Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
sleepwalker

Bewertungen

Insgesamt 467 Bewertungen
Bewertung vom 07.11.2023
Eine wie sie fehlt in dieser Zeit
Hörnlein, Katrin

Eine wie sie fehlt in dieser Zeit


ausgezeichnet

„Noch ein Buch über Astrid Lindgren? Gibt es nicht längst genug?“ – diese Frage stellt sich die ZEIT-Redakteurin Katrin Hörnlein zu Beginn ihres Buchs „Eine wie sie fehlt in dieser Zeit“. Da ich „Denne dag, et liv” von Jens Andersen und „Jeg lægger dine breve under madrassen” von Astrid Lindgren und Sara Schwardt gelesen habe, war ich überrascht, dass mich ein weiteres Buch über die Schriftstellerin so begeistern konnte. Katrin Hörnlein hat eine Reise in die Vergangenheit von Astrid Lindgren unternommen, auf die sie ihre Leserschaft mitnimmt. Sie trifft Nachkommen und Weggefährt:innen Lindgrens und wandelt auf ihren Spuren von der Vergangenheit bis in die heutige Zeit.
Katrin Hörnlein schreibt voller Hochachtung und Bewunderung über die Schriftstellerin, die sie nie persönlich kennenlernen konnte. Inzwischen ist Astrid Lindgren mehr als 20 Jahre tot und lebt in ihren Büchern und den Herzen ihrer Fans weltweit weiter, schließlich wurden ihre Bücher in mehr als 100 Sprachen übersetzt. Die „Astrid Lindgren Company“ ist heute noch in Familienbesitz, die Firma gehört ihren sieben Enkeln und ihrer Tochter Karin, außerdem arbeitet auch ihr Urenkel Johan Palmberg inzwischen dort. Die Company kümmert sich um bestehende Verträge, unterstützt aber auch Musicals und Theaterproduktionen. Im Onlineshop kann man beispielsweise die Bücher und geringelte Pippi-Langstrumpf-Leggins oder Michel-aus-Lönneberga (der auf Schwedisch Emil heißt)-Shorts kaufen.
Ein paar Weggefährt:innen Astrid Lindgrens konnte Katrin Hörnlein treffen. Durch ihre Erzählungen kommt auch ihre Leserschaft der Autorin näher und man erkennt, dass ihr Leben nicht nur aus Pfannkuchen und Fleischklößchen bestand. Die blitzgescheite und für ihre Zeit äußerst emanzipierte Frau, wusste, was sie wollte, und musste darum kämpfen. So brachte sie mit 18 Jahren ihren unehelichen Sohn Lars in Kopenhagen zur Welt, weil dort anonyme Geburten möglich waren. Dort lässt sie ihn bei Pflegeeltern, später holt sie ihn erst zu sich nach Stockholm, dann bringt sie den Dreijährigen bei ihren Eltern in Småland unter. Die Beziehung zum Vater des Jungen, der ihr Chef war, zerbricht. Aus ihrer 1931 geschlossenen Ehe mit Sture stammt Tochter Karin, sie ist heute 89 Jahre alt. Astrid Lindgren war mit Leib und Seele Mutter, aber nicht Ehefrau. „Im üblichen Sinn bin ich nie verliebt gewesen. Nein, es ist so: Ich habe Kinder immer mehr geliebt als Männer.“, sagte sie ihrer Biografin Margareta Strömstedt auch mit Hinblick auf den Alkoholismus ihres Mannes. „Was Kinder brauchen, ist jemand, der sie richtig gernhat“, sagt Lindgren 1989 in einem Interview mit der schwedischen Zeitung Expressen.
„Eine wie sie fehlt in dieser Zeit“ ist ein lesenswertes und kurzweiliges Buch, das neue Facetten Astrid Lindgrens zeigt. Es bringt aber auch Menschen ins Rampenlicht, die es bislang (zumindest für mich) nicht dahin geschafft hatten. So trifft sie unter anderem die Nachfahren von Ilon Wikland und Björn Berg, zweier der Illustratoren von Lindgrens Büchern und mit Inger Nilsson, der Darstellerin von Pippi Langstrumpf. Neu für mich war auch das politische Engagement Astrid Lindgrens. Sie setzte sich gegen Atomkraft und für den Umwelt- und Tierschutz ein. Anfang der 1990er kämpfte sie gegen Massentierhaltung und für mehr Tierwohl. Das „Lex Lindgren“ genannte Gesetz wurde zu ihrem 80. Geburtstag verabschiedet, sein Umfang enttäuschte sie allerdings. „Soll ich mich etwa geschmeichelt fühlen, weil dieses sinnlose Gesetz nach mir benannt wird?“ – so hatte sie es kommentiert.
Ja, Astrid Lindgren ist eine Persönlichkeit, die aktuell mehr fehlt, denn je. Das Buch über sie war für mich sprachlich und inhaltlich ein Highlight, das mir die Schriftstellerin noch näher gebracht hat. Als jemand, der das Kind in sich bewahrt hat, ohne kindisch oder naiv zu sein. Und als jemand, der versucht hat, seinen Einfluss immer für das Gute zu nutzen. Daher von mir eine uneingeschränkte Lese-Empfehlung und fünf Sterne.

Bewertung vom 02.11.2023
Pageboy
Page, Elliot

Pageboy


gut

„Ich habe nichts Neues oder Tiefgründiges zu sagen, nichts, was nicht schon vorher gesagt worden wäre, aber ich weiß, dass Bücher mir geholfen, mich sogar gerettet haben, und vielleicht kann auch dieses Buch anderen dabei helfen, sich gesehen und weniger allein zu fühlen, egal, wer sie sind und auf welcher Reise sie sich befinden.“ Für mich ist dieser Satz einer der besten in Elliot Pages Buch „Pageboy“. Ich hatte mich auf das Buch aus mehreren Gründen sehr gefreut, denn ich lese gerne (Auto)Biografien und ich lese gerne über die Reise von Menschen zu sich selbst, zumal ich selbst trans bin. Stellenweise fand ich das Buch auch tatsächlich gut und lesenswert, stellenweise erschütternd und erschreckend. Alles in allem fehlt mir aber der rote Faden völlig und das Werk wirkt etwas konfus und sprachlich viel zu wenig ausgefeilt. So ist es für weniger eine Autobiografie als eine chaotische Ansammlung von Gedanken und Anekdoten, schlicht: Elliot Pages ureigener Bericht über die Reise zu sich selbst.
Aber von vorn.
Schon früh im Leben war für Elliot Page klar, dass er sich stark dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlte, obwohl ihm bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen worden war. Mit sechs Jahren fragte er seine Mutter: „Kann ich ein Junge sein?“ Natürlich konnte er das nach Überzeugung der Mutter nicht. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis er sich selbst gefunden hatte und der werden konnte, der er schon immer war. Er schreibt schonungslos über das Mobbing in seiner Kindheit in der kanadischen Stadt Halifax, das auch in der Familie stattgefunden hat (seine Stiefmutter bezeichnete ihn als „Plage“ und „Heulsuse“ und genoss es, ihm Schmerz zuzufügen). Er schreibt über traumatische Erlebnisse, seine Ess-Störung, erste Erfahrungen in der Schauspielerei und in der Liebe. Inzwischen hat er sich selbst gefunden und scheint mit sich selbst weitestgehend im Reinen zu sein.
Sprachlich fand ich das Buch gewöhnungsbedürftig, der Verfasser ist Schauspieler und ganz eindeutig kein Schriftsteller. Vor allem die Beschreibungen einiger Intim-Szenen fand ich zu vulgär. Das Buch ist kein literarisches Werk, aber es hätte doch auch für einen ungeübten Autor sicher einen Mittelweg zwischen Literatur und Obszönität gegeben. Leider fehlt dem Buch auch jeglicher roter Faden, die Gedanken sprudeln nur so aus Elliot Page heraus und so bringt er sie zu Papier, ungeordnet und oft ohne einen zeitlichen oder inhaltlichen Zusammenhang. Über seine inzwischen geschiedene Ehe schreibt er so gut wie nichts (möglicherweise um die Privatsphäre seiner ex Frau zu schützen), ob er seine Ess-Störung überwunden hat, ist auch nicht klar und insgesamt schreibt er sehr viel über Jungsklamotten, kurze Haare und Badehosen – aus eigener Erfahrung kann ich sagen: trans zu sein ist noch viel mehr als nur ein „Tomboy“ zu sein.
Elliot Pages Buch zeichnet das Bild eines sehr sensiblen Kindes, das lange braucht, sich selbst zu finden und noch länger braucht, zu sich selbst stehen zu können. Es zeigt, wie homophob die Gesellschaft nach wie vor ist, selbst unter Schauspielern und Filmschaffenden. Er zeigt, wie gefährlich es auch heute noch sein kann, sich als queer zu outen und wie aufreibend es ist, sein wahren Selbst verstecken zu müssen. Obwohl ich das Buch an sich wichtig finde, war es für mich ein zu großes Durcheinander und zu wenig ausgereift. Hätte ich dieselbe Geschichte mit meinem Namen an einen Verlag geschickt, wäre sie mit Sicherheit nicht veröffentlicht worden. Vielleicht schafft Elliot Page es ja irgendwann, eine richtige Biografie zu schreiben und damit dann das zu erreichen, was er damit eigentlich bezweckt hat: dass trans Menschen gesehen und akzeptiert werden. Ich würde das Buch auf jeden Fall lesen. „Pageboy“ schafft es bei mir allerdings leider nur auf 2,5 Sterne, aufgerundet auf drei.

Bewertung vom 29.10.2023
Das Klugscheißerchen
Kling, Marc-Uwe

Das Klugscheißerchen


sehr gut

Tina und Theo Theufel (erstere mit einem „th“, zweiterer mit zwei) sind überzeugte Klugscheißer. Und da sind sie in ihrer Familie in sehr guter Gesellschaft, ihre Eltern sind nämlich ebenfalls Klugscheißer. Und bei so viel Klugscheißerei war es klug von Marc-Uwe Kling, eine Kurzgeschichte über Klugscheißerei zu schreiben und sie auch selbst als sehr kurzes Hörbuch einzulesen. Noch nicht klug genug?
Tina und Theo finden auf dem Dachboden (auf dem sie eigentlich nicht spielen dürfen) in einer Kiste eine kleines Männchen, das sich als Klugscheißerchen vorstellt. Nur echte Klugscheißer können ihn sehen und da stellt sich die Frage: können die Eltern der beiden Kinder ihn sehen oder nicht?
Ich habe das 29 Minuten lange (oder kurze) Hörbuch gehört und da ich Marc-Uwe Kling als Sprecher gerne mag, hat es mir gut gefallen. Dass ich immer wieder ein aufmüpfiges Känguru vor Augen hatte, ist dabei ganz allein mein Problem. Insgesamt erinnerte mich die Geschichte allerdings sehr an Cornelia Funkes „Bücherfresser“, den ich allen, denen „Das Klugscheißerchen“ gefallen hat, ebenfalls ans Herz legen möchte.
Wer genau die Zielgruppe für „Das Klugscheißerchen“ ist, kann ich nicht sagen. Für Kinder ab sechs Jahren finde ich das (Hör)Buch auf jeden Fall schwierig und vermutlich werden sie wenig Spaß daran haben. Viele der Klugscheißereien beziehen sich auf Grammatik oder Allgemeinbildung, die die Kinder oft noch nicht haben. Für Erwachsene ist das (Hör)Buch zu kurz und inhaltlich ein bisschen schwach auf der Brust. Mir fehlte eine wirkliche Handlung. In der Hauptsache besteht das (Hör)Buch aus allen möglichen Zurechtweisungen und Klugscheißereien, trotzdem fand ich es unterhaltsam und einige Lacher trösteten mich über die Schwächen hinweg, allerdings bin ich auch ein eher fortgeschrittenes Kind.
Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich bin auf dem Dachboden. Da ich mindestens ein ebenso großer Klugscheißer wie die komplette Familie Theufel bin, müsste ich in einem unserer übriggebliebenen Umzugskartons auch ein Klugscheißerchen finden. Oder sogar zwei.
Von mir für dieses Hörbuch vier Sterne.

Bewertung vom 27.10.2023
Grausames Spiel / Team Helsinki Bd.2 (eBook, ePUB)
Ollikainen, A.M.

Grausames Spiel / Team Helsinki Bd.2 (eBook, ePUB)


gut

Vermeintliche Selbstmorde von völlig unterschiedlichen Menschen, die auf den ersten Blick überhaupt nichts miteinander zu tun haben – das ist das Hauptthema von A. M. (Aki und Milla) Ollikainens neuem Thriller, der der zweite Teil ihrer „Team Helsinki“-Reihe ist. „Grausames Spiel“ ist der Titel des Buchs und es lässt mich etwas zwiegespalten zurück. Einerseits ist es an manchen Stellen enorm spannend, an anderen zieht es sich etwas und plätschert vor sich hin. Aber der Schluss, so stimmig er auch sein mag, passte für mich leider überhaupt nicht. Lesenswert und unterhaltsam finde ich das Buch trotzdem.
Aber von vorn.
Als die 80jährige Kaarina Alanne in einem kleinen Wald in der Nähe von Helsinki an einer Birke erhängt aufgefunden wird, ist für die Polizei sofort klar, dass es ein Suizid war. Vor allem, als sich schnell herausstellt, dass sie unheilbar krank war und nur noch kurz zu leben gehabt hätte, sind alle schnell bereit, die Ermittlungen einzustellen. Aber Kriminalkommissarin Paula Pihlaja hat Zweifel. Wieso sollte die kleine Frau denn auf einen Baum klettern und sich eine Schlinge um den Hals hängen? Dann finden einige Wochen später Kinder auf einem Spielplatz einen erhängten Mann. Da er einen ähnlichen Strick um den Hals hat, könnten die beiden Fälle zusammenhängen. Die Ermittlungen nehmen Fahrt auf, die Fälle sind verzwickt und verworren. Als dann aber noch ein dritter Toter gefunden wird, überschlagen sich die Ereignisse. Der Mörder lässt sich zwischen den Taten immer weniger Zeit und eben diese läuft den Ermittlern langsam davon.
Nachdem ich den ersten Teil der „Team Helsinki“-Reihe („Die Tote im Container“) gelesen habe, habe ich die Ermittlerin Paula Pihjala und ihren Kollegen Aki Renko ins Herz geschlossen. Vor allem die vielen Andeutungen auf Paulas Vergangenheit waren lose Enden des Buchs und beim neuen Teil der Serie hoffte ich auf Aufklärung. Und wurde nicht enttäuscht. Neben den Morden und der Ermittlungsarbeit erfährt man mehr über Paula und ihren Sohn „Pauli“ (der eigentlich Mikko heißt), den sie nach der Geburt zur Adoption freigegeben hatte. Diese zahlreichen Exkurse ins Privatleben sind informativ, bringen aber natürlich die Ermittlungsarbeit und dadurch die Krimi-Handlung keinen Millimeter vorwärts. Und leider stören sie auch ein bisschen die Spannung. Dadurch entsteht ein stark unterbrochener Spannungsbogen, der allerdings stellenweise sehr hoch ist.
Die Charaktere, die man aus dem ersten Buch schon kennt, wurden in diesem Band weiterentwickelt und ausgebaut. Reibereien unter den Kollegen und private Probleme lockern die Geschichte auf, stören aber (wie vorhin schon erwähnt) die Spannung. Da sie allerdings charmant beschrieben und mitten aus dem Leben gegriffen sind, sind sie nett zu lesen und unterhaltsam, wozu auch die angenehme Sprache beiträgt, in der das Buch geschrieben ist. Der Stil ist klar, bildhaft und verständlich, die Übersetzung ist hervorragend gelungen. Die vielen Unbekannten in der Gleichung der Ermittlungen sind ein enormer Spannungs-Faktor, das Mitraten fesselte mich mehr als die Taten selbst, da das Buch auch einige Längen hat. Die Lösung des Falls konnte mich hingegen nicht wirklich begeistern. Nach allem Rätselraten um Identität und Motive des Täters fand ich die Auflösung leider viel zu konstruiert und an den Haaren herbeigezogen. Da ist noch sehr viel Luft nach oben und für dieses Buch reicht es nur für drei Sterne.

Bewertung vom 27.10.2023
Verschickungskinder
Gilhaus, Lena

Verschickungskinder


ausgezeichnet

Als ich das Wort „Verschickungskinder“ zum ersten Mal gelesen habe, dachte ich spontan an die Kinder, die ihm Rahmen der Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg „verschickt“ wurden. Aber das Buch „Verschickungskinder“ von Lena Gilhaus handelt nicht von ihnen. Die Journalistin schreibt vielmehr über die mehr als 15 Millionen Mal, bei denen Kinder ab dem Kindergartenalter (manche waren erst zwei Jahre alt!) wegen unterschiedlicher (zum Teil völlig irrwitziger) Indikationen in Kur geschickt wurden. Ein erschreckendes Buch das sehr schwer zu verdauen ist.
Aber von vorn.
Matthias Vollmer, genannt Matthes, reiste im Frühjahr 1967 zusammen mit seiner jüngeren Schwester Barbara zur „Kinderkur“ nach Sylt. Ziel war es, dass die Kinder zunähmen „und sich bei Spiel, Spaß und gutem Essen an der Nordsee vom verrußten Ruhrpott erholen könnten“. Rund 50 Jahre später schafft er es 2017, mit seiner Tochter Lena über die Erlebnisse zu sprechen, später machen sie die Reise noch einmal zusammen. Die Journalistin recherchiert in der Folge über die Kinderkuren und muss erkennen: die Erfahrungen ihres Vaters sind keine Einzelfälle. In Onlineforen melden sich unzählige andere ehemalige „Verschickungskinder“ und berichten von Essenszwang, Vernachlässigung, Isolation und immer wieder von Gewalt sowohl physisch, psychisch und s**uell. Die schwarze Pädagogik von Johanna Harrer wirkte auch lange nach der Nazizeit noch nach, egal, ob die Heime privat, staatlich oder von kirchlichen Trägern betrieben wurden. Oft können sich die Kinder gar nicht an die Grausamkeiten erinnern, die sie erlebt haben und leiden als Erwachsene plötzlich unter Flashbacks. Dabei waren die Kuren eigentlich gut gemeint, auch die Eltern dachten, sie täten den Kindern etwas Gutes. Indikationen dafür waren zum Beispiel Über- und Untergewicht, Haut- und Atemwegserkrankungen, oft aber auch schlechte Schulnoten oder eine „unstete Familiensituation“. Dann konnten die Kinder der BRD und der DDR an die Nord- und Ostsee, in den Schwarzwald sogar an die Adria verschickt werden, wo sie mit (zumindest aus heutiger Sicht) zweifelhaften Maßnahmen traktiert wurden. Und nicht alle Kuren waren schlecht. Nach der Lektüre von „Verschickungskinder“ und eigener Recherche muss ich aber sagen: die meisten scheinen es aber gewesen zu sein. Die Aufarbeitung läuft bis heute schleppend bis gar nicht. Selbst wenn Kinder auf der Fahrt zur Kur oder während dieser zu Tode kamen, versuchten sich die Verantwortlichen aus der Verantwortung zu stehlen.
Das Buch ist schwere Kost. Wegen der Ereignisse an sich, die so viele Betroffene bis heute leiden lassen, aber auch wegen der Haltung der „Täterseite“. „Insgesamt ist ein Mauern und Schweigen der Verantwortlichen festzustellen“, schreibt Lena Gilhaus. Schuld und Verantwortung wird von Land zu Bund und wieder zurückgeschoben, Krankenkassen, Landschaftsverbände und kirchliche Einrichtungen sehen sich nicht in der Pflicht bei der Aufarbeitung mitzuwirken. Forschende und Betroffene stoßen auf Ablehnung und Untätigkeit. Eine Schande. So viel Gewalt gegenüber Kindern, so viel (Macht)Missbrauch und Demütigung unter dem Deckmäntelchen der „guten Sache“. Frei nach dem Abraham Lincoln-Zitat „Wenn du den wahren Charakter eines Menschen erkennen willst, dann gib ihm Macht“ erkannten viel zu viele Kinder das, was sich hinter den Fassade von Nonnen, Pädagogen und medizinischen Personal verbarg.
Sprachlich fand ich das Buch stellenweise etwas holprig zu lesen und alles in allem als eine Zusammenstellung von journalistischen Recherche-Ergebnissen zu sehen, lose zusammengehalten durch die Geschichte von Lena Gilhaus‘ Vater. Da die Verfasserin Journalistin ist, hat mich das allerdings nicht überrascht. Ihre Ausführungen sind meist eher neutral und sachlich, nur manchmal blitzt etwas Emotion durch. Damit wird sie dem Thema aber durchaus gerecht und das Buch löste das bei mir aus, was es sollte: Entsetzen und tiefe Betroffenheit.
Eine absolute Lese-Empfehlung und von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 08.10.2023
Die dunkle Spur
Blackhurst, Jenny

Die dunkle Spur


ausgezeichnet

Jenny Blackhurst ist für mich inzwischen zu einer Garantin für spannende Thriller mit unerwarteten Wendungen geworden. Da macht „Die dunkle Spur“ keine Ausnahme. Ich bin praktisch durch die Seiten geflogen und es fiel mir schwer, das Buch ab und zu zur Seite zu legen. Ein absoluter Pageturner für mich.
Aber von vorn.
„Es ist, als wollte er einfach nicht glauben, dass hier auf der Insel irgendetwas Schlimmes passieren könnte. Weil wir ja im Paradies leben. Weil es hier vollkommen sicher ist. Weil wir der einzige Ort in den USA sind, wo die Leute immer noch ihre Türen offen lassen.“ Und ausgerechnet dort, auf Martha’s Vineyard, verschwindet die 22jährige Engländerin Holly. Sie und ihre Schwester Claire haben sich seit dem Tod ihrer Mutter ein bisschen auseinandergelebt, sind aber immer in Kontakt. Als Holly England verlässt, um als Backpackerin etwas von der Welt zu sehen, bekommt ihr Verhältnis Risse. Ein Telefonat zwischen den beiden endet im Streit, die beiden sind nicht nur räumlich dreitausend Meilen auseinander, sondern auch menschlich. Nach dem Telefonat herrscht Funkstille, Claire kann ihre Schwester nicht mehr erreichen und macht sich erst große Sorgen und sich dann auf den Weg auf die Insel nahe Massachusetts. Dort trifft sie auf mehr und weniger hilfreiche Menschen, vor allem die Polizei scheint kein Interesse daran zu haben, Holly zu suchen, die nach einer Party bei der Familie Slayton verschwunden ist. Haben die beiden Söhne der schwerreichen Familie etwas mit ihrem Verschwinden zu tun? Immerhin sind die Slaytons mit den Kennedys verwandt. Und hängt es irgendwie mit dem Tod der 15jährigen Natalie von vor fünf Jahren zusammen?
Was kann man zu dem Thriller sagen? Spannung. Massig! Gut ausgearbeitete Charaktere mit allen möglichen Schattierungen? Absolut. Wilde Wendungen in der Geschichte mit einem völlig überraschenden Schluss? Ja, wie man es von Jenny Blackhurst gewohnt ist. Ein unfassbar spannender Pageturner mit klaustrophobischem Insel-Setting und komplizierten zwischenmenschlichen Verhältnissen, Liebe, Hass, Schuld und mittendrin eine schwer reiche Familie, deren Sprösslinge zu glauben scheinen, sie stünden über dem Gesetz. Erzählt ist die Geschichte aus zwei Perspektiven, Claires Suche nach Holly im Hier und Jetzt und die Geschehnisse rund um Hollys Verschwinden am 4. Juli, was allem einen gewissen Pfiff gibt und die Handlung noch spannender macht.
Mir hat das Buch auf jeden Fall wieder einmal sehr gut gefallen und es macht Lust auf mehr. Daher vergebe ich fünf Sterne.

Bewertung vom 25.09.2023
Nach der Zeit
Johannsen, Anna

Nach der Zeit


sehr gut

Als großer Fan von Enna Andersen durfte ich mir die neue Serie von Anna Johannsen natürlich nicht entgehen lassen. „Nach der Zeit“ heißt das neue Buch der Autorin, im Mittelpunkt stehen Kommissarin Hanna Will und der Psychologe Jan de Bruyn – und natürlich ihr Fall. Wobei der an manchen Stellen für mich fast zu sehr zur Nebensache verkommt, bei so viel Privatem, das auch die beiden Ermittler einprasselt. Trotzdem ist es, wie ich es von der Autorin gewohnt bin, ein weitestgehend unblutiger, psychologisch hochspannender und unterhaltsamer Krimi.
Aber von vorn.
Zwei völlig unterschiedliche Männer um die 40 werden in der Lüneburger Heide tot aufgefunden. Erste Ermittlungen ergeben, dass es sich bei beiden nicht um den zuerst vermuteten Suizid handelt, sondern dass sie ermordet wurden. Weitere Nachforschungen zeigen, dass sich die beiden gekannt hatten, sie waren in ihrer Jugend befreundet gewesen. Und ihr Freundeskreis war noch größer, wie Hauptkommissarin Hanna Will und der Kriminalpsychologe Jan de Bruyn schnell feststellen. Sollten die beiden Morde zusammenhängen, sind dann noch mehr Menschen in Gefahr? Und wenn, was ist das Motiv dafür? Als Hanna und Jan der Lösung des Rätsels näherkommen, ist es auch schon fast zu spät.
Wer Anna Johannsen kennt, weiß, was ihn bei ihren Büchern erwartet. Üblicherweise präsentiert die Autorin gut durchdachte, erfreulich gewaltarme (die Gewalt passiert zwar, wird aber selten in brutalen Szenen geschildert) und äußerst angenehm zu lesende Krimis. Da macht auch „Nach der Zeit“ keine Ausnahme. Die Spannung des Buchs liegt nicht in offener Brutalität, sondern mehr im Unterschwelligen. Allein die Zusammenhänge herauszufinden, war für mich als Leser eine Herausforderung, da man immer nur so viel weiß, wie die Ermittler im Buch und sich seine eigenen Gedanken machen kann. Sprachlich ist das Buch ansprechend geschrieben und bis auf ein paar falsch gewählte Wörter habe ich auch keine Fehler gefunden.
Die Charaktere sind im zweiten Teil der Serie noch im Werden begriffen. Die Ermittler Hanna und Jan sind zwar schon ein bisschen plastischer als in Band 1, ihnen fehlt aber noch, wie man so schön sagt, „das Fleisch auf den Rippen“. Allerdings kam für mich in diesem Buch das Private zwischen den beiden Hauptcharakteren ein bisschen zu sehr zum Tragen, stellenweise verkamen die Ermittlungen neben allen persönlichen Problemen ein bisschen zur Nebensache. Daher ist der Spannungsbogen für mich auch nicht konstant vorhanden, geschweige denn, dass er konstant hoch wäre. Mit Hanna wurde ich auch bis zum Schluss nicht wirklich warm. Sie ist mir zu forsch und zu kantig, die ruhigere Art von Jan lag mir wesentlich mehr. Aber die beiden so gegensätzlichen Charaktere geben dem Krimi einen gewissen Pfiff.
Aber alles in allem war es ein solider Krimi mit zwei interessanten Hauptcharakteren, die handfeste Ermittlungsarbeit erledigen und ihren Fall zu einem stimmigen Schluss führen. Auch wenn sie bei mir zu Kopfschütteln führten, sind die Reibereien der beiden Ermittler mit den Kollegen gut und realistisch beschrieben. Was für ein Kompetenz-Gerangel! Unterhaltsam, stellenweise spannend und psychologisch interessant – so stelle ich mir gute Krimi-Unterhaltung vor. Punktabzug von mir für die vielen Exkurse ins Privatleben der Ermittler. Die sind zwar unterhaltsam, beeinträchtigen aber die Spannung für meinen Geschmack ein bisschen zu sehr. Eine unbedingte Leseempfehlung für alle Freunde unblutiger und ruhiger Krimis, die neben dem Fall noch eine ansprechende Landschaft mit vielen Heidschnucken zu schätzen wissen. Von mir gibt es vier Sterne und ich freue mich jetzt schon auf den nächsten Teil.

Bewertung vom 08.09.2023
Foellig nerdiges Wissen
Foell, Jens

Foellig nerdiges Wissen


ausgezeichnet

Ich liebe unnützes Wissen. Ich liebe Bücher über unnützes Wissen. Und natürlich liebe ich es, bei mehr oder weniger geselligen Zusammenkünften mit meinem unnützen Wissen hausieren zu gehen. Hach, was bin ich Jens Foell für sein Buch „Foellig nerdiges Wissen“ dankbar. Er hat meinen Vorrat an unnützen Fakten zu Wissen, das die Welt nicht braucht, um 42 (und ein paar mehr) aufgestockt und ich werde auch künftig der beliebteste Gesprächspartner auf Partys sein. Nicht.
Aber von vorn.
Hand aufs Herz. Wer weiß aus dem Stegreif Bescheid über die Kotbakterien, die in Jett bags auf dem Mond rumliegen, Naktmulle und die Substanz P, Bracewell-Sonden, Anterograde Amnesie oder Conways Spiel des Lebens? Das Naturwissenschaftliche Wissen vieler endet doch vermutlich spätestens bei Schleimpilzen, mein persönliches bei Chicxulub. Aber wollten wir nicht alle schon immer wissen, warum man sich am besten am Times Square trifft? Auch die Tatsache, dass John Wayne bei den Dreharbeiten zu „Der Eroberer“ einen Geigerzähler zu den Dreharbeiten mitbrachte war mir neu, und wieso hat das Buch überhaupt 42 Kapitel?
Jens Foell kannte ich schon vor der Lektüre seines Buchs als Kollege von Mai Thi Nguyen-Kim bei MaiThinX. Außerdem ist er promovierter Neuropsychologe und bekennender Nerd. Wobei Nerd für ihn nicht negativ behaftet ist, er besitzt einfach eine Leidenschaft für ein Thema (oder ganz viele Themen), bei dem andere den Kopf schütteln. So geht er auch in dem Buch vor. Locker flockig und in ansprechend angenehmer Sprache hüpft er bei seiner Art der Wissensvermittlung von Thema zu Thema und von Sachgebiet zu Sachgebiet. Trotzdem schafft er es, den roten Faden nie zu verlieren und seine Überleitungen zwischen den einzelnen Kapiteln sind an sich schon lesenswert. Man kann aus jedem seiner Sätze die Freude am Erklären herauslesen und Foell wirkt nie oberlehrerhaft oder überheblich.
So wird das Buch für alle, die Spaß an Wissen (nützlichem und wirklich unnützem, aber durchaus amüsantem) haben zur reinen Freude. Für mich war es auf jeden Fall so und die zahlreichen Anregungen für weiterführende Lektüre werde ich mir noch genauer anschauen. Auf dass ich auch künftig bei gesellschaftlichen Zusammenkünften ein Quell der Freude und des Wissens sein werde. Hach, das wird schön. Von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 04.09.2023
Johnny Cash: Meine Arme sind zu kurz, um mit Gott zu boxen (eBook, ePUB)
Huff, Matthias

Johnny Cash: Meine Arme sind zu kurz, um mit Gott zu boxen (eBook, ePUB)


gut

Johnny Cashs Musik und ich haben bislang nicht so richtig zueinander gefunden. Das hat sich durch „Walk the line“ (den Film mit Joaquin Phoenix) und auch durch die Lektüre von Cashs Autobiografie „Man in Black“ nicht geändert. So hatte ich für Matthias Huffs neues Buch „Johnny Cash: Meine Arme sind zu kurz, um mit Gott zu boxen“ große Hoffnungen. Die Glaubensreise des „Man in Black“, seine Texte und sein Leben eingeordnet in Bibelstellen – das klingt doch interessant. Aber so wirklich abholen konnte mich das Buch nicht. Und auch den Sänger selbst brachte es mir trotz seiner interessanten Facetten leider nicht näher.
Aber von vorn.
Johnny Cash ist eine Legende, an die sich die Welt auch nach seinem Tod als „Mann in Schwarz“ und „Vater des Landes“ erinnert. Er war tiefgründig, rätselhaft, unberechenbar, ein „Bada**, Kirchgänger und Pionier in Sachen drogengetriebenen Rock’n’Roll Tourvandalismus“. Oder, wie sein Kollege Kris Kristofferson es auf den Punkt bringt: „ein wandelnder Widerspruch, halb Wahrheit, halb Dichtung.“ Aus seiner Lebensgeschichte kennen die meisten vermutlich seine Drogensucht, seine Auftritte in Gefängnissen und seine Ehe mit June Carter. Aber natürlich war da noch mehr. 1932 geboren, ab dem Alter von zehn Jahren Baumwollpflücker, sein um zwei Jahre älterer Bruder Jack stirbt mit 14 Jahren, als er beim Bau von Zäunen für die Schule in eine Kreissäge gerät. Für Cashs Vater starb dabei der falsche Sohn, der vorbildliche Junge, der nachts die Bibel las und Prediger werden wollte. Aus Cash wurde erst ein Soldat, dann, nach der ehrenhaften Entlassung aus der Armee 1954 ein „erfolgloser Vertreter für Kühlschränke und andere Haushaltsgeräte“ (das wusste ich vor der Lektüre dieses Buchs nicht). Aus seiner Ehe mit Vivian gehen vier Töchter hervor, mit June bekommt er einen Sohn. Seine Musikkarriere startete 1955. Der Rest ist Geschichte.
Eine Geschichte voller Widersprüche, zumindest für mich. Das Leben des tiefgläubigen Christen, der in einer Kultur aufgewachsen ist, „die ein sehr ausgeprägtes Gefühl für den Unterschied zwischen Musik für den Samstagabend und den Sonntagvormittag hat“, war auch geprägt von Drogen und Alkohol. „Als ich wirklich schlecht war, war ich nicht nur schlecht. Als ich wirklich versucht habe, gut zu sein, konnte ich nie ganz gut sein. Durch mich ging immer diese schwarze Ader“, sagte Cash in einem Interview. Seine Abstürze sah er als „Gottferne“, nicht als Glaubenskrisen. Seine Texte sind gespickt mit Bezügen zur Bibel und seinen Glaubensgrundsätzen. Diese hat Matthias Huff unter die Lupe genommen und eingeordnet und das Ganze dann zu einer Art Biografie verarbeitet. Ich sage deswegen „eine Art Biografie“, weil das Buch für mich nichts Halbes und nichts Ganzes ist.
Es ist für mich eher eine riesige Fleißaufgabe mit vielen Zitaten und Bibelstellen und noch mehr Fußnoten im Anhang, eine Mischung aus Masterarbeit und Wikipedia-Eintrag, aber leider keine flüssig lesbare Biografie. Manchmal hatte ich das Gefühl, der Autor hat sich mit seiner Detailverliebtheit ein bisschen verrannt, sein Schreibstil war an manchen Stellen etwas holprig, ab und zu fehlte mir der rote Faden, dafür fand ich ein paar Fehler.
Allerdings gibt es auch etwas Positives, das allerdings nur indirekt mit dem Buch zu tun hat. Meine weiterführende Lektüre zur Person Johnny Cash hat mir den Musiker doch ein wenig nähergebracht. Auch wenn mir Johnny Cashs Musik nach wie vor nicht liegt, ziehe ich doch meinen Hut vor ihm als Person und vor allem auch vor seiner Frau June. Und die Tatsache, dass er im Drogenrausch Hotelzimmer schwarz angestrichen hat, lässt mich trotz aller Tragik immer noch schmunzeln (für die Hotelbesitzer war er allerdings eher ein Alptraum). Für dieses Buch hat es allerdings für mich nur zu drei Sternen gereicht.