnfahrt der Gefühle, der man beim Lesen unmittelbar ausgesetzt ist. Neben der sehr treffenden Gesellschaftskritik, die vor allem den Fokus auf Korruption in allen Bereichen, Vetternwirtschaft, Sexismus sowie auf die Oberflächlichkeit und Macht der Medien legt, kritisiert der Autor die rechtsnationalistische Hindu-Partei BJP, die im Buch allerdings kein einziges Mal namentlich genannt, dafür aber umso deutlicher beschrieben wird.
Obwohl vieles überspitzt dargestellt scheint, zeichnet Rahul Raina ein sehr authentisches, lebendiges Bild vom heutigen Indien mit all seinen Problemen. Die Inhalte sind eingebettet in eine Art Gaunerkommödie, einer irrwitzigen, turbulenten Geschichte, die lediglich zu Beginn des letzten Drittels etwas zäh zu lesen ist. Am Ende nimmt der Roman auch noch das spirituelle Bild aufs Korn, das viele Menschen in Europa und Nordamerika von Indien haben. Es ist nur konsequent, dass sich auch damit Geld verdienen lässt. Rahul Raina schafft mit seinem Roman etwas ganz Eigenes und findet dabei meist die Balance zwischen scharfsinniger Sozialkritik, Action und Comedy. Mir wird dieses rasante Indien-Abenteuer auf jeden Fall im Gedächtnis bleiben.

Bewertung vom 11.06.2022
Fischers Frau
Kalisa, Karin

Fischers Frau


sehr gut

Spurensuche
Auf Mia Sunds Schreibtisch landet eines Tages ein in auffälligen Grüntönen geknüpfter Teppich, der Ähnlichkeit mit Fischerteppichen von der Ostsee aufweist, sich bei genauere Betrachtung aber durch viele besondere Details von anderen bekannten Exemplaren abhebt. Als Kuratorin und Faserarchäologin soll Mia die Echtheit des Teppichs prüfen. „Nicht, dass es eine Fälschung ist“ (S. 9) - mit diesem Satz aus dem Mund ihres Vorgesetzten wird Mia schlagartig von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt. Verunsichert, aber auch mit großer Faszination und Hartnäckigkeit beginnt die zurückgezogen lebende Kuratorin mit Nachforschungen. 1928 wurde den Fischern in der südlichen Ostsee ein dreijähriges Fangverbot auferlegt. Ein Österreicher unterwies die arbeitslosen Fischer und ihre Frauen in die Kunst der Teppichherstellung. Bereits nach kurzer Zeit avancierten diese Fischerteppiche, die heute auch als „Perser der Ostsee“ bezeichnet werden, zu begehrten Kulturgütern und sicherten den Lebensunterhalt der Familien. Dies, die Motivik, die Färbe- und Knüpftechniken sind historisch belegt, alles weitere webt die Autorin auf unterschiedlichen Ebenen um diese Fakten herum. Wir begleiten Mia auf ihrer mühsamen Spurensuche bis nach Zagreb in eine alte Werkstatt für Teppichknüpferei und -reparatur. Ausgehend von neuen Fundstücken und Hinweisen rekonstruiert sie die Geschichte der „Kleinen Fischerin“, die eine Meisterin im Erzählen war und die Entstehungsgeschichte des Teppichs. Als Mia versucht, die Spuren zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, drängt sich ihr eine mögliche Geschichte auf. Dabei treten durchaus auch Parallelen im Leben von Mia und der „Kleinen Fischerin“ zutage.

Karin Kalisas Roman ist zugleich Märchen und Sachbuch, eine Reise in die europäische Vergangenheit und Gegenwart, eine leise Liebesgeschichte, der Versuch einer Vergangenheitsbewältigung und eine Suche nach dem Glück. Jenseits von Labeln und Echtheitszertifikaten geht es immer wieder auch um die Frage, was ein Original, was eine Fälschung ausmacht. Manchmal findet sich das Wahre im Falschen und umgekehrt - das gilt nicht nur für Gegenstände, sondern auch für das Leben.
Fischers Frau liest sich zuweilen sperrig; der Erzählstil ist nüchtern und distanziert. Es ist ein leiser Roman, der vor allem durch die gut recherchierten Fakten zur Materialkunde, der Motivik und den gesamten historischen Hintergrund punktet. Mir hat auch die Rolle gefallen, die das Erzählen von Geschichten, in diesem Roman einnimmt. „Es war und es war nicht“ (S. 250).
Diese Formel, mit der spanische Märchenerzähler ihre Geschichten eröffnen, ist auch für Karin Kalisa in ihrem Roman „Fischers Frau“ essentiell, wenn sie historisch Belegtes mit Fiktivem vermischt. Als Leserin hatte ich ein distanziertes Verhältnis zur Handlung und den Protagonist:innen. Im Gegensatz dazu sehe ich den besonderen Fischerteppich aufgrund der sehr detaillierten Beschreibung vor meinem inneren Auge in leuchtenden Farben. Zu gerne würde ich ihn wie Mia aus den unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten, mich in die Nuancen vertiefen und über die Wolle streichen.
Insgesamt hat mir der Roman gut gefallen - auch, weil ich selbst einige Jahre in einem Museum gearbeitet habe und weiß, wie schwierig, aber auch faszinierend es sein kann, die Geschichten hinter den Objekten herauszufinden.

Bewertung vom 03.06.2022
Die neue Wildnis
Cook, Diane

Die neue Wildnis


ausgezeichnet

Überleben
In „Die neue Wildnis“ versetzt uns Diane Cook in eine nicht allzu weit entfernte Zukunft nach Amerika.

Klimawandel, Überbevölkerung und Smog erschweren das Leben in den Megacities. Die Gesundheitsversorgung ist längst zusammengebrochen, die Luft so giftig, dass vor allem Kinder zunehmend unter lebensbedrohlichen Atemwegserkrankungen leiden. Als die Regierung eine Studie plant, die das Leben von Menschen in der noch unberührten Wildnis vor den Toren der Stadt untersuchen möchte, sehen Bea und Glen eine Chance, ihre todkranke kleine Tochter zu retten und melden sich für das Experiment an. Gemeinsam mit 17 weiteren Personen dürfen sie die „Zivilisation“ verlassen, um autark in der Wildnis ein nomadisches Leben zu führen. Die "Gemeinschaft" erhält ein Handbuch mit strengen Verhaltensregeln, muss sich regelmäßig an bestimmten Posten einfinden, ist aber im Übrigen auf sich alleine gestellt.

Im Roman begleiten wir die "Gemeinschaft" durch ihren Alltag. Die Autorin erschafft eine latent bedrohliche Atmosphäre, die nur teilweise durch die Gefahr, die ein Leben in der wilden Natur mit sich bringt, erklärbar ist. Ranger, die die Einhaltung der Regeln kontrollieren und der Gruppe neue Anweisungen geben, verhalten sich genauso merkwürdig wie einzelne Gruppenmitglieder. Es stellen sich von Anfang an viele Fragen und die Vermutung, dass nicht mit offenen Karten gespielt wird, drängt sich auf.

Obwohl die Autorin aus einer gewissen Distanz auf ihre Protagonist:innen blickt, war es für mich interessant, manchmal auch irritierend oder schmerzhaft den Geschehnissen zu folgen sowie die Dynamik zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern zu erleben. Ich konnte das Buch nur schwer zur Seite legen. Teilweise scheinen die Grenzen zwischen Tier und Mensch zu verschwimmen, wenn es ums Überleben geht.

Auch ein Gespür für Zeit - wie wir es gewohnt sind - geht beim Lesen verloren. Zum Überleben sind lediglich der Tag-Nacht-Zyklus und die Jahreszeiten relevant.

Mit dem Ende, das für meinen Geschmack etwas zu schnell und wenig detailliert erzählt ist, habe ich zunächst gehadert. Ich hätte mir ausführlichere Beschreibungen über die Situation in den Städten und weitere Informationen zu einzelnen Protagonist:innen gewünscht. Da der Fokus aber auf dem Leben in der Wildnis liegt, bleibt die Welt außerhalb nur vage fassbar. Zahlreiche Fragen, die mich während des Lesens beschäftigten, wurden nicht oder nur andeutungsweise beantwortet. Mit einigem Abstand empfinde ich das Ende jedoch als durchaus gelungen. In diesem Roman sind wir keine allwissenden Leser:innen, die den Überblick über die Gesamtsituation haben. Wir wissen nur so viel wie die Protagonistin und sind mit den selben Unsicherheiten konfrontiert. Im Nachhinein gefällt mir das.

Insgesamt hat mir dieses düstere, spannend zu lesende Debüt, das das menschliche Zusammenleben unter Extrembedingungen beleuchtet, sehr gut gefallen.

Bewertung vom 22.05.2022
Sei wie ein Baum!
Gianferrari, Maria

Sei wie ein Baum!


ausgezeichnet

Von Bäumen und Menschen
„Sei wie ein Baum“ von Maria Gianferrari und Felicita Sala ist ein auf hochwertigem Papier gedrucktes, wunderbar illustriertes Bilderbuch über Bäume, das neben Sachwissen auch die Frage stellt, was Menschen von Bäumen lernen können.
Bereits das Vorsatzblatt ist wunderschön mit Blättern und Früchten unterschiedlicher Baumarten gestaltet und zeigt auf einen Blick die Vielfalt von Blattformen. Die Blätter von Walnuss-, Gingko-, Eichen-, Baobab-, Pappel- und anderen Bäumen lassen sich durch die Beschriftung genau zuordnen.
Es folgen großformatige, warmtonige Illustrationen von Bäumen aus aller Welt, die die Beschaffenheit von Bäumen abbilden, ihre Funktionsweise zeigen und die Bedeutung von Bäumen für das Ökosystem, andere Lebewesen und auch den Menschen herausstellen. Die Texte sind kurz und einfach gehalten, bieten knappe Erklärungen und Denkanstöße, um mit Kindern ins Gespräch zu kommen. Oftmals haben die Sätze einen Aufforderungscharakter, es den Bäumen gleich zu tun: z.B. sich der Sonne entgegenzustrecken, um zu wachsen, feste Wurzeln zu bilden und sich in guter Kommunikation mit anderen zu üben: Denn auch Bäume tauschen sich mithilfe von Pilzen über ihre Wurzeln miteinander aus und warnen sich so z.B. vor Gefahren.
Auf den Bildern gibt es viele Kleinigkeiten und Geschichten unabhängig vom Text zu entdecken. Seit ich verstärkt mit Kindern arbeite, die noch nicht gut Deutsch sprechen, freue ich mich über Bücher mit ansprechenden Illustrationen, auf denen es viel zu entdecken gibt. Einfache, kurze Texte, die ein Gespräch in Gang bringen können, ermöglichen es mir besser individuell auf die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder einzugehen als zu textlastige Bilderbücher.
Besonders gut gefällt mir, dass es einen ausführlichen Informationsteil am Ende unabhängig von der Bilderbuchgeschichte gibt. Dort wird die Anatomie eines Baumes anhand eines Querschnitts detailliert beschrieben, es gibt weiterführende Literaturtipps und Hinweise auf unterschiedliche Kinderseiten zum Thema Wald- und Naturschutz im Internet. Einige Alltagsideen zum Schutz von Bäumen sowie Impulse, was jede:r für die Gesellschaft tun kann, wenn wir uns das Motto „Sei wie ein Baum“ auf die Fahnen schreiben, runden diesen letzten Teil ab. Dieses Bilderbuch zeigt wie sehr wir auf Bäume angewiesen sind, fordert zu deren Schutz auf und wirbt für ein friedliches Miteinander aller Menschen auf unserem Planeten.