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anushka

Bewertungen

Insgesamt 140 Bewertungen
Bewertung vom 23.03.2020
Das Haus der Frauen
Colombani, Laëtitia

Das Haus der Frauen


sehr gut

Aufrüttelnd, aber nicht so anspruchsvoll wie gedacht

Paris heute: Durch ein tragisches Ereignis wird die Anwältin Soléne aus der Bahn geworfen. Um wieder einen Sinn im Leben zu finden, erklärt sie sich widerwillig bereit, Schreiberin in einem Frauenhaus zu werden. Zwischen zahlreichen Selbstzweifeln lernt Soléne die dort lebenden Frauen und ihre teilweise schrecklichen Geschichten immer besser kennen und merkt, dass ihre Tätigkeit viel mehr ist, als Briefe schreiben für Frauen, die das selbst nicht können.

Paris, 1925: Ebenfalls nach einem Sinn für ihr Leben sucht die junge Blanche Peyron. Sie schließt sich der Heilsarmee an und setzt sich für die Obdachlosen und Armen ein, die gerade durch den ersten Weltkrieg und Wirtschaftsprobleme entstanden sind. Nicht wenige davon sind Frauen. Nach vielen und kraftraubenden Anstrengungen gelingt es ihr, einen Zufluchtsort für Frauen zu gründen,der auch fast 100 Jahre später noch bestehen soll.

"Das Haus der Frauen" ist nach "Der Zopf" das zweite Buch der Französin Laetitia Colombani und wurde in Frankreich groß gefeiert. Auch in Deutschland kletterte es schnell die Bestsellerliste hoch. Ich habe das erste Buch noch nicht gelesen, aber sehr viele positive Stimmen dazu wahrgenommen. Mit diesen Vorschusslorbeeren bin ich mit großen Erwartungen an das Buch herangegangen. Auch, weil mir die optische Gestaltung außerordentlich gut gefällt und das Thema so ein relevantes ist. Ich war dann doch ein wenig enttäuscht, weil ich ein tiefgründigeres, und vielleicht auch anspruchsvolleres, Buch erwartet hatte. Andererseits kann ich mir auch vorstellen, dass das Buch auf diese Art mehr Leute erreicht. Gerade die verschiedenen Geschichten der Frauen sind berührend und aufrüttelnd. Sie machen deutlich, aus was für verschiedenen Gründen Frauen letztlich so einen Zufluchtsort aufsuchen, was sie hinter sich gelassen haben und wie weit außen am Rand der Gesellschaft die Frauen stehen, die es besonders schlimm erwischt hat. Tatsächlich habe ich mich nach dem Lesen dabei ertappt, mich zu fragen, was die eine oder andere Bettlerin in der U-Bahn oder vor dem Kaufhaus schon erlebt und durchgemacht hat. Dennoch habe ich auch hieran Kritik, denn viele der Schicksale stehen beispielhaft und dadurch mitunter etwas schablonen- und klischeehaft für verschiedene Arten von Schicksalen. Hier wurde meiner Meinung nach Potential verschenkt. Soléne wirkte hier eher wie das verbindende Element, konnte mich aber nicht für sich gewinnen. Auch die eigentliche Geschichte des Frauenhauses stand eher im Hintergrund und Blanche wirkte in diesem Buch eher wie schmückendes Beiwerk. Auch über sie hätte ich gern noch mehr erfahren.
Insgesamt hätte man aus dem Stoff mehr herausholen können. Der Stil war für mich nicht so poetisch, wie ich es gern gehabt hätte, las sich aber flüssig und die Handlung konnte mich für viele Figuren und vor allem ihre Schicksale einnehmen. Es ist also durchaus eine lohnende Lektüre, wenn auch mit Abstrichen.

5 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.10.2019
Drei
Mishani, Dror

Drei


ausgezeichnet

Ein wirklich besonderes Buch

Orna verkraftet die Trennung von ihrem Mann nur schlecht. Nun ist sie mit ihrem Sohn allein. Doch dann lernt sie Gil kennen ...
Emilia ist in einem fremden Land und pflegt alte Menschen. Doch ihre aktuelle Stelle macht sie unglücklich. Dann begegnet sie Gil ...
Ella ist desillusioniert von ihrer Aufgabe als dreifache Mutter. Auf ihrer kleinen täglichen Flucht in einem Café wird sie von Gil angesprochen ...

Der Verlag hat um dieses Buch schon vorab einen ziemlichen Wind gemacht. Vor allem darum, dass das Buch nicht wirklich beschreibbar sei ohne dabei zu spoilern. In der Tat sollte man nicht zu viel von der Handlung verraten, denn das Buch lebt von den Überraschungen. Was man jedoch sagen kann ist, dass es dem Autor unglaublich gut gelungen ist, seine Figuren zu entwickeln und Emotionen zu vermitteln. Alle Figuren sind sehr lebensnah und man entwickelt eine emotionale Bindung zu ihnen. Auch wenn die ersten rund 80 Seiten sich zunächst langsam angehen und man vielleicht ein wenig ermüdet von Ornas Innenschau, kann der Autor jedoch zunächst eine subtile und später immer deutlichere Spannung aufbauen, die die anfängliche Irritation, ob man nun wirklich ein solch besonderes Buch lese wie angekündigt, verfliegen lässt. Ich konnte das Buch irgendwann kaum noch aus der Hand legen und war schließlich bis zur letzten Seite gefesselt. Mich hat dabei überrascht, wie sprachlich elegant und ruhig der Autor seine Figuren zum Leben erweckt und sich die Zeit nimmt, ihre Lebenssituationen vor dem Leser auszubreiten und dabei nach einem sehr ruhigen Einstieg dann durchweg die Spannung hält. Es geht hier nicht um plumpe Action oder pure Spannung, bei der die Logik auf der Strecke bleibt. Stattdessen findet man verständnisvolle psychologische Porträts dreier Frauen in Tel Aviv, die so unterschiedlich voneinander sind und dennoch alle von einem zentralen Motiv, nämlich der Sehnsucht, getrieben werden. Hin zu einem Punkt, an dem die Schicksale zusammenlaufen.

Meine anfängliche Skepsis, ob das Buch dem Hype (des Verlags) standhalten kann, verwandelte sich zunehmend in Begeisterung. Und ich bin nach dem Lesen tatsächlich der Meinung, dass dieses Buch eine großartige Entdeckung ist, die mir so viel mehr als nur kurzweilige und spannende Lesestunden gegeben hat, denn sie lässt uns auch über Menschen und ihre Schicksale nachdenken. Für mich eines der Highlights des Jahres 2019.

Bewertung vom 09.09.2019
Wolgakinder
Jachina, Gusel

Wolgakinder


gut

Zu wenig vom eigentlichen Thema

Gnadental, 1916: Jakob Iwanowitsch Bach ist der einzige Lehrer an der Dorfschule eines deutschen Dorfes an der Wolga. Er ist ein Sonderling, aber die Dorfbewohner respektieren ihn. Als er Klara, die Tochter eines reichen Bauern auf der anderen Seite des Flusses, unterrichten soll, ändert sich für ihn alles. Er wird von den Dorfbewohnern verstoßen und lebt fortan mit Klara allein auf dem Gehöft. Als Klara bei der Geburt ihres Kindes, Ergebnis einer Vergewaltigung, stirbt, verstummt Bach und zieht Annchen, die Tochter, allein groß. Während die beiden ihr Leben als Einsiedler bestreiten und die Ereignisse in Gnadental nur aus der Ferne über den Fluss hinweg betrachten, finden große politische Umwälzungen statt, die auch vor Gnadental und vor allem den Russlanddeutschen nicht halt machen. Doch von der weiten Welt jenseits des Wolgaufers kann er sie nicht fernhalten, so sehr er sich auch bemüht.

Aufgrund der Meinungen zu ihrem ersten Buch und aufgrund des sehr interessanten und eher ungewöhnlichen Themas hatte ich hier große Erwartungen. Leider zog sich die Geschichte schon bald in die Länge. Bachs Besonderheiten wurden in epischer Länge ausgewalzt, wenn auch zugegebenermaßen in einer tollen Sprache und mit feiner Beobachtungsgabe. Dennoch wollte mir Bach nie so recht nahe kommen. Und schließlich zieht Bach ans andere Wolgaufer, sodass er von den politischen Umwälzungen eigentlich weit entfernt ist und oft nur ihre Auswirkungen beobachten kann: Revolution, Hungersnot, Enteignung, Kollektivierung, Verfolgung. Für mich waren das insgesamt einfach zu viele Themen, von denen viele nie so richtig ausgeführt wurden und von denen vor allem das eigentliche Thema, die Geschichte der Wolgadeutschen, viel zu kurz kam. Erst im Epilog konnte das Ausmaß der Vefolgung nachvollziehbar werden.
Mich irritierte zudem der zweite Handlungsstrang, in dem Stalin die zentrale Rolle spielt. So konnte man zwar einerseits seine Politik und seinen Blick auf die Wolgadeutsche Minderheit kennenlernen, andererseits gab es aber viele Szenen, die von der eigentlichen Handlung ablenkten.
Und schließlich gibt es hier und da noch wirklich surreale Szenen, in denen die Autorin zwar zeigt, dass Schreiben auch Kunst sein kann, aber die mich dann doch wiederholt vollends aus dem Konzept gebracht haben und die irgendwie unpassend wirkten.

Insgesamt machte dieses Buch auf mich einen unrunden Eindruck. Es war sehr ungewöhnlich, aber für meinen Geschmack zu "speziell". Inhaltlich erfüllte es meine Erwartungen leider ebenfalls nicht, da mir das eigentliche Thema zu kurz kam. Aber sprachlich war es ein Genuss.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.08.2019
Die Nickel Boys
Whitehead, Colson

Die Nickel Boys


sehr gut

Sozialkritik ohne wirklichen Biss

Florida, Anfang der 1960er: Der 16-jährige Elwood lebt bei seiner Großmutter. Die Eltern haben ihn Jahre zuvor zurückgelassen. Bislang ist es Elwood gut gelungen, sich im Farbigen-Ghetto von Tallahassee aus Ärger herauszuhalten. Aber auch er kennt bereits Demütigungen. Und als seine Großmutter ihm eine Platte einer Rede von Martin Luther King schenkt, wird sich Elwood der Ungerechtigkeiten immer bewusster. Die Zukunft sieht vielversprechend aus als Elwood einen Platz am College bekommt. Doch dann trampt er in einem gestohlenen Auto und wird als Autodieb ohne gerechtes Verfahren in die Besserungsanstalt Nickel Academy gesperrt. Dort muss er erleben, wie Wärter und Gesellschaft ihren Rassismus ungehemmt ausleben.

Colson Whitehead hat sich auch mit diesem Buch dem Thema des Rassismus gewidmet und reale Ereignisse zugrundegelegt. Zunächst steigt das Buch ein mit einem Team von Studenten, die auf dem Gelände der ehemaligen Anstalt Ausgrabungen vornehmen und abseits des offiziellen Friedhofs menschliche Überreste finden. Dann wechselt die Geschichte zu Elwood, dessen Aufwachsen und schließlich Jugendzeit der Leser ausschnittweise begleitet. Durchsetzt ist dieser Strang immer wieder mit Ausschnitten aus Elwoods Erwachsenenleben als Überlebender der Anstalt.

Der Schreibstil ist ansprechend und poetisch, fast zu "schön" für solch eine grausame Geschichte, die jedoch selten explizit grausam ist. Im Gegensatz zum vorherigen Buch "Underground Railroad" sind die Gewaltszenen dieses Mal wesentlich weniger explizit und oft sogar nur angedeutet. Dementsprechend ist es jedoch auch weniger erschütternd. Zumal alle Jungen zu leiden haben: die Weißen genauso wie die Latinos und die Farbigen, wobei letztere noch einmal schlechter behandelt werden. Ergreifend ist eher, wie Elwoods Träume platzen und er sich wie all die anderen (farbigen) Jungs in das seit Jahrhunderten gängige Schicksal fügen soll, was ihm jedoch zunehmend schwerfällt. So richtig Biss hat die Sozialkritik jedoch nicht und es gibt wenig deutliche Positionierung. Es wird nicht ganz deutlich, was nun zentraler ist: der generelle institutionelle Missbrauch von Kindern oder die Rassendiskriminierung.

Trotz der Kritikpunkte hat mir das Buch insgesamt gut gefallen und es hätte gern länger sein dürfen, ich hätte sicherlich weitergelesen. Vielleicht wäre man dann Elwood auch noch näher gekommen. Mir haben zudem die Kapitel des Erwachsenenalters gefallen. Und schließlich gab es noch einmal eine überraschende Auflösung, die der Geschichte noch eine neue Perspektive gegeben hat.

Bewertung vom 08.08.2019
Der Zopf meiner Großmutter
Bronsky, Alina

Der Zopf meiner Großmutter


sehr gut

Die Familientyrannin: Ernste Themen hinter humoristischer Fassade

Maxim ist mit seinen Großeltern aus der ehemaligen Sowjetunion geflüchtet. Seine Eltern kennt Maxim nicht. Die Mutter ist tot, den Vater braucht er nicht zu kennen. Hat die Großmutter beschlossen. Überhaupt braucht Maxim nicht alles zu wissen. Schließlich ist er ein Trottel, wie die Großmutter nicht müde wird zu betonen. Ihr Schicksal ist doppelt und dreifach schwer, erzählt sie jedem, der es nicht hören will, denn sie muss sich um diesen "Trottel" kümmern. Der noch dazu alle möglichen Krankheiten hat und der deswegen nur pürierte Schonkost essen darf. Die Großmutter führt in dieser kleinen Familie ein strenges Regiment, inmitten des Flüchtlingsheims und einem fremden Land, in dem die Ärzte völlig inkompetent sind (genauso übrigens wie die Lehrer), weil sie Maxim für gesund erklären. So merkt sie schließlich als letzte, dass der Großvater sich verliebt hat.

Der Humor in diesem kleinen Büchlein ist schon recht bissig und vordergründig vermittelt es den Eindruck, dass es darum geht, sich über eine "wunderliche Alte" lustig zu machen. Doch so oft man auch den Kopf über diese tyrannische Frau schütteln will, deren Markenzeichen der hennagefärbte lange Zopf ist, hat das Buch auch seine nachdenklichen Töne. Die Großmutter ist gefangen in ihrer Weltsicht, die nicht selten alle anderen, deren Religionen und Lebensweisen abwertet. Doch man merkt auch immer wieder, dass sie in diesem Land, dessen Sprache sie nicht versteht, die Maxim in Eltern-Lehrer-Gesprächen großzügig frei interpretiert übersetzt, ziemlich verloren ist. Damit diese Familie nicht auseinander bricht, geht sie schließlich eine ungewöhnliche Konstellation ein. Was die Großmutter allerdings nicht weniger herrisch macht. Letztlich zeigt sich aber, dass die Großmutter die Menschen in ihrem Umfeld liebt, dies aber oft auf ihre ziemlich eigene Art zeigt.
Die Autorin hat die Figuren interessant gezeichnet, wenn auch viele davon überspitzt dargestellt sind, vor allem die Großmutter, die mir zwischenzeitlich ordentlich auf die Nerven ging. Manchmal ging es meiner Meinung nach auch zu oft darum, die Großmutter unmöglich zu machen, während mitunter eigentlich ernstere Themen wie Verlustängste oder Angst vor dem Unbekannten dahinter standen.

Stilistisch hat mir das Buch sehr gut gefallen. Die Autorin hat einen tollen Stil und arbeitet die Figuren sehr ausführlich aus. Die Geschichte wird aus Maxims Sicht erzählt, sodass man auch immer eine Gegenperspektive zur Wahrnehmung der Großmutter bekommt und daher nicht selten den Kopf über ihre Ansichten schüttelt. Inhaltlich war mir die tiefere Bedeutung oft zu versteckt und der humoristische Anteil zu vordergründig, sodass die Geschichte manchmal trivial und wenig substanziell wirkte, obwohl sie es gar nicht war. Für meinen Geschmack ist es einfach ein Augenzwinkern zu viel, aber das ist reine Geschmackssache.

Bewertung vom 23.07.2019
All das zu verlieren
Slimani, Leïla

All das zu verlieren


gut

Teils sehr explizite, aber wenig substanzielle Betrachtung einer rastlosen Seele

Adéle ist verheiratet und hat einen kleinen Sohn. Sie als Journalistin und er als Chirurg können sich eine Wohnung in einem schicken Pariser Viertel leisten und noch so manch andere Annehmlichkeit. Aber Adéle ist nicht glücklich. Ihr Job ödet sie an, eigentlich wollte sie nie arbeiten müssen. Sie führt dieses Leben nur, weil es sich eben so gehört, man das in ihrem Alter und in ihrem Umfeld so macht. Ob sie ihren Mann liebt? Unklar. Dafür trifft sich Adéle mit anderen und oft fremden Männern um mitunter ziemlich harten Sex zu haben. Doch auch das kann die Leere im Inneren nicht fühlen und Adéle begibt sich in eine Spirale, die alles zu zerstören droht.

Den ersten Roman der Autorin habe ich sehr begeistert gelesen. In "Dann schlaf auch du" verarbeitete die Autorin einen realen Fall und öffnete die Augen für eine ganze Gruppe prekär Angestellter in der heutigen Zeit und im heutigen Umfeld aufstrebender Städter mit Oberschichten-Lebensstil. Bei "Alles zu verlieren" geht meiner Meinung nach dieser gesellschaftliche Blick ein wenig verloren. Wie sehr das Geschehen ganze Gruppen betrifft, bleibt schwer abschätzbar. Sicherlich fügen sich auch hier viele in einen Stereotyp eines Lebens, den sie eigentlich gar nicht mögen. Aber eigentlich geht es mehr um Adéles egoistische Triebe und ihre pathologische Langeweile. Mag sein, dass man sie auch als Suchtkranke betrachten kann, denn schließlich beobachtet der Leser ihre stetige Suche nach einem immer stärkeren Kick, für den sie zunehmend Risiken in Kauf nimmt und schließlich Gefahr läuft, alles zu verlieren. Doch es ist beim Lesen schon ziemlich hart, das Ganze mit "anzusehen". Diverse sexuelle Eskapaden werden doch recht detailliert beschrieben und Adéle kann ihrem Leben so wenig Positives abgewinnen, dass es schwer ist, Sympathie für sie zu entwickeln. Ihre Anbahnungen werden immer plumper und man hat beinahe schon Fremdschämmomente. Was mich am meisten irritert hat, ist Adéles plötzlicher Wandel. Lange Zeit wirkt sie sehr selbstermächtigt, selbstbewusst und zielstrebig, wenn auch nicht beruflich, so dennoch, was ihre eigenen Wünsche angeht. Doch plötzlich, obwohl für die Entwicklung dankbar, wirkt sie passiv, unterwürfig und versteht sich plötzlich selbst als Opfer; ein Opfer ihrer Sucht. Jegliche Selbstinitiative und Selbstermächtigung sind verschwunden.

Unbestritten finde ich, dass die Autorin einen ansprechenden und anspruchsvollen Schreibstil hat, der diese zumeist deprimierende Geschichte sehr literarisch transportiert. Doch die Geschichte selbst hat in meinen Augen eher weniger Substanz und weniger gesellschaftliche Relevanz, sodass sie letztlich bei mir nicht langfristig verfangen hat und ich den teils recht expliziten Beschreibungen und einer unsympathischen Protagonistin nur widerwillig gefolgt bin.

Bewertung vom 23.07.2019
Das Labyrinth des Fauns
Funke, Cornelia;Del Toro, Guillermo

Das Labyrinth des Fauns


sehr gut

Düsteres, pessimistisches Märchen für Erwachsene

Spanien, 1944: Als Ofelia die Mühle im Wald und den neuen Mann ihrer Mutter erreicht, ahnt sie schon Schreckliches. Ihre Mutter hätte diese Reise in ihrem Zustand nie antreten dürfen, doch Hauptmann Vidal aus Francos Armee bestand darauf, da Ofelias Mutter mit seinem Sohn schwanger ist. Nun sitzen sie also mit ihm und seinen Männern in einem Wald, in dem sich Widerstandskämpfer verstecken, die vom Hauptmann gnadenlos gejagt werden.
Doch das ist noch nicht alles. Ofelia steht plötzlich einem phantastischen Wesen gegenüber: einem Faun. Dieser behauptet, Ofelia sei die lang gesuchte Prinzessin des Königreichs unter der Erde und sie müsse 3 Prüfungen bestehen, um dorthin zurückkehren zu können. Doch würde Ofelia das überhaupt wollen, selbst wenn es wahr wäre? Immer tiefer gerät sie hinein in diese phantastische Welt, die fast schon eine Flucht wird vor der immer grausamer werdenden realen Welt ...

"Das Labyrinth des Faun" hat mich tief hineingezogen in die Phantasiewelt zweier Autoren, die sich hier über Kontinente hinweg zusammengetan haben. Es handelt sich wohl um das Buch zum Film "Pans Labyrinth". Wie gut es sich an den Film hält, kann ich nicht beurteilen, da ich ihn nicht gesehen habe. Für sich selbst macht das Buch auf jeden Fall einen sehr starken Eindruck. Die Bilder sind sehr szenisch und man hat tatsächlich einen Film vor dem inneren Auge. Nicht selten kann man magischen Traum und surrealen Albtraum kaum auseinander halten in diesem Werk des magischen Realismus und fühlt sich mittendrin, auch wenn das oft eher beängstigend als magisch ist. Denn gerade die Szenen in der "Realität" sind oft sehr brutal: da wird gefoltert, misshandelt und gemordet, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber auch die eingestreuten Märchen und Prüfungen sind nicht weniger blutrünstig und gruselig. So entsteht ein wirklich überzeugendes, sehr ungewöhnliches düsteres Märchen für Erwachsene, aber meiner Meinung nach keinesfalls für Jugendliche unter 16 Jahren. Die Grenzen verschwimmen und manches Mal scheint Vidal eher der Unterwelt und dem Reich des Faun entsprungen als ein Mensch zu sein.
Das Buch enthält eine klare Gesellschaftskritik der Franco-Ära, die gut mit der Grundstimmung des Buches verwoben wird, aber es geht eben dabei auch auf die unmenschliche Behandlung der Bevölkerung und der Widerstandskämpfer ein, in Form eines sadistischen Kommandanten. Um dieser Welt zu entfliehen hinterfragt Ofelia die Existenz eines Fauns erst gar nicht und flüchtet sich immer wieder in den Wald, in der Hoffnung, die Aufgaben erfüllen zu können und als Prinzessin in das Reich unter der Erde wiederkehren zu können. Dabei kam mir Ofelia jünger vor, als sie angeblich war. Von ihrem Wesen und Verhalten her hätte ich sie auf zehn geschätzt, nicht auf 13. Dieses eher kindliche Mädchen vor Augen zu haben hat den Lesefluss jedoch nicht gestört und es hat sich gut in das düstere Märchen eingepasst, sodass man immer wieder auch Angst um die traurige Ofelia spürt, die sich lieber einem Kinderfresser stellt als in der realen Welt dem Hauptmann begegnet.

Das Buch ist sehr aufwendig gestaltet und macht einen fantastischen Eindruck, der zusammen mit dem Leseerlebnis noch lange in Erinnerung bleiben wird. Nicht zuletzt natürlich auch die absolut düstere und hoffnungslose Grundstimmung, die sich auch bis zum Schluss durch das Buch zieht. Auch wenn ich durch das Buch förmlich hindurch geflogen bin und mich gut auf dieses Märchen einlassen konnte, die Sätze aufgesogen und mich immer wieder wohlig gegruselt habe ... ein Buch für Jugendliche unter 16 ist dies auf keinen Fall und da finde ich schade, dass es genau für diese Zielgruppe so angepriesen wird (so zumindest ist mein Eindruck und auch die Aufmachung legt dies nahe).

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.05.2019
Das Verschwinden der Stephanie Mailer
Dicker, Joël

Das Verschwinden der Stephanie Mailer


gut

Amerikanische Ostküste, 1994: Während eines Theaterfestivals werden der Bürgermeister und seine Familie sowie eine zufällig vorbeikommende Joggerin brutal ermordet.
Zwanzig Jahre später steht einer der Polizisten, die damals für den Fall zuständig waren, kurz vor seinem Abschied aus dem Polizeidienst. Jesse Rosenberg wird von allen "Der Hundertprozentige" genannt, weil er alle seine Fälle aufgeklärt hat. Doch dann steht plötzlich die junge Journalistin Stephanie Mailer vor ihm und weckt Zweifel an der Auflösung der Orphea-Morde. Und genau so plötzlich, wie sie aufgetaucht ist, ist sie plötzlich verschwunden ... Jesse beschließt, den Fall zusammen mit seinem damaligen Partner Derek und der Polizeichef-Anwärterin Anna wieder aufzurollen.

So weit, so vielversprechend. Die ersten ca. 150 Seiten des Buches vergingen wie im Flug. Mich hatte zunächst wirklich die Lesesucht gepackt. Das Buch schien ein gutes Tempo vorzulegen und allerlei Überraschungen bereit zu halten, sodass mir der recht einfache Schreibstil zunächst noch entgegenkam. Doch zunehmend wirkte das Buch irgendwie merkwürdig, unstimmig und gar nicht so anspruchsvoll wie ich es aufgrund der Vorschusslorbeeren erwartet hatte. Die ständigen Perspektivwechsel waren zunächst noch spannend, aber ständig kamen neue Personen hinzu mit ihren ganz eigenen Lebensdramen, sodass das Buch mehr von einer Seifenoper als von einem vielschichtigen Kriminalroman bekam. Die Polizisten stellten sich leider unerwartet ... sagen wir "ungeschickt" und "naiv" an, sodass ich mich bald fragte, wie sie überhaupt irgendwelche anderen Fälle, ganz davon abgesehen alle ihre Fälle, gelöst haben. Sie nehmen die Aussagen von Zeugen und Verdächtigen für bare Münze und streichen sie mir nichts, dir nichts von der Verdächtigenliste, denn nachdem, was sie ausgesagt haben, können sie es ja nicht gewesen sein. Viele Wendungen und "Überraschungen" in der Handlung werden erst dadurch möglich, dass eigentlich jeder einzelne Zeuge und jede einzelne Zeugin den Polizisten bereits vor zwanzig Jahren relevante Information vorenthalten hat. Die Polizisten wirken dabei selbst mehr als hilflos. So kann jemand, der behauptet, den Täter zu kennen, sie tagelang hinhalten, um den Fakt spektakulär in einem Theaterstück preiszugeben. Und dazu kommt noch ein Polizeichef (?), der wichtige Informationen nicht weitergibt, weil er den bearbeitenden Beamten telefonisch nicht erreicht ... Das kann nur eine Parodie sein, ansonsten bedient der Autor auch jedes noch so schlechte Klischee des amerikanischen Kleinstadt-Cops.
Und überhaupt. Nicht nur die Cops benehmen sich merkwürdig. Ganz Orphea scheint den Verstand zu verlieren, als der ehemalige Polizeichef - eben jener, der relevante Informationen nicht weitergab - ankündigt, beim 20-jährigen Jubiläum des Theaterfestivals ein Stück aufführen lassen zu wollen, das den wahren Täter enthüllt, das aber bislang über die ersten drei Zeilen nicht hinausgekommen ist. Da lässt sich doch glatt der aktuelle Polizeichef vorzeitig verrenten, um in diesem Stück in Unterhose über die Bühne rennen zu dürfen. In all ihren zwischenmenschlichen Dramen und in der Spleenigkeit einer ganzen Kleinstadtbevölkerung erinnerte mich dieses Buch an die "Gilmore Girls" oder jede andere Kleinstadtserie, die von mehr oder weniger exzentrischen Charakteren lebt. Und natürlich eskaliert die Geschichte schließlich und nimmt eine unglaubwürdige Entwicklung nach der anderen. Dass am Ende überhaupt noch jemand lebt um den Fall aufzuklären, oder sich für dessen Aufklräung zu interessieren, grenzt an ein Wunder.

Das Buch ist ganz anders, als ich zunächst erwartet hatte und kann diese Erwartungen nicht erfüllen. Der Schreibstil erlaubt ein zügiges Lesen und die Entwicklungen sind schon rasant und mitunter interessant, sodass ich zeitweise durch das Buch geflogen bin und nicht erwogen habe, es abzubrechen. Ich kam mir aber auch immer wieder ziemlich "verschaukelt" vor.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.04.2019
Die Spionin der Charité
Hardinghaus, Christian

Die Spionin der Charité


ausgezeichnet

Spannende Geschichte, die neues Wissen vermittelt

Berlin, 1940: Lily Hartmann hat sich als OP-Schwester beim berühmten Chirurgen Ferdinand Sauerbruch an der Charité beworben. Und sie wurde zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Die Enttäuschung währt nur kurz, als ihr gesagt wird, dass keine Schwesternstelle frei ist, denn sie wird zur persönlichen Sekretärin Sauerbruchs. Dass Sauerbruch an diesem Tag des Sieges über Frankreich nicht am Brandenburger Tor dem Führer huldigt, sondern wie gewohnt seiner Arbeit nachgeht ist ein erstes Indiz seiner Prioritäten und seines Engagements für seine Patienten und das Krankenhaus.
Mehr als 30 Jahre später ist eine deutlich ältere Lily frustriert darüber, dass in der Zeitung der 30. Jahrestag des Attentats auf Hitler und der sogenannte Donnerstagsclub gefeiert wird. Denn es gibt auch andere Widerstandsgruppen, die nirgends erwähnt werden. So wie der von Sauerbruch gegründete Mittwochsclub, dem Lily angehörte und über den Lily ihren späteren Mann und den CIA-Spion Fritz Kolbe kennenlernte. Nun will sie ihr Schweigen brechen und einem Journalisten von den gefährlichen Aktionen des Mittwochsclubs und lang gehüteten Geheimnissen berichten. Doch immer noch sind solche Informationen gefährlich ...

Die Geschichte um Lily Hartmann ist nur in Teilen fiktiv, denn sie beruht auf der realen Person Maria Fritsch, die mit dem CIA-Spion Fritz Kolbe verheiratet und auch wirklich Sauerbruchs persönliche Sekretärin war. Das Buch gewinnt auch dadurch, dass es neues Wissen vermittelt, denn der Autor hat nahezu zeitgleich eine Biographie über Ferdinand Sauerbruch geschrieben und dafür ganz neue Quellen ausgewertet, die den umstrittenen Sauerbruch in neuem Licht erscheinen lassen. Dennoch steht Lily im Zentrum der Erzählung und man lernt Sauerbruch durch ihre Augen kennen. Auch die ständige Gefahr wird durch ihre Augen sehr gut begreifbar, denn sie hat nicht unbedingt Sauerbruchs Vertrauen in seine Macht und Einflussnahme. Die ständige Bedrohungslage, auch durch interne Spitzel, wird atmosphärisch sehr gut vermittelt. Es gelingt dem Autor auch, eine eigene, fiktive Ebene jenseits der historischen Fakten hinzuzufügen, auch wenn ich es mir hier ein wenig subtiler und eleganter gewünscht hätte. Manche Entwicklungen sind doch etwas sehr plakativ und der Bösewicht lässt sich auch nicht lange bitten, seine Motive im Einzelnen sehr detailliert darzulegen. Und immer mal wieder scheint ein leicht erklärender, zu sachlicher Ton durch, der doch besser zu einer Biographie als zu einem Roman passt. Insgesamt jedoch handelt es sich bei "Die Spionin der Charité" meiner Meinung nach um eine gelungene belletristische Umsetzung sehr interessanten historischen Materials, die einen anderen Weg nutzt, Leser*innen neue historische Erkenntnisse nahe zu bringen und dies auch auf empathische und eingängige Weise tut. Auch an Spannung mangelt es nicht. Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung. (Und gemeinsam mit der 2. Staffel der Serie "Charité" kann man ganz tief in die dargestellte Zeit und die Figuren eintauchen.)