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MarieOn

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Insgesamt 45 Bewertungen
Bewertung vom 21.09.2023
Die Einladung
Cline, Emma

Die Einladung


ausgezeichnet

Alex ist, so sagt sie, 22 Jahre alt. Simon ist doppelt so alt, ihr Geliebter, Mentor und erfolgreicher Geschäftsmann. Es geht ihr bei ihm nicht schlecht. Besser als in der Stadt, in der sie in einer Wohngemeinschaft wohnte. Als sie abhaute, hinterließ sie ein paar Monate Mietschulden. Aber damit werden die schon klar kommen. Der Typ, den sie um einige Tausender und ein bisschen weißes Pulver geprellt hat, verblasst langsam in ihrer Erinnerung, dumm nur, dass er sie immer wieder anruft.

Wenn Simon von einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause kommt, nimmt Alex ihn kurz oral, um ihn bei Laune zu halten. Das Leben könnte perfekter nicht für sie laufen, sie trägt die schönsten Kleider, isst die erlesensten Speisen, trinkt die teuersten Weine, schwimmt den halben Tag im Meer. und erholt sich am Strand, von den öden Partys, mit den langweiligsten Gastgebern und den spießigsten faltigen Frauen.

Obwohl Alex erst 22 ist, hat sie ein gutes Gespür für die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen. Sie sieht es in den kleinsten Zuckungen um Mundwinkel oder Augen. Wenn sie etwas erreichen will, erfüllt sie dieses Wollen, das manchmal auch Gier ist, ganz easy. Sie konsumiert Schmerzmittel wie andere Gummibärchen, das mindert ihren Stress und ihre Rückenschmerzen, ja, sie neigt zu innerer Unruhe, das liegt aber auch daran, dass dieser Typ aus der Stadt mit dem Geld, ihr auf die Nerven geht.

Als sie dann ein kleines Schlückchen Wein zu viel hat, die Gastgeberin, die sie so herablassend behandelt, als sei sie nur Simons Anhängsel, entgleitet sie sich selbst, verlässt kurz den Pfad der Tugend und verliert die Kontrolle. Sie bringt Simon gegen sich auf, der unverständlich gereizt reagiert, sie vor die Tür setzt und damit vertröstet, dass er sich meldet.

Fazit: Was für eine abgefahrene Geschichte. Sie liest sich aufregend wie ein Thriller. Während ich las, kämpfte ich mit meinem Widerwillen gegen die Protagonistin, die es sich auf den ersten Blick so leicht macht. Im weiteren Verlauf findet sie mein Mitgefühl, weil sie nichts anderes versucht, als jedem gerecht zu werden und alle Erwartungen, die an sie gestellt werden zu erfüllen. Nicht ohne Eigennutz natürlich, das ist ihr Spiel. Sie gerät in widerwärtige Situationen, deren Erinnerung sie aus ihrem benebelten Hirn drängt, redet sich ein, dass sie erwünscht ist, obwohl sie offensichtlich keiner wirklich will, nicht um ihrer selbst Willen, wie auch, niemand, einschließlich ihr, weiß wer sie wirklich ist. Sie hat außer ihrer Jugend wenig substantielles zu bieten. Ein großer Roman, über eine zutiefst kranke junge Frau, den ich mit Spannung und Vergnügen gelesen habe.

Bewertung vom 20.09.2023
Macht
Furre, Heidi

Macht


ausgezeichnet

Liv, Mutter zweier Kinder ist fixiert auf ihr Äußeres, auch auf das anderer Frauen. Ihre Obsession begann mit Julia Roberts, in dem Film Pretty Woman. Liv verlässt das Haus nie ungeschminkt, lässt sich die Stirn regelmäßig glätten und besucht regelmäßig ihr Fitnessstudio.

Als das Eklige, das sie von sich fernzuhalten versucht, geschah, war sie Anfang zwanzig. Sie lernte ihn, der “Es” mit ihr gemacht hatte, in einer Bibliothek kennen. Sie tranken Wein, dann mehr Wein und zum Schluss ging sie mit ihm zu ihm, obwohl sie müde war. Hinter ihm ging sie die Stufen hoch, folgte ihm, spürte keinerlei Unsicherheit. In seinem Flur begegneten ihr viele Schuhe und Mäntel, das weckte ihr Vertrauen. “Es” passierte dann nach einer kleine Rangelei, da lag er auf ihr und sie schaute aus dem Fenster und sah den Tauben zu, die sich auf dem äußeren Fensterbrett sortierten. Sie hatte so ein Gefühl, jetzt besser nichts mehr zu tun. Dachte an ihre Kleidung, die zu dünne Strumpfhose, der kurze Rock, ihre Schuhe im Flur, die sich in die anderen eingereiht hatten. Wartete, dass er auf ihr einschlief, eine Ewigkeit.

Liv arbeitet als Pflegerin, sie bekommt eine neue Patientin. Der Besucher der Patientin ist Schauspieler. Liv erinnert sich an die Verhandlung, seine. Er war der Vergewaltigung bezichtigt worden. Sie erträgt seinen Anblick eine Weile, doch dann beschäftigt er sie zunehmend. Wenn er kommt verschwindet Liv im Keller und dreht am Rad. Da unten läuft sie auf und ab, lässt ihre Gedanken Kreise ziehen, bis sie sich mit Benzodiazepinen zudröhnt und die Räume in ihrem Kopf, die sie nie betreten wollte, sich wieder schließen.

Fazit: Ein großer Roman, mit feinem Ausdruck. Die emotionalen und mentalen Nuancen fließen ineinander. Die Protagonistin schwankt zwischen dem Wunsch nach Selbstbestimmung, nicht zu zerbrechen, kein Opfer zu sein, ihren Ängsten, die in der Dunkelheit größer werden und ihren Selbstzweifeln, ob sie sich mitschuldig gemacht hat, weil sie zu vertrauensvoll war. Jeder Tag ihres Lebens kreist um diesen Vorfall, der nie passiert wäre, wäre diese Welt ein besserer Ort. Tatsächlich stößt einer von zehn Frauen “Es” zu. Dieser gelungene Roman macht sehr deutlich, dass ein Trauma, das unbehandelt, unverarbeitet bleibt, weiterschwelt, irgendwann getriggert wird, in alle Richtungen wächst und das Leben in einem Maße erschwert, das kaum auszuhalten ist.

Bewertung vom 19.09.2023
Lügen über meine Mutter
Dröscher, Daniela

Lügen über meine Mutter


ausgezeichnet

Die Geschichte ist eine Ich-Erzählung. Daniela Dröscher erzählt sie aus Sicht der achtjährigen Ela.

Elas Mutter kommt ursprünglich aus Polen. Sie ist ein resoluter mütterlicher Typ mit Geheimnissen. Ihre Eltern, die 20 km weit wegwohnen unterstützen sie nicht und ihre Schwiegermutter, mit der sie im gleichen Haus im Saar-Hunsrück lebt, konkurriert mit ihr. Ihr Mann hat eine patente Stelle als Ingenieur und wartet vergeblich auf eine bessere Positionierung, die seinen grandiosen, wie verkannten Fähigkeiten besser gerecht würde. Elas Mutter arbeitet nebenbei in einer Lederfabrik und ihr Mann schämt sich dafür.

Solange Ela zurückdenken kann nörgelt ihr Vater an ihrer Mutter rum. Sie ist zu dick, kann nicht mit Geld umgehen, hat keine kreativen Fähigkeiten, um ihr Haus gemütlich herzurichten, die Wahl ihrer Kleider gestaltet sie nachlässig und vor ALLEM schämt er sich für ihr beginnendes Übergewicht. Die ganze Zahl ihrer Unzulänglichkeiten vermiest ihm das Leben, das ihm daher jedes Glück vorenthält

Ela beobachtet die Spiele ihrer Eltern, in denen der Vater versucht die Kontrolle an sich zu reißen und die Mutter, ihrem Bedürfnis es allen recht zu machen, nachkommt. Ela lebt in der Angst, dass ihre Eltern sich trennen könnten. Gleichzeitig schleicht sich etwas an, wie eine Krankheit. Der Blick auf ihre sonst so schöne Mutter verändert sich, sieht, wie sich ihr Bauch unter den Kleidern abzeichnet, spürt, wie ihre Mitmenschen ihre Mutter ansehen und wie unsicher diese selbst zu ihrem Körper steht.

Wohlgestalt bedeutet für ihn Harmonie, Harmonie wiederum Ordnung, Ordnung bedeutet Orientierung, und Orientierung bedeutet Sicherheit. S 66

Eine gute Analyse über die Bedürfnisse ihres Vaters.

In ihrer Fähigkeit zur Sorge bestand und besteht ihr größter gesellschaftlicher Nutzen. S. 286

Damit beschreibt sie ihre Mutter und die Erwartungen an sie vortrefflich.

Fazit: Die Autorin zeichnet ein klares Bild von Geschlechterrollen. Die weiche, empfangende, hingebungsvolle Frau, die jedem gerecht wird, das Haus hütet und jeden umsorgt. Der kampferprobte Mann, der den Säbelzahntiger erlegt, Verantwortung übernimmt und dafür geschätzt werden will. Der Patriarch stellt alles in Frage und verteilt die Aufgaben, die seiner Bedürfnisbefriedigung dienen, streng. Es ist der Autorin großartig gelungen die Schwächen beider Eltern zu zeigen. Die Unsicherheiten ihres Vaters, sein Drang allen gefallen zu wollen. Die Lügen ihrer Mutter, weil sie heimlich Süßigkeiten ist, um ihr Unglücklichsein zu kompensieren. Und mittendrin die kleine Ela, die nicht weiß, wie sie ihre Liebe gerecht verteilen kann. Am Ende eines Kapitels reflektiert die Autorin, versucht zu rekonstruieren und zu verstehen, was hilft die Defizite beider Eltern zu erkennen. Ein absolut lesenswertes Buch, das zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022 stand.

Bewertung vom 14.09.2023
Liebewesen
Schmitt, Caroline

Liebewesen


ausgezeichnet

Lios beste Freundin Mariam will Lio verkuppeln. Wie immer in ihrem Leben lässt Lio sich auf ein arrangiertes Treffen ein, weil sie vergessen hat Nein zu sagen. Also lernt Lio, Max während einer Kunstausstellung kennen und die Stimmung zwischen den beiden ist so abgefahren, dass ich gleich denke, die sind wie füreinander gemacht. Ihr zweites Treffen endet in Max Badewanne. Alles zwischen den beiden ist unschuldig, verspielt aber dennoch kompliziert. Lio hat ein seltsames Verhältnis zu ihrem Körper, ne eigentlich gar keins.

Ich tat, was ich immer getan hatte wenn mein Körper wie ein All-you-can-eat-Buffet geplündert wurde. Ich wartete , bis der Kunde satt war und sich verpisste.

Max ist nähesuchend, kann gar nicht genug von Lio kriegen, Lio geht auf Distanz und versucht alles zu kontrollieren, was ihr nicht gelingt. Als die beiden zum ersten Mal miteinander schlafen, ist es auch Lios erstes Mal, eigentlich, also das erste Mal, dass sie es auch will. Will sie das eigentlich? Währenddessen schaut die Autorin in Lios Kopf, der mir erklärt, warum sie so verkrampft unter Max liegt.

Es war ein Dorffest, das für Lio damit endete, dass ein besoffener glatzköpfiger Typ mit Alkoholfahne grunzend auf ihr liegt und ihre minimale Wehrhaftigkeit für Zustimmung hält. Glaubt, sich einreden zu dürfen, dass Lio mal ordentlich rangenommen werden wollte.

Im Laufe der Geschichte denkt Lio über ihre kaltschnäuzige Mutter nach, die Lio mehrfach nach der Schule mit dem Kochlöffel in der Hand empfängt, einfach weil sie schlechte Laune hat und ein Ventil braucht um sie abzulassen.

Max braucht Lio, sieht in ihr die Frau, die ihn auffängt, führt, hämelt, bestätigt, ihn versteht, seinen verloren gegangenen Selbstwert aufbaut und seine Herbst-Winter Depression aushält. Lio braucht Max, um ihren Körper und ihre Wut zu verstehen.

Die Charaktere sind so klar, dass ich das Bedürfnis verspüre Einfluss zu nehmen, den beiden zu helfen, zu sich zu finden.

Fazit: Die Autorin hat eine zutiefst abgefuckte Liebesgeschichte geschaffen. Die Sprache ist destruktiv, ein bisschen schmutzig und extrem unterhaltsam. Die Dialoge sind so unverkrampft, verspielt, realistisch und amüsant, als stünde ich gerne dabei und würde zuhören. Das Thema, was traumatische Erlebnisse mit uns machen, hätte besser, als im Austausch zwischen Lio und Max nicht gezeichnet werden können. Es ist ein zutiefst eigenwilliges Buch, das beste, das ich in diesem Jahr bisher gelesen habe.

Bewertung vom 12.09.2023
Wo du mich findest
Barns, Anne

Wo du mich findest


ausgezeichnet

Sophie hat zwei schwere Verluste hinzunehmen. Zuerst, ging ihr über alles geliebter Vater, der sie durch sein Vorleben zutiefst geprägt hat. Sie teilt seine Liebe zu den musischen Künsten, vor allem jedoch zur Literatur. Und weil Sophie zweisprachig aufgewachsen ist, übersetzt sie französische Klassiker wie Balzac. Ihre geliebte Freundin Tessa hat sie ebenfalls verlassen, viel zu früh und unerwartet.

Sophie trägt ihre Trauer still vor sich her. Weil sie nachdenken will fährt sie ohne ihren Mann, jedoch mit Tessas Hund Lotte nach Rügen. Ein Mann ihres Alters verfängt sich in einem Café in Lottes Hundeleine. Sophie erschreckt und schüttet ihm ihren Kaffee über das Hemd. Er nimmt ihre Entschuldigung an und eilt davon.

S. 38 Sophie besucht Tessas Mutter, sie fallen sich in die Arme, die Szene ist so traurig.

An der Wand über dem wuchtigen Eichentisch im Esszimmer hingen neue Fotos. Auf jedem davon Tessa. Mit ihren Eltern, den Großeltern, ihrer Schwester Uta, ihrem Neffen Tom. Mit mir. Immer war jemand bei ihr, der sie liebte.

Als Sophie wieder zuhause ist verändert sich einiges. Sie erwacht nachts neben ihrem schlafenden Mann, weil sie von dem Fremden auf Rügen geträumt hat. Als er sich auch in ihre Tagträume schleicht, fühlt sie sich wie eine Betrügerin, aber sie kann nicht anders, als sich darauf einzulassen. Sie entfremdet sich von ihrem Mann und fährt nach Rügen, weil sie den Fremden finden muss.

Auf der Insel lernt sie ihre Vermieterin Marlene kennen und schätzen. Auch Marlene versucht einen Verlust zu bewältigen und damit zu leben.

Fazit: Die Schreibsprache ist zutiefst melancholisch, dennoch trägt Sophie ihren Schmerz mit Würde. Sie verliert sich nicht darin, sondern versucht das Beste daraus zu machen. Es ist die zugleich traurigste und hoffnungsvollste Geschichte, die ich in in der letzten Zeit gelesen habe, sehr berührend.

Bewertung vom 11.09.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


gut

Eine Frau mittleren Alters versucht sich an neue Lebensumstände zu gewöhnen. Ihre beiden Kinder sind jetzt alt genug ihr eigenes Leben zu führen und der Auszug, nur eine Frage der Zeit. Die Frau hat Freunde, mag aber auch gerne allein sein. Gedankenreich läßt die Autorin mich an ihrer Innenschau teilnehmen. Sie denkt sich zurück in ihre Kindheit, wo sie mit ihren Eltern und ihren beiden Zwillingsgeschwisterpaaren in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen ist. Sie kam sich in dem Familienverbund nicht nur äußerlich anders vor, sondern fühlte sich als Außenstehende. In einem Gespräch mit der Mutter bagatellisiert diese, die Gefühle ihrer Tochter, anders behandelt worden zu sein. Sie war die älteste und zog als erstes aus, mit 17 Jahren nach Wien, 700 Kilometer weit von den Eltern weg.

Die Frau lässt ihr Leben revue passieren, ihre ersten Liebhaber, ihre Ehe, die nicht gehalten hat, was sie sich davon versprochen hatte. Sie erzählt ganz eindringlich von der Geburt ihrer Zwillinge, wie sie selbst auf Händen getragen wurde, solange sie in den Wehen lag, wie sie aufgeschnitten wurde, wie ihr die Kinder weggenommen wurden, weil sie Frühchen waren und wieviel sie darüber weinte und wie dann alle von ihr erwarteten, dass sie ihre Kinder stillte und ihr ins Gewissen redeten.

Ganz vieles Andere hat sie allerdings vergessen und verloren. Als ihre Tochter ihr Briefe ihrer eigenen Mutter vorliest, die ein ganz liebevolles Bild ihrer Beziehung zu ihren Eltern widerspiegeln, so ganz anders, als sie selbst ihre Eltern beschreibt, kommt mir kurz der Gedanke, dass sie dissoziativ sein könnte. Situationen, die sich nicht gut angefühlt haben, verdrängt hat. Ein Abwehrmechanismus, dessen sich viele bedienen.

Auf Seite 126 führt die Autorin eine Familienchoreografie auf und lässt alle Geschwister auf der Kücheneckbank, ihren angestammten Platz finden, das hat mir gefallen. Zum Schluss, ihre Beschreibung der Winterlandschaft ebenso. Ein paar Spritzer Humor sind eingeflossen und bringen ein wenig emotionalen Schwung in die Szenen.

Fazit: Die Geschichte hat mich nicht mitgenommen. Für mich ist es ein Wohlfühlbuch, das ohne große Gesten, erschütternde Ereignisse, oder interessanter Wendungen, so vor sich dahinplätschert. Trotz einiger Ansätze, die man gerne hätte vertiefen können, blieben auch schwierige Themen an der Oberfläche und zogen an mir vorbei, ohne mich zu berühren.

Bewertung vom 11.09.2023
Bei euch ist es immer so unheimlich still
Schröder, Alena

Bei euch ist es immer so unheimlich still


ausgezeichnet

Silvia Borowski war ungewollt schwanger, von Martin, dem angehende Juristen und zukünftigen Seniorpartner der Kanzlei seines Vaters. Nachdem Martin es erfahren hat distanziert er sich vehement von Silvia. Die verlässt fluchtartig die Wohngemeinschaft, mit ihrer kleinen Tochter Hannah, klaut Dirks Polo und fährt zügig heim zu ihrer Mutter nach Ildingen.

Sie hat ihre Mutter Evelyn schon lange nicht mehr gesehen und ist nervös, als sie vor ihrer Tür steht. Als Evelyn öffnet sieht sie anders aus, als Silvia sie in Erinnerung hat. Schmal, zierlich und ungepflegt, die Frau Doktor, die immer so viel Wert auf ihr Äußeres gelegt hat, wegen “der Leut”.

Evelyn hatte vor Silvias Geburt Medizin studiert. Sie war eine Waise, weil ihre Mutter abgehauen war. Sie wuchs bei einer Pflegerin auf und lernte alles über die Krankenpflege. Später wurde sie liebevoll von Karls Familie aufgenommen, ihrem späteren Mann. Kurz nach ihrem Studium geriet sie unter Druck, weil das herbeigesehnte Kind nicht kommen wollte.

Eine Hochstaplerin war sie. Ein Findelkind, aufgenommen von der angesehensten und wohlhabendsten Familie des Ortes. Hatte sich den Sohn geschnappt, einen netten, klugen Mann, der wie durch ein Wunder unversehrt aus Krieg und Gefangenschaft zurückgekehrt war, der ihre Berufung teilte und ihr auch nach der Hochzeit zu arbeiten erlaubte, der ihr nie auch nur den leisesten Vorwurf machte und sie vor seinen Eltern in Schutz nahm. Diesem Mann konnte sie kein Kind schenken, ihren Gönnern keinen Enkel. S. 40

Als das Wunder dann doch noch passierte blieb sie zu Hause, kümmerte sich mit einer Hilfe um Kind und Haushalt und wurde wegen der mangelnden Anerkennung immer unglücklicher. Ihre Tochter merkte das und fühlte sich schuldig.

Die Geschichte spricht von Evelyns Gefühl der Minderwertigkeit. So wertlos zu sein, dass ihre Mutter sie verlassen hat. Das Gefühl, versucht sie durch Disziplin, Perfektion, Härte und Leistung zu kompensieren. Sie hat enorm hohe Erwartungen an sich selbst, ihre Umwelt aber vor allem an ihre Tochter, die ihr nichts recht machen kann.

Fazit: Eine wundervolle Geschichte voller interessanter Wendungen. Ich mag den Schreibstil und die Technik sehr. Die Autorin wechselt mit jedem Kapitel die Zeiten. Ein Kapitel spricht über Silvia und die Jetztzeit, das nächste über Evelyn und früher. Dadurch entsteht eine Struktur, der man gut folgen kann. Ich mag, wie der Konflikt zwischen Mutter und Tochter sich zuspitzt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Zum Ende hin entsteht eine Nähe, so plötzlich und dringlich, die mich zu Tränen gerührt hat.

Bewertung vom 11.09.2023
Der Trost der Schönheit
Arnim, Gabriele von

Der Trost der Schönheit


ausgezeichnet

Gabriele von Arnim hat sich auf die Suche gemacht. In ihrem neuen Buch fragt sie nach dem Sinn. Wie schaffen wir es, dem unberechenbarer werdenden Weltenlauf zu begegnen, ohne in die Knie zu gehen? Wie begegnen wir den täglichen Schreckensszenarien, die sich ungefiltert ihren Weg bahnen, hinein in unsere Dünnhäutigkeit?

Sie schlägt vor Schönheit zu kultivieren. Uns mit Dingen zu umgeben, die eine besondere Bedeutung für uns haben. Eine Postkarte, die unser Herz erwärmt hat. Dieser knallige Schal, der in lila und orange um die Wette leuchtet. Ein kleines Blumenarrangement, das uns berührt. Der Himmel, der nur im Herbst in diesem azur leuchtet und diesen einzigartigen Kontrast zum müder werdenden Laub schafft. Uns mit kleinen Alltagsinseln aus Schönheit zu umgeben, die die Aussicht auf Vergänglichkeit und Zerfall ein wenig leichter machen.

Sie spricht von ihrer Kindheit, dem väterlichen Patriarch und der mütterlichen schönen Angepasstheit. Die beiden ersten Menschen in ihrem Leben, die ihr keine Nähe schenken konnten. Er, weil Indianer nun mal keinen Schmerz kennen, sie, weil sie selbst zu bedürftig war.

“Bloß nichts fühlen.”

…und die zu werden, die ich seit langem werden will: eine heitere Alte, die dem Kindheitsgebot des “Bloß nichts fühlen” ein gänzlich pathosfreies “Hach” entgegenschleudert und die Gelassenheit ins Jetzt einlädt. S. 39

Mein Leben war ein kleiner Raum, den andere möblierten. Mit ihren Gedanken und Vorstellungen. S. 68

Auf Seite 108 gibt mir die Autorin einen wundervollen Einblick in ihr Zuhause, mit allem was ihr wichtig ist. Die kleinen Dinge, die sie von ihren Reisen mitgebracht, oder geschenkt bekommen hat.

Schon auf Seite 26 erwischt Gabriele von Arnim mich, macht mein Mitgefühl mit ihr so groß, dass ich vorbehaltlos weine. Zehn Seiten später knurrt mir wohlig der Magen, weil sie, in eine perfekt in Knoblauch gebratene Garnele, mit wenigen Tropfen Zitrone sanft beträufelt beißt, und dabei glücklich ächzt. Auch gutes Essen ist für sie unbedingt ein Ausdruck von Schönheit.

Auf Seite 42 spüre ich Gänsehaut weil

das Kind ein giftspuckender Tintenfisch werden will, der die Hand der Mutter abwehrt. Weil jede Liebkosung der Mutter sich anfühlt, wie ein Angriff. Weil die Mutter nicht zärtlich liebt, sondern Zärtlichkeit begehrt, weil sie nicht geben kann, was sie selbst nie bekam. Weil sie verzweifelt braucht.

Und dann trifft sie mich auf Seite 127 wieder mitten ins Herz, als das Tochterfamilientreffen wegen Corona ausfällt, und Gabriele von alten Ängsten aufgerieben zurücklässt. Die Buchstaben verschwimmen, bis sich ein paar Tränchen lösen und ich kurz tief Luft hole.

Atmen. Einatmen, ausatmen. Atmen

Einige Seiten lang dachte ich an die japanische Art der Keramikreparatur, auf Seite 209 spricht auch sie davon. Gebrochenes Porzellan wird mit Gold gekittet. Daraus entstehen wundervolle, versehrte Einzelstücke, deren Schönheit und Einzigartigkeit eher hervorgehoben werden und ich sehe die Autorin vor mir.

Fazit: Ein wundervolles Buch für alle, die sich nach einem Sinn, in einer Welt fragen, in der so vieles sinnlos erscheint. Ein Buch, das Raum zum Spüren, Begreifen und Staunen lässt. Mich hat es sehr angesprochen, weil ich meine eigenen Parallelen gefunden habe, zu Gabriele von Arnims “So sein”.

Bewertung vom 05.09.2023
Kleine Probleme
Pollatschek, Nele

Kleine Probleme


ausgezeichnet

Wunderbar unterhaltsames Kopfkino, Chapeau.

Lars ist 49 Jahre alt und allein zuhause. Seine Frau Johanna, seine Kinder sind unterwegs um ihr Leben zu leben. Am 31.12. werden sie sich wiedersehen, so der Plan. Die verbleibende Woche will Lars nutzen um Ordnung zu schaffen. All das, was seit Tagen, nein Monaten, ach was Jahren liegengeblieben ist wird Lars Regeln, Ordnen, Gutmachen.

Mit ganz großer Vorfreude, der Aussicht auf ein neues Dasein, schwingt Lars sich in seinen Kopf empor, um in die Planung zu gehen, denn Listen sind wichtig. Dient das Abhaken der Tagespunkte doch der Motivation, sein Endziel zu erreichen. Und weil Lars weiß, dass seine Frau sich ihn auch disziplinierter wünscht und er sie gerade schmerzlich vermisst, kuschelt er sich noch einmal ganz kurz in ihre Schmusedecke auf dem Sofa zusammen. Als er erwacht ist die Woche rum und der 31.12. Nichts ist erledigt und Lars kurz vor einem Nervenzusammenbruch.

Jetzt wird er sich anstrengen, alles noch möglich. Er wird seine Frau und seine Kinder nicht schon wieder enttäuschen. Und dann schnallt Lars seinen Werkzeuggürtel um und begibt sich auf einen Roadtrip durch das Haus, um Linas Bett aufzubauen,

Vor mir lagen , in sauberen Grüppchen, glänzend und glimmend, wie frisch gebadet, zweiunddreißig Hoshis und vierundzwanzig Knülpe, vier Schlitzlinge und vier Plötze, gleich vierzig Pleumel, achtunddreißig Holzflonze und dreißig wagemutige Wüs, daneben fünfzig Wörle, zehn Plastikniezen mit großen weißen Hüten und viel zu zarten Rippen, drei lange Sporne und sechzehnmal, mit glänzenden Ringen und erhabenem Kreuz, Henriette Hannelore von Hoffmansthal, holde Henriette, ach Henriette, ach Johanna, wenn du mich jetzt sehen könntest. S. 36

zu Putzen, Steuer und Post abzuwickeln, Geschenke einzupacken, seinen Vater anzurufen, mit dem Rauchen aufzuhören, sein Lebenswerk zu schaffen, Nudelsalat zu machen und ein Feuerwerk zu zaubern. Dass ihm die einzige übriggebliebene Nietze im Laufe des Tages noch ganz arg beistehen wird, weiß er jetzt noch nicht.

Fazit: Nele Pollatschek hat einen hervorragenden Roman geschaffen. Ich habe so sehr gelacht, wie schon lange nicht mehr. Die Tragik ihres Protagonisten, der nichts auf die Reihe kriegt, sich aber verbiegt, um seinem Umfeld gerecht zu werden, ist urkomisch. Unglaublich, wie gut sie als Frau diesen Charakter hinbekommen hat, wie sehr sie sich in Lars hineinversetzt hat, so als hätte sie selbst einen Zuhause. Chapeau, das ist großes Kopfkino.

Bewertung vom 14.08.2023
Das Café ohne Namen
Seethaler, Robert

Das Café ohne Namen


ausgezeichnet

Robert ist ein stiller fleißiger Mann, der sich mit kleineren Handreichungen über Wasser hält. Es geht ihm gut aber dann lauscht er dem Ruf der Erneuerung und nach einigen Tagen des Abwägens der Für und Wider, folgt er seinem Traum. Ende Februar an einem Frühfrühlingstag eröffnet Robert ein Café.

Und doch war es, als hätte der Fön den Menschen die Köpfe freigelegt und die glänzende Winterseligkeit aus den Gesichtern geblasen. S. 51

Es sind diese Sätze, die der ganzen Geschichte ihre Schönheit geben.

Robert Seethalers Beobachtungen sind komplex und genial beschrieben. Ich kaufe ihm die Geschichte von vorne bis hinten ab, so könnte sie sich Anfang der siebziger-Jahre in Wien ereignet haben.

Die Leute, die in Roberts Café ein- und ausgehen haben alle eine Geschichte, die erzählt werden muss. Und dann treten immer wieder, mit zuverlässiger Gewissheit die zwei älteren Damen in die Szene. Ähnlich, wie die zwei alten Männer auf dem Balkon in der Muppetshow, aber weniger höhnisch. Und sobald ich sie erkenne, freue ich mich auf ihr Gespräch.

Trinken wir noch was? Sebstverständlich. Gott sei Dank, ich hab schon Angst gehabt. S. 139

Ihr Mund war von feinen Fältchen umlagert, die in ein verwirrendes Durcheinander gerieten, sobald sie sprach. S. 158

Das ist einfach genial, die meisten hätten geschrieben. “Eine Frau in den Wechseljahren” Er zeigt es, lässt überflüssiges Weg und die LeserInnen selbst entscheiden, welche Bilder sie entstehen lassen.

Fazit: Eine vortrefflich gelungene Geschichte über das Leben, Entscheidungen, Aufbruch und Ende, die mich gefesselt hat. Ich könnte Robert Seethaler noch tagelang zuhören, ohne dass ich mich langweilen würde.