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Benutzername: 
kleinfriedelchen
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Berlin

Bewertungen

Insgesamt 67 Bewertungen
Bewertung vom 08.09.2010
Solo
Dasgupta, Rana

Solo


weniger gut

Ein indisch stämmiger Engländer, der über ein Land schreibt, in dem er noch nie war und über das er nichts weiß. Kann das gut gehen? Offenbar nein. Wenn man nämlich bereits nach den ersten Seiten eines Buches das Gefühl bekommt, das es einen nicht zum Weiterlesen reizt, ist das ein schlechtes Zeichen. Dabei klingt der Klappentext doch so vielversprechend.

Worum geht es? Ein fast hundertjähriger blinder Mann sitzt in seiner kleinen Wohnung in Bulgarien und resümiert über sein Leben. Dieses verlief eher leidlich. Als kleiner Junge wollte er Geiger werden, doch sein Vater war gegen solch ein Lotterleben. Als junger Mann war es sein Traum, Chemiker zu werden, doch sein Studium in Berlin musste er abbrechen, als seiner Familie das Geld ausging. Zurück in der Heimat, muss er miterleben, wie sein bester Freund aus Kindertagen als politischer Aufständischer von der neuen Regierung ermordet wird. Und schließlich verlässt ihn seine Frau zusammen mit dem gemeinsamen Sohn, da sie das eher ärmliche Leben mit ihm nicht ertragen kann. Jetzt, am Ende seines Lebens angelangt, erschafft sich der alte Mann eine Fantasiewelt, um seiner Realität zu entkommen. In seinen Tagträumen erobert ein junger Geiger die ganze Welt mit seiner Musik. Und der alte Mann sieht endlich seinen Sohn wieder…

Klingt doch gut, oder? Leider hat mich das traurige Schicksal des alten Mannes und seiner Lebensbegleiter, das vom Faschismus, Sozialismus und Kommunismus geprägt wurde, beim Lesen einfach nicht berührt, da der Autor alles so oberflächlich schildert, dass einem die Charaktere überhaupt nicht ans Herz wachsen und man somit auch nicht mitleiden kann. Und überhaupt, die Charaktere. Die wirkten einfach flach und zeitweise fürchterlich unglaubwürdig in ihren Handlungen. Welche Frau beispielsweise würde, nachdem sie ihr Exmann gerade beim leidenschaftlichen Sex mit einem anderen beobachtet hat, danach freundlich zur Tür gehen, den Spanner herbeiwinken und ihn liebevoll drücken? Diese und andere Szenen ließen mich an der Tiefe und Glaubwürdigkeit der Charaktere zweifeln.

Dazu kommt der Schreibstil. Einerseits sehr flüssig geschrieben, andererseits so oberflächlich, dass es beim Leser keine Gefühle auslöst. Und immer wieder blieb mein Auge an Satzkonstruktionen hängen, die so platt waren, dass ich ernsthaft an der Schreibfähigkeit des Autors gezweifelt habe.

Romanhaft klingt die Geschichte, doch besonders im ersten Teil des Buches ähnelt die Ausführung eher einem Sachbuch, da es eine Aneinanderreihung von historischen Fakten ist, gespickt mit persönlichen (angelesenen) Erfahrungen. Der Autor sagt selbst, dass er über Bulgarien nichts wusste, bis er dieses Buch geschrieben hat, und ich finde, das merkt man auch. Die Beschreibungen der Orte, der gesamten Szenerie wirken blutleer und reizlos, das Flair des Landes und der Zeitgeist wollen einfach nicht richtig aufkommen. Und wer keine Ahnung von bulgarischer Geschichte hat, dürfte sich etwas verloren vorkommen. Wissen über die politische Situation Bulgariens am Anfang des 20. Jh. wird offenbar vorausgesetzt, denn erklärt wird kaum etwas, man wird nur mit Namen der Politiker überhäuft. Mit einem Geschichtsbuch wäre ich an dieser Stelle besser bedient gewesen.

Mein Fazit: ein streckenweise gutes, dann wieder schwaches Buch über das Leben in einem politisch zerrissenen Land. Leider bleibt nichts hängen, sobald man das Buch zugeklappt hat. Am gelungensten war da wohl noch der Klappentext. Schade eigentlich.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.09.2010
Über mir der Himmel
Nelson, Jandy

Über mir der Himmel


ausgezeichnet

Wie lebst du weiter, wenn der wichtigste Mensch in deinem Leben stirbt?

Lennie ist siebzehn, als ihre ältere Schwester Bailey völlig unvorhergesehen stirbt und sie allein zurücklässt. Ihre Grandma und ihr Onkel, bei denen sie wohnt, können ihr nicht helfen. Lennie zieht sich mit ihrem Kummer immer mehr zurück und hängt in ihrem Zimmer, das sie sich bis vor ein paar Tagen noch mit ihrer Schwester geteilt hat, düsteren Gedanken nach. Wie führt man eigentlich ein eigenständiges Leben, wenn man doch immer nur im Schatten der schönen, begabten Schwester gestanden und die eigenen Träume ihr zuliebe zurückgestellt hat? Wenn man verloren auf das leere Bett auf der anderen Seite des Zimmers starrt?

Um ihren Schmerz zu verarbeiten, schreibt Lennie. Momente aus dem gemeinsamen Leben der Schwestern, Gedichte, was ihr halt gerade so durch den Kopf geht. Sie schreibt überall drauf, auf benutzte Pappbecher, Klowände, Buchseiten, Papierfetzen, die sie einfach dort liegen lässt, wo sie sich gerade befindet. So verteilt sie ihre Trauer über die ganze Stadt.

In diesem verlorenen Zustand trifft sie auf Joe, den Neuen an ihrer Schule, der wie sie im Orchester spielt. Joe sieht nicht nur super aus, sondern ist auch ein leidenschaftlicher Musiker und führt Lennie mit seiner heiteren lebensfrohen Art langsam wieder zurück ins Leben. Und bevor Lennie sich klar wird, ob man überhaupt fröhlich sein und sich sogar verlieben darf, wenn die Schwester doch tot in ihrem Grab liegt, ist es auch schon um sie geschehen. Mit Joe verbringt sie wundervolle Stunden voller magischer Küsse und bezaubernder Musik. Wäre da doch nur nicht diese seltsame Anziehungskraft zwischen ihr und Toby. Denn der war eigentlich Baileys Freund …

Die besten Geschichten schreibt immer noch das Leben, heißt es. So beruht auch diese Geschichte auf einer wahren Begebenheit. Die Autorin, Jandy Nelson, erlitt selbst einen schrecklichen Verlust und verteilte ihre Gefühle auf Zettelchen über die ganze Stadt. Und über so eine lebensverändernde Erfahrung wollte sie ein Buch schreiben, aber als Romantikerin ließ sie es sich nicht nehmen, dies vor dem Hintergrund einer mitreißenden Liebesgeschichte zu tun. So entstand dieser gefühlvolle Debütroman, der durch Witz und Originalität begeistert, aber ebenso durch die liebevolle Gestaltung des Buches, in dem Lennies Notizen auf Kacheln oder zerdrückten Pappbechern gezeigt werden. So lacht und leidet, trauert und bangt man mit Lennie zusammen, erlebt ihr Gefühlschaos hautnah und begleitet sie bei ihrem langen Weg durch die Trauer. Solange, bis auch Lennie schließlich begreift, dass ein Weiterleben möglich ist.

„Über mir der Himmel“ ist ein wirklich schönes Jugendbuch über einen schweren Verlust, über unsägliche Trauer, aber auch über Herzschmerz und die erste große Liebe, welches nicht nur Teenager begeistern wird. Nehmen und lesen!

3 von 14 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.08.2010
Gottes leere Hand
Efinger, Marianne

Gottes leere Hand


gut

Manuel Jäger ist von der Glasknochenkrankheit betroffen. Er selbst sieht sich nicht als krank oder behindert, nur als anders. Trotzdem leidet er unter den Symptomen, muss immer wieder ins Krankenhaus wegen diverser Knochenbrüche oder Infektionen, die für ihn leicht tödlich verlaufen können. Als er wegen Atemnot wieder einmal ins Krankenhaus eingeliefert wird, ist Manuel alles andere als begeistert. Und als hätte er es geahnt, geht von Anfang an alles schief. Er wird auf dem Flur vergessen, mit rabiaten Alkoholikern in ein Zimmer gesteckt, bricht sich die Hand und fängt sich schließlich eine dicke Erkältung ein, die seine Atemprobleme nur noch verschlimmert. Von den Ärzten wird er nur als interessanter Fall wahrgenommen und nicht als Mensch. Einzig die junge Krankenschwester Dagmar sieht in ihm den klugen Menschen, der er ist. Doch auch Dagmar kann nicht verhindern, dass es mit seiner Gesundheit immer mehr bergab geht…

Ab wann ist das Leben lebenswert? Wer bestimmt, was normal ist und was von der Norm abweicht? Wie geht man mit Krankheit und Tod um? Dies scheinen die Fragen zu sein, die die Autorin beim Schreiben des Romans beschäftigt haben. Selbst jahrelang als Krankenschwester tätig gewesen, vermittelt uns Marianne Efinger ein trauriges Bild des Krankenhausalltags und des maroden Gesundheitssystems. Dabei deckt sie Missstände schonungslos auf. So werden Fehler seitens des Personals verschwiegen; für die Pflege der Patienten bleibt kaum Zeit, da es an Personal mangelt; Qualitätsansprüche an Sauberkeit und Fürsorge werden immer weiter gesenkt, weil die Arbeit auch so schon kaum zu bewältigen ist.

Die Autorin spricht viele Themen an, sei es Mobbing unter den Angestellten, der Umgang mit behinderten Menschen oder Alten, die in Pflegeheime abgeschoben werden, wo sie lieblos vor sich hin vegetieren. Leider ist das Buch einfach zu kurz, um alles in einem würdigen Maß zu schildern, daher wirkte die Handlung etwas unfokussiert. Manuels Geschichte tritt während des Buches langsam in den Hintergrund und wird ziemlich knapp abgeschlossen.

Leider erschienen mir die Charaktere teilweise etwas zu stereotyp gezeichnet. Da hätten wir die Stationsärztin, die für die Sorgen ihrer Patienten kein offenes Ohr hat, sondern nur sieht was sie sehen will und möglichst pünktlich in den Feierabend verschwindet. Oder die Stationsleiterin, die eine Kollegin, die auf Missstände aufmerksam macht, mit allen Mitteln bekämpft, um das gute Image der Station zu erhalten. Aber auch die herzensgute Krankenschwester darf nicht fehlen, deren moralische Ansprüche langsam am Krankenhausalltag zu zerbrechen drohen.

So sensibel und wichtig das Thema auch ist, habe ich mich doch manchmal etwas von der Moral, die die Autorin hier vermitteln will, erdrückt gefühlt. Was richtig ist und was falsch, bleibt nicht dem Leser überlassen, sondern wird einem von der Autorin aufgezwungen, auch wenn man meist durchaus ihrer Meinung sein wird. Aber vielleicht ist gerade diese Subjektivität nötig, um die Dringlichkeit der Thematik zu vermitteln.

Mein Fazit: Marianne Efingers Roman gleicht eher einem Bericht über den Krankenhausalltag als einem Roman. Trotzdem lesenswert.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.07.2010
Finstere Orte
Flynn, Gillian

Finstere Orte


ausgezeichnet

Libby Day war erst sieben, als ihre Mutter und ihre zwei Schwestern brutal ermordet wurden. Sie selbst konnte entkommen und brachte mit ihrer Aussage ihren fünfzehnjährigen Bruder Ben lebenslänglich ins Gefängnis. Jetzt, 25 Jahre später, lebt sie ohne Ziel in den Tag hinein und denkt immer öfter über Selbstmord nach. Als ihr das Geld auszugehen droht, von dem sie bisher dank großzügiger Spenden von mitfühlenden Menschen gelebt hat, muss sie sich eine neue Einkommensquelle suchen. Wie wunderbar passt ihr da das Angebot des sogenannten „Kill Club“, dessen Mitglieder mysteriöse oder unaufgeklärte Mordfälle untersuchen, quasi als Hobby. Für ein paar Gespräche und Souvenirs aus der Familie soll sie eine ordentliche Stange Geld bekommen.

Doch das Treffen mit den Mitgliedern läuft nicht gut für Libby. Die anderen sind von der Unschuld ihres Bruders überzeugt, man wirft ihr vor, in ihrer Aussage gelogen zu haben, in der sie ihren Bruder als Mörder identifiziert hat. Wie erklärt sie sich die Ungereimtheiten, die am Tatort aufgetaucht sind? Von wem stammt der blutige Fußabdruck, der nicht zu Ben gehört? Und welches Motiv hätte er gehabt? Könnte nicht eher ihr verschuldeter, alkoholsüchtiger Vater der Täter sein? Libby ist alles andere als begeistert, dass man sie als Lügnerin hinstellen will, doch schon bald nach dem Treffen regen sich auch bei ihr Zweifel. Und so beginnt sie, in ihrer Vergangenheit zu forschen und muss feststellen, dass ihr Bruder vielleicht tatsächlich unschuldig im Gefängnis sitzt…

Abwechselnd aus Libbys Sicht, die in der Gegenwart nach Hinweisen forscht, und aus Sicht ihrer Mutter und ihres Bruders, die den Tag vor den Morden schildern, wird die Geschichte erzählt. So ergibt sich nach und nach ein Bild der Umstände, die zu den Morden geführt haben.

Thriller machen immer dann besonders Spaß, wenn man als Leser in die Fußstapfen von Miss Marple oder Columbo treten kann. Wenn man Spekulationen über den Mörder machen und jeden Verdächtigen kritisch beäugen kann. So bietet auch „Finstere Orte“ genug Stoff zum Mitraten. Verdächtige werden eingeführt und entlastet, Beweise aufgedeckt und gesammelt. Das Rätsel um die Morde an Libbys Familie bleibt bis zum Ende spannend und unvorhersehbar. Der Plot ist dabei genauestens durchdacht, jedes kleine Detail wird irgendwann aufgegriffen, so dass keine Ungereimtheiten bleiben.

Mit der Protagonistin Libby als Hauptcharakter ist die Autorin ein großes Risiko eingegangen, ist Libby anfangs doch alles andere als sympathisch und könnte den Leser eher abstoßen. Verlogen, gerissen, habgierig, ein Langfinger. So lernen wir die Einunddreißigjährige kennen. Kein Lebensziel vor Augen. Doch genau diese Mischung lässt sie so normal und realistisch erscheinen. Und trotz ihrer Charakterschwächen wächst Libby einem langsam ans Herz, wobei sie natürlich auch nach und nach eine charakterliche Veränderung durchläuft.

Mein Fazit: „Finstere Orte“ ist ein gelungener, wohldurchdachter und spannender Thriller mit glaubhaften Charakteren und logischem Ende. Klare Leseempfehlung!

6 von 14 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.07.2010
Rost
Meyer, Philipp

Rost


ausgezeichnet

Buell, Pennsylvania. Eine ehemalige Hochburg der Stahlindustrie, die den Menschen seit ihrem Untergang nichts mehr zu bieten hat als Massenarbeitslosigkeit, umherfliegenden Rost, der die Wäsche verfärbt und verbitterte Menschen, die sich selbst aufgegeben haben. In dieser Stadt wachsen der junge Isaac und Billy Poe auf, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Isaac, ein hochintelligenter, doch schmächtiger Zwanzigjähriger, entschließt sich, endlich seinem Zuhause in dem Provinzkaff zu entfliehen. Seit seine Mutter vor fünf Jahren Selbstmord beging und seine ältere Schwester kurz darauf zum Studieren nach Yale ging, war Isaac allein mit seinem mürrischen, an den Rollstuhl gefesselten Vater. Nun will er abhauen, nach Kalifornien, um dort Astrophysik zu studieren und dem verhassten Zuhause zu entfliehen, in dem sein Vater eh nie ein gutes Wort für ihn übrig hat.
Billy, ehemaliger Footballstar an der Schule, hat es versäumt, sich für die Unis zu bewerben, die ihn als begabten Sportler mit Kusshand genommen hätten. So lässt er sich einfach treiben, trinkt Alkohol, haust im Trailer seiner Mutter und seine Arbeit im Eisenwarenladen hat er auch gerade verloren. Als ihn sein Freund da bittet, ihn nach Kalifornien zu begleiten, willigt er ein.

Doch gleich zu Beginn ihrer Reise spitzen sich die Ereignisse dramatisch zu: bei einem Streit mit Obdachlosen um eine trockene Unterkunft für die Nacht wirft Isaac mit einer schweren Kugel nach einem der Männer und tötet ihn. Bevor sie richtig begreifen, was passiert ist, wird Billy, bereits vorbestraft und für sein gewalttätiges Wesen bekannt, unschuldig verhaftet und kommt ins Gefängnis, wo er auf seinen Prozess warten muss. Isaac dagegen flieht Richtung Süden…

„Rost“ ist die Schilderung vieler Einzelschicksale, die zusammen das Bild einer verfallenen amerikanischen Kleinstadt zeichnen. Isaacs Schwester Lee beispielsweise hat es zwar geschafft, dem tristen Leben in Buell zu entkommen, quält sich jedoch mit Schuldgefühlen, den kleinen Bruder allein mit dem pflegebedürftigen Vater zurückgelassen zu haben. Billys Mutter Grace hadert mit ihrem Leben im Wohntrailer, wollte sie doch schon vor Jahren dieses Nest von einem Ort verlassen. Als unterbezahlte Näherin und vom Exmann ständig ausgenutzt, verliert sie schließlich fast ihren Lebenswillen, als ihr Sohn ins Gefängnis kommt. Kann ihre immer mal wieder aufflackernde intime Beziehung zum Sheriff Billy vielleicht weiterhelfen?

Man kann es schon erahnen, es dominiert der trübsinnige Grundton der Erzählung. Armut, sozialer Abstieg, Kriminalität, Schuld und verpasste Chancen bilden die Themen des Buches.
Die Geschichte verläuft dabei eher langsam und schleppend, gleich dem Leben der Protagonisten. Und doch kann man sich dem Buch nicht entziehen. Der Fokus des Autors liegt hierbei nicht auf einer komplexen Handlung und rasanten Geschehnissen, sondern auf den unterschiedlichen Charakteren. Die sind einzigartig, sehr ehrlich und glaubwürdig geschildert. Sie werden nicht idealisiert, sondern mit all ihren Fehlern dargestellt, ihre Handlungen sind jederzeit nachvollziehbar.
Einzig die Schreibweise mag für manche anfangs gewöhnungsbedürftig sein, da gerade das erste Kapitel aus Isaacs Sicht geschildert wird, der sich durch sprunghafte, beinahe wirr anmutende Gedanken auszeichnet. Hat man das erste Kapitel allerdings hinter sich gebracht, wird man das Buch nicht mehr weglegen wollen.

Der Autor, Philipp Meyer, wird mit so bekannten Autoren wie Hemingway, Steinbeck und Salinger in einer Reihe genannt und kann diesem Vergleich meiner Meinung nach durchaus standhalten. Kritisch und desillusionierend beschreibt er das Schicksal vieler amerikanischer Städte und der darin lebenden Menschen. Ein sozialkritischer Roman über die andere, dunkle Seite von Amerika, jenseits des American Dream.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.05.2010
Vatermord und andere Familienvergnügen
Toltz, Steve

Vatermord und andere Familienvergnügen


ausgezeichnet

Wow, wie soll man dieses 800 Seiten starke Buch bloß hinreichend beschreiben? Hätte ich nur ein Wort zur Verfügung, würde ich sagen: Familiengeschichte. Aber das würde es nicht annähernd treffen. Denn es ist so viel mehr als bloß die absolut verrückte, faszinierende, wahnwitzige Geschichte der Familie Dean.

Es beginnt damit, dass der junge Jasper im Gefängnis sitzt und ein Buch schreibt. Über sich, über seinen von allen Australiern gehassten Vater Martin, seinen Onkel Terry, der wie ein Volksheld verehrt wird und wie es alles dazu gekommen ist. Dabei startet er quasi beim Urschleim. Er erzählt, wie sich seine Großeltern kennengelernt haben, wie sein Vater als Kind jahrelang im Koma lag, und wie die Brüder aufgewachsen sind, dabei so verschieden wie Tag und Nacht. Während sein Bruder der Goldjunge der Familie ist, sportlich, gutaussehend, von sonnigem Gemüt, wird Martin immer als seltsamer gebrechlicher Außenseiter gesehen, der seine Nase zu viel in Bücher steckt, ein Denker, der die Menschen um ihn herum in ihrer Banalität verachtet. Um seinen großen Bruder vor den Angriffen der stärkeren Schüler zu bewahren, schließt sich Terry einer brutalen Schlägerbande an und rutscht so langsam aber sicher in die Kriminalität ab, nicht ahnend, dass ihn das zum gefeierten Volkshelden machen wird. Marty dagegen plant, die Menschen seiner Stadt zu besseren Wesen zu machen und errichtet eine Vorschlagsbox, die die kreativen Ideen der Leute sammeln soll. Doch alle seine Pläne gehen nach hinten los und führen zum tragischen Ableben seiner ganzen Familie.

Jetzt erst lernen wir Jaspers Geschichte kennen. Er wird von seinem menschenscheuen Vater zuhause unterrichtet, lernt schon als kleines Kind Schopenhauer und Nietzsche kennen. Als Jugendlicher versucht er, sich von seinem Vater zu distanzieren, wird aber immer wieder in sein verdrehtes Leben hineingezogen. Er geht nun doch zur Schule, hat (fast) einen Freund, den er jedoch schon bald verliert, findet eine wunderschöne, leidenschaftliche Freundin, die er aufgrund ihrer Haarfarbe das Flammende Inferno nennt und die ihre Tränen in einem Glas sammelt und bricht schließlich die Schule ab, da er dort eh nichts für sein Leben lernt. Als sein Vater in seinen Depressionen zu versinken droht und in die psychiatrische Klinik eingewiesen wird, entwirft Jasper einen kuriosen Plan, um seinem Vater wieder zu geistiger Gesundheit zu verhelfen…

Klingt das alles langweilig oder banal? Nach einer simplen Familiengeschichte? Dann lies das Buch und lass dich vom Gegenteil überzeugen! Diese Geschichte strahlt eine seltsame Faszination aus, dass man zeitweilig nur ungläubig den Kopf schütteln kann, was den Deans so alles passiert, zeitweise in Lachen ausbricht oder einen dicken Kloß im Hals verspürt. Und auch wenn Menschen sterben oder andere tragische Ereignisse über die Deans hereinbrechen, schreibt Steve Toltz so humorvoll und locker, dass man gar nicht lange trauern kann. Trotz seiner Länge ist das Buch nie langatmig und die Charaktere sind so ungewöhnlich wie durchgeknallt. Die Deans philosophieren, sie kritisieren, sie suchen nach dem Sinn des Lebens und verändern durch ihre bloße Existenz ganz Australien. Die Handlung ist so vielschichtig, so komplex, so umfangreich, dass ein anderer Autor wohl drei Bücher daraus hätte basteln können.

Ein umwerfendes, brillantes, tragikomisches Debüt des gebürtigen Australiers Steve Toltz. Mein Lesehighlight 2010!

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.