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Volker Jentsch

Bewertungen

Insgesamt 50 Bewertungen
Bewertung vom 29.08.2014
Das Rosie-Projekt / Rosie Bd.1
Simsion, Graeme

Das Rosie-Projekt / Rosie Bd.1


weniger gut

Warum eine weitere Meinung äußern, wenn es schon so viele, vor allem ähnlich lautende gibt? Weil ich den weltweiten Enthusiasmus, der dieses Buch trägt, verbreitet und kommerzialisiert, nicht teilen mag. Und hier sind meine Gründe.
Die Konstruktion des Buches ist simpel. Die pseudo-wissenschaftliche, biologisch -psychologische Annäherung an die richtige Ehefrau erleidet Schiffbruch, und am Ende ist es die traditionelle romantische Liebe, die gewinnt. Für jedermann vorhersehbar. Anders herum wäre es möglicherweise interessanter gewesen: ein cleverer Fragebogen (intelligenter als der unsägliche "Questionnaire" des Buches) gekoppelt mit intelligenter Auswertung erweist sich der romantischen Liebe (die naturgemäß auf kürzere Zeiträume beschränkt ist) überlegen.
Der Held wird von Lesern, die sich vor Lachen biegen und Kritikern, deren Überschwänglichkeit keine Grenzen findet, als sozialunverträglich, scheu, eher ungeschickt gesehen. Ich finde, das Gegenteil ist der Fall. Er ist der Superstar, dem nichts mißlingt; er wirft die Angreifer zu Boden, bewährt sich als Barkeeper, ist ein Meisterkoch, ein tänzerisches Naturtalent, unter anderem, und er weiß genau, wie er Rosie gefallen kann; nämlich durch eine Art, die sich von Rosies Kneipen-Publikum deutlich absetzt. Und das ist, wie uns das Buch lehrt, doch nicht allzu schwer.
Im Übrigen: was das "Dating" betrifft, folgt Simsion der amerikanischen Methode, die ich für wenig fantasiereich, eher ziemlich abgestanden halte. Die Auserwählte wird stets zunächst einmal in ein teures Restaurant geladen, das beweist den sozialen Status des Werbers. Dort wird ihr reichlich Essen und vor allem Alkohol offeriert, das erzeugt die richtige Stimmung. Dann geht man zu ihr oder ihm, in der Absicht, das Ganze mit Sex zu komplettieren. Daß aus dieser Absicht im Rosie-Projekt zunächst nichts wird, ist der Konstruktion des Buches geschuldet und dürfte dessen Erfolg erklären. Dann wäre das Buch nämlich schon auf Seite 72 der Penguin Ausgabe zu Ende gewesen. Es hätten immerhin 270 Seiten gefehlt, die ich, trotzallem, nicht ungern zu Ende gelesen habe.

8 von 12 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.02.2014
Risiko
Gigerenzer, Gerd

Risiko


gut

In Gerd Gigerenzers (GG) Risiko Buch waren für mich die Seiten 209-2287 (deutsche Ausgabe Bertelsmann) die besten. Sie sollten in jeder Arztpraxis ausliegen. In diesen geht es um die richtige Bewertung von medizinischen Testergebnissen und den Nutzen von sogenannten Vorsorge-Programmen. Für den Patienten wie den unkundigen Arzt (der laut GG der Regelfall zu sein scheint) ist die graphische Darstellung der vier relevanten Gruppen, falsch positiv bzw. negativ und richtig positiv bzw. negativ (siehe Seite 225 oder 231) ganz gewiß hilfreich. Natürlich hängt die Wahrscheinlichkeit p, tatsächlich krank zu sein, wenn positiv getestet wurde, von mehreren Faktoren ab. Der wichtigste Faktor ist die Prävalenz (Anzahl der Erkrankungen pro Bevölkerung). Dieser ist in etwa proportional zu p, das heißt, je höher die Prävalenz, desto sicherer ist das Testergebnis. Unter den gegebenen Verhältnissen (geringe Prävalenz, hohe Sensitivität und vergleichsweise niedrige Zahl an falsch positiven Ergebnissen) kann folgende Faustformel nützlich sein:
p(krank|positiv) ≈ Prävalenz*Sensitivität/falsch-positive Rate. Aber Vorsicht: Es handelt sich um Wahrscheinlichkeiten. Der individuelle Fall mag ganz anders liegen, in den Bereich des Unwahrscheinlichen fallen. Deshalb ist die Rechnerei nur eine Entscheidungshilfe, aber keine Entscheidung, ob weiteren Maßnahmen bei positivem Befund zugestimmt werden soll. Das betont auch GG an mehreren Stellen.

Von diesen Spitzfindigkeiten abgesehen, ist die von GG geleistete Aufklärung über die Ahnungslosigkeit so vieler Ärzte von sehr großem Wert. Sie bestätigt meine eigenen Erfahrungen. Ob GG, wie vom Autor suggeriert, der erste ist, der das herausgefunden hat, kann ich nicht beurteilen, es würde mich aber wundern, angesichts der Bedeutung der Angelegenheit.

Die anderen Teile des Buchs fand ich weniger wichtig. Entscheidungen können intuitiv oder auf Grund von Informationen gefällt werden; wenn Informationen vorhanden sind, würde ich diese der Intuition vorziehen, die Frage ist aber, in welcher Weise und welcher Gewichtung. Dieses Dilemma löst auch GGs Buch nicht. Das Problem der falschen Entscheidung ist im Übrigen zumeist dem Mangel an Bildung, Erfahrung, Intelligenz und Unbestechlichkeit geschuldet. Das trifft auf alle Entscheidungsträger zu, in Wirtschaft, Politik oder Vereinen. An den Entscheidungen der Dirigenten sind, so vermute ich, deren Erziehung, Interessenlage, Glaubensrichtung, Tradition und Parteizugehörigkeit beteiligt. Unvoreingenommenheit und Verstand wohl eher nicht. Beide würden den Entscheidungen gut tun.
Gleich zu Anfang bringt GG übrigens das Problem mit der Regenwahrscheinlichkeit. Was bedeutet es, wenn der Wetterbericht eine dreißig Prozentige Regenwahrscheinlichkeit vorhersagt? GGs Interpretation halte ich nicht für erhellend. Wie ist es mit dieser: Die Wetterfrösche starten ihre Simulationen mit jeweils etwas verschiedenen Ausgangsdaten, die die Unsicherheit der Meßdaten wiedergeben. Sie erhalten dann verschiedene Resultate für den jeweiligen Vorhersagezeitraum: in drei von zehn Fällen signalisieren die Simulationen das Ereignis "Regen".

4 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.06.2013
Apostoloff
Lewitscharoff, Sibylle

Apostoloff


gut

Wenn es nur auf die Form ankäme, und wenn ich zu entscheiden hätte, würde ich Apostoloff noch einmal lesen. Weil Frau Lewitscharoff viele kleine und größere sprachliche Leckerbissen in ihre Erzählung eingestreut hat. Darunter die Beschreibung der Zwillinge Wolfi und Marco. Oder "die frisch geschlüpfte Geldgeneration" und "spatelförmige Nägel der parfümierten Sommerkellnerinnen". Frau Lewitscharoffs Spott ist gnadenlos, aber völlig in Ordnung. In dieser Hinsicht gibt es wenige, die ihr das Wasser reichen können. Auch nicht Eva Menasse, die in ähnlicher Absicht unterwegs ist. Allerdings erliegt auch Frau Lewitscharoff , leider, wie ihre Schriftsteller-Kolleginnen, nicht selten der Krankheit der sinnlosen Wort-Spielereien. "Dreck, Zwingdreck, Kraftdreck, Volldreck" habe ich stellvertretend für viele herausgegriffen, mit der sie die überwiegend monströse Denkmalkultur in Bulgarien zu geißeln versucht. Das sind nichts anderes als Zeilenfüller, in meinen Augen, das hätte sie nicht nötig. Sei's drum, es schmälert nicht den Wert der geglückten Szenen, wohl aber den Wert des Buches im ganzen.

Wenn es nur auf den Inhalt ankäme, und wiederum ich entscheiden dürfte, würde ich Apostoloff keinesfalls ein zweites Mal lesen. Schon beim ersten Mal hatte ich Mühe, bis zum Ende zu kommen. Die Exhumierung der Exilanten, davon betroffen vor allem der Vater, mit dem sie ganz offensichtlich Liebe und Haß verbindet; der sich dahin schleppende Konvoi; die endgültige (?) Bestattung in Bulgarien − all das ist an den Haaren herbeigezogen. Die Erzählung sagt mir wenig, sie bewegt mich nicht. Frau Lewitscharoff hat ihre Geschichte erfunden, um ein Buch zu schreiben. Besser anders herum: sie hätte ein Buch erfunden, um ihre Geschichte zu schreiben.
Aber ganz so einfach ist es nun auch wieder nicht. Auch wenn ich die Geschichte für mißglückt halte, so enthält sie doch einige schöne Szenen, die ich nicht vergessen werde. Dazu gehört, wenn die kleine Sybille dem Vater die Zeitung vorliest und noch gar nicht lesen kann. Das Bild ist so schön, das läßt sogar das Gift vergessen, das sie von Anfang bis zum Ende über den Vater ausgießt, was nicht völlig abwegig erscheint, wenn er nach der Devise "Bitte mich zu entbehren", wie im Buch angegeben, sich aus dem Leben stiehlt. Angemerkt: die Geschichte mit ihren Eltern ist ganz und gar nicht "erzkomisch", wie das der lächerliche Klappentext des Buches verzeichnet, sondern im Grunde ziemlich ernst und traurig.

Wenn Frau Lewitscharoff ihre Messer an unserer Gegenwart wetzen und dabei auch die Dirigenten nicht verschonen würde, unter denen wir alle leiden, das wäre doch was. Wir brauchen ihre Fantasie, ihren Witz, Ernst und Mut für Kolumnen, die aus der Reihe tanzen. Vielleicht schreibt sie schon daran. Ich jedenfalls wünschte es mir.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.06.2013
Tand
Erpenbeck, Jenny

Tand


weniger gut

Ich kann mir nicht helfen, aber wie kommt Jenny zu so vielen Preisen? Ihr Portrait in Wiki strotzt nur so von Auszeichnungen. Zugegeben, ich bin ein Dilettant, wenn es um Literatur geht. Und ich gebe gern zu, dass ich ihre Geschichten, die sie oder der Herausgeber im mit Tand betitelten Büchlein vorgelegt hat, jeweils bis zum bitter-trivialen Ende gelesen habe. Aber was habe ich, außer der Anleitung zur Teilnahmslosigkeit, mitgenommen? Zwei Geschichten, eine davon nennt sich Eisland. Dort wird der unbedeutende Zustand einer nach Island verschlagenen Polin mit zahlreichen höchst einfallsreichen Sätzen aufgewertet. Die andere, mir erhalten gebliebene: in Sibirien offenbart der Vater sein Beziehungsdrama in indirekter Rede. Die Darstellung finde ich ungewöhnlich, weil die Formulierungen geschickt verbergen, was sich gleichwohl erahnen lässt: wie schwer der Konflikt gewogen haben muß, als die zurückkehrende Mutter den wie sie glaubt, ihr zustehenden Platz zurück erobert. Das gleiche Verfahren, das der versteckten Anteilnahme, geht bei den anderen Geschichten gründlich daneben. Da wird es zu einer Anleitung zur Teilnahmslosigkeit. Gähnende Langeweile hat mich heimgesucht. Es sind vor allem die forcierten Bilder, die nicht passen, ganz besonders auffällig in Atropa bella-donna, die leblose Geschichte einer verschmähten Zuneigung. Schrecklich, wenn sinngemäß „das Blut so heiß aus meinem Körper läuft, die Schale ineinander verkracht ist, Augen, die sich wie zwei Segel zusammenfalten, innerlich etwas aus mir kippt, eine wüste Stelle im Inneren, ein Nichts, das jedoch großen Raum beansprucht.“ Dies und viel, viel mehr ist nichts anderes als aufgeblasener Quatsch. Schade, ich glaube, mehr Bescheidenheit ihrer Bilder, weniger Salto mortale würde Jenny Erpenbecks Talent viel besser entfalten.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.04.2013
Klassenbild mit Walter Benjamin
Brodersen, Momme

Klassenbild mit Walter Benjamin


gut

Eine bemerkenswerte Klasse, 22 Abiturienten, 13 davon jüdisch, davon 9 emigriert und vier ermordet. Walter Benjamin endete mit Selbstmord. Er wurde wohl wegen seiner Bekanntheit im Titel aufgenommen, im Buch bekommt er nicht die Hauptrolle; das Interesse des Autors verteilt sich gleichmäßig und wie ich meine, zu Recht auf die 22 Männer. 14 von den 22 wurden promoviert oder habilitiert. Gefallen im ersten Weltkrieg 5, schwer verwundet 5. Das ist die Statistik, ob sie zu hundert Prozent stimmt? Ich bin mir dessen nicht sicher, das Buch gibt dazu keine Übersicht und auch keine Hilfe, es ist in dieser Hinsicht alles andere als wohlgeordnet. Und doch ist es das erste, was ich mich gefragt habe, angesichts der besonderen Zeit, die solche Statistiken geschaffen hat.
Ursprünglich fast alle eher vaterländisch orientiert, der Kaiser-Zeit entsprechend, trennt sich die Haltung der jungen Männer, überwiegend durch die Hitler-Zeit erzwungen. Sonst wären sie ziemlich sicher alle in Deutschland geblieben.
Eigentlich eine interessante Thematik: verfolge das Leben von Männern, die in einer streng regulierten Zeit, der Zeit vor Ausbruch des ersten Weltkriegs, das Abitur gemacht haben. Frage dann: Was ist aus den einzelnen geworden? Wie stimmen die Karrieren der Schüler mit den Einschätzungen überein, die diese voneinander hatten? Welchen Einfluß hatten die Umgebung, die Erziehung, die Lehrer, die Eltern? Welchen Einfluß hatten die Schüler im Umgang miteinander? Was kam von innen, was von außen? Alle sind im herkömmlichen Sinne beruflich etwas geworden, trotz oder wegen der strengen, dem Individuum nicht viel Raum lassenden Schulausbildung? Oder ist all das irrelevant, angesichts der Totalität, mit der die Hitlerzeit in diese Männer gefahren ist?

Schwere Fragen, zugegeben. Denn woher die Informationen nehmen? Sie bleiben im Buch, wohl eher notgedrungen, höchst unvollständig. Was der Autor auch immer wieder bedauert. Der Mangel der Erzählung: 1) Sie hätte geordneter vorgebracht werden können. 2) Nur wenige der oben genannten Fragen sind beantwortet, teilweise nicht einmal erörtert worden. Die Antworten würden sicher auf großes Interesse stoßen. Zwar hat der Autor, wie der Anhang ausweist, eine Menge Literaturrecherche gemacht und vermutlich Archiven und Bibliotheken viele Besuche abgestattet. Brodersens "Spurensuche" war nicht übermäßig erfolreich. Die Spuren reichen nach meiner Überzeugung nicht, um daraus ein Buch mit Tiefgang zu machen.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.03.2013
Die Nacht der Physiker
Schirach, Richard von

Die Nacht der Physiker


sehr gut

Ein Buch, das über die Verstrickungen deutscher Wissenschaftler in den beiden Weltkriegen Zeugnis ablegt. Die nach dem Exodus der jüdischen Wissenschaftler übriggebliebenen deutschen Physiker und Chemiker scheitern, wissenschaftlich wie moralisch, am Bau der Bombe. Davon wird in diesem Buch ausführlich, und unter Bezug auf echte Quellen, glaubwürdig erzählt. Aber auch der Chemiewaffeneinsatz des ersten Weltkriegs kommt zur Sprache, und da sehen Hahn und Franck, beide Nobelpreisträger, unter anderen, gar nicht mehr so gut aus, wie das die offizielle Sprachregelung immer wieder versichert hat. Ein Verdienst des Buches, vor solchen Offenlegungen nicht zurückzuscheuen.
Wer wollte es den Forschern verdenken. Der Forscher ist einer der Ehrgeizigsten weit und breit; er will der erste sein, der den Mechanismus versteht, das Gerät bauen kann; dem ersten gebührt der Ruhm, und der ist ihm ebenso wichtig wie die Erkenntnis. Dann kann es auch eine Bombe sein, insbesondere, wenn diese den Krieg vorzeitig beenden hilft. Auf der einen wie der anderen Seite klingen die Argumente ähnlich, aber natürlich mit verschiedenen moralischen Gewichten.
Das wird in diesem Buch klar herausgearbeitet. Sicher ist vieles längst bekannt, aber in der Zusammenstellung, wie vorgelegt, ist vermutlich das eine oder andere auch noch nicht bekannt, erscheint in etwas anderem Licht. Ich war erstaunt, welche Rolle Erich Bagge damals gespielt hat; er war später einer der prominenten Verfechter der Kernenergie und somit beliebte Zielscheibe der Anti-AKW-Bewegung. Schon pensioniert, aber immer noch ziemlich einflussreich, als ich an sein Institut kam. Ein wissenschaftlich wie körperlich raumfüllender Mann. Jedenfalls fand ich ihn nicht unsympathisch, und es passt zu dem, was ich nicht wusste und erst aus Schirachs Buch erfahren habe.
Die Fotos im Buch sind hilfreich, es hätten sogar mehr sein können. Ein Buch, das zu lesen sich lohnt.

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.03.2013
Quasikristalle
Menasse, Eva

Quasikristalle


sehr gut

Eva Menasses „kleiner Stern“ (laut Wikipedia die Übersetzung von „Roxane“) ist eigentlich ein großer Stern, von der Natur reichlich beschenkt, mit begehrten Eigenschaften ausgestattet – eine attraktive Frau, die „Berge gebrochener Herzen“ hinterläßt, außerdem erfolgreich im Beruf und in der Ehe, ehrgeizig, „100%ig“, mütterlich und von ihren Freundinnen beneidet, kurzum, irgendwie unwiderstehlich. Sie taucht als Xane in allen 13 Kapiteln auf, manchmal überraschend, manchmal vorhersehbar. Jedes der Kapitel kommt mit einer etwas anderen Sicht auf Xane, jedes für sich leicht lesbar, weil die Verknüpfungen mit den anderen eher lose sind. Aber auch lesenswert? Ich finde ja, fünf davon auf jeden Fall, nämlich 3,4,5,10 und mit Einschränkung auch 11, interessanterweise sind es diese, in denen Xane nicht die beherrschende Figur ist. Am stärksten beeindruckt hat mich Kapitel 5, in dem eine der inzwischen so zahlreichen Reproduktionsfabriken im Mittelpunkt steht. Das Wunschkind lässt auf sich warten, der Gang zur Reproduktion wird dann für viele zur Qual der Wahl; für die eine ist er Endstation Sehnsucht, für die andere das Tor zum Paradies. Frau Menasse erzählt über beide Möglichkeiten, und sie tut es, so scheint mir, mit großer Detailkenntnis und Meisterschaft.

Kapitel 2 fand ich dagegen richtig schlecht, die Hinrichtungsstätte der Juden und das Turteln von Xane und dem Reiseführer (der natürlich Professor ist, es gibt zu viele Professoren in diesem Buch) passen nicht gut zusammen; ich finde, entweder das eine oder das andere, auch wenn es im Leben die absonderlichsten Verbindungen gibt.

Tatsächlich geht es in allen Kapiteln um die Beziehung zwischen Mann und Frau, also vor allem um Xane und ihre Männer, aber auch um Viola, Sally, Krystyna etc. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass ich vieles davon schon einmal oder mehrmals woanders gelesen habe. Das ist nicht schlimm, angesichts des Allerwelts-Themas. Dennoch: Frau Menasse regt an, die jeweilige Szene nochmals vor dem eigenen Hintergrund zu überdenken. Es ist trotzdem nicht der Inhalt, der das Buch heraushebt, sondern es ist ihre Formulierungskunst: die überraschenden Wortzusammenstellungen, ihr spielerischer Umgang mit der deutschen Sprache. Aber hat sie dabei gelegentlich nicht doch etwas übertrieben? Was zum Beispiel ist ein milchiger Blick? ein verrutschtes Lachen? eine übergriffige Hilfsbereitschaft? ein Ich-Ich Geschrei? usw.

Was den Titel betrifft: auf „Quasikristalle“ muß man erst mal kommen, sie war sicher stolz auf ihren ungewöhnlichen Einfall; aber ich finde ihn nicht sonderlich passend, Xanes Leben hat nichts mit Kristallen zu tun, auch nicht im übertragenen Sinn, wie der Klappentext mit zehn Zeilen Text zu suggerieren versucht; der Kristall, egal wie ungeordnet, ist geronnene Substanz, enthält gerade nicht die Dynamik, auf die es Frau Menasse ankommt; die sich etwa in den Abweichungen des Lebens von der Geradlinigkeit manifestiert. Ein bisschen verrutscht, der Kristall. Dennoch: vier Sterne allemal für den kleinen Stern, auch weil mir Evas Portrait so gut gefallen hat.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.03.2013
Kanada
Ford, Richard

Kanada


sehr gut

Ich mag die amerikanischen Familienromane, wie z.B. die Bücher von John Irving „Last night in twisted river“ oder „The world according to garp“; oder „Freedom“ von Jonathan Frantzen. Auch wenn sie überlaufen von konstruierten Situationen, in denen Sex und Gewalt dominieren. Das macht sie bis zu einem gewissen Grade auch wieder unerträglich. Aber sie langweilen mich nicht, und es gibt immer etwas, finde ich, das herausragend beschrieben wird und über das nachzudenken sich lohnt. Im Gegensatz zur neueren deutschen Literatur der jüngeren Generation, die mich nichts anderes als überwiegend langweilt.

Mir gefällt, ganz im Sinne des Vorangehenden, auch das Buch „Canada“ von Richard Ford, das ich in Englisch gelesen habe. In diesem Buch halten sich Sex und Gewalt in Grenzen; aber es ist ähnlich unwirklich wie Irvings Geschichten:
Die ungleichen Eltern rauben eine Bank aus, um ihre Ehe-Probleme zu lösen; der Mann um mit dem Geld die Ehe aufrecht zu erhalten, die Frau um mit dem Geld die Ehe zu beenden und zusammen mit ihren Zwillings-Kindern ein neues Leben zu starten. Der Bankraub mißlingt, weil dilettantisch vorbereitet, die Eltern müssen ins Gefängnis und die Zwillinge werden getrennt. Der Junge mit dem eigentümlichen Vornamen Dell ( ich mußte immer wieder an den Computer Hersteller denken) wird vor dem Zugriff des amerikanischen Jugendamtes in Canada verborgen gehalten, lebt dort in einer Hütte („shack“) und muß als Kind eine andere, aber nicht bessere Welt als im Haus der Eltern akzeptieren; das Mädchen mit dem eigentümlichen Vornamen Berner setzt sich ab und lebt bis zu ihrem Ende ein unglückliches Leben in unübersichtlichen Verhältnissen.

Eigentlich kann das, was Ford erzählt, so nicht passieren, und doch habe ich beim Lesen die Geschichte als Realität empfunden, wie das? Ich glaube, weil die Gestalten selbst, allesamt skurrile und randständige Erscheinungen, eine Wirklichkeit aufbauen, die mit der tagtäglichen wenig zu tun hat, aber eine mögliche Variante derselben sein könnte.
Und sehr zu Herzen geht. Die Szene, als die Geschwister die Eltern im Gefängnis besuchen und zumindest ahnen, dass sie sich nicht wieder sehen werden (Kap. 36+37), diese Szene ist herzzerreißend. Fords Dialoge im Gefängnis spiegeln die ganze Vergeblichkeit, Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit, die dieser Familie innewohnt, und es ist die Dürre in seinen Worten, diese unsägliche Dürre, die die Reduziertheit der Gefühle in der Familie glaubwürdig vermittelt. Gefühle wollen hochkommen, aber sie können sich nicht entfalten, denn sie haben keine Basis, die Beziehungen zwischen den Kindern und Eltern geben nichts her, sie sind, trotz gelegentlich verzweifelter Anstrengungen, nur Fragmente, denen das Gemeinsame fehlt.
Was dann folgt, die Entwicklung von Dell in Canada in einer wiederum skurrilen, umgedrehten Gesellschaft, halte ich für schwächer; vielleicht weil kaum mehr von Berner die Rede ist, die ich für die stärkere Figur des Romans halte.
Zum Schluß dann noch einmal Lebensweisheit; Ford sagt (sinngemäß): „toleriere den Verlust, dann hast du eine bessere Chance, zu überleben. Erhalte das Gute, auch wenn es schwer zu finden ist. Wir alle versuchen es.“
Ich habe es auch versucht, zum Beispiel mit „Canada“. Aber dort das Gute zu finden ist tatsächlich nicht leicht. Ich fand eher das Böse, aber wie tröstlich, dass es eben doch nur das Böse in Fords Buch ist.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.03.2013
Die Fünf
Jabotinsky, Vladimir

Die Fünf


sehr gut

Das schönste an dem Buch ist dessen handwerkliche Seite: Einband und Schriftbild sind, wie so oft in "Die Andere Bibliothek" den anderen Büchern überlegen. Das Buch lebt von der Leichtigkeit, mit der Vladimir Jabotinsky die Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts fließen lässt. Die jüdische Familie Milgrom besteht aus skurrilen Figuren, davon haben es zwei dem Autor besonders angetan: Die umwerfende Marussja, die mit ihren zahlreichen Verehrern, den so genannten Passagieren, ein etwas ungewöhnliches Spiel treibt und ihr Bruder Serjosha, der um keine Pointe verlegenen ist. Beide nehmen das Leben wie es kommt, aber wie so oft bei solchen Charakteren, liegt dahinter eine morbide Melancholie, die am Ende des Buches, bei den beiden und eigentlich allen anderen Angehörigen der Familie, mit Ausnahme des Vaters vielleicht, zum Durchbruch kommt und auf ein bitteres Ende zusteuert.
Das eindrücklichste Kapitel ist das "eingeschobene" Kapitel 14, das gefällt mir besonders gut, in diesem wird die Natur um Odessa aufungewöhnliche Weise vorgestellt.
Wer sich von der Atmosphäre des Um- und Aufbruchs in Russland und Europa um 1900 einfangen lassen will, der sollte zu diesem Buch greifen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.