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Monsieur
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Amorbach

Bewertungen

Insgesamt 42 Bewertungen
Bewertung vom 29.08.2024
Zwei in einem Leben
Nicholls, David

Zwei in einem Leben


sehr gut

Zwei auf Wanderschaft

David Nicholls ist mit seinen Romanen, auch wenn sie vorrangig das Ziel der Unterhaltung verfolgen, immer wieder eine gute Wahl, denn sein Gespür für Charaktere und Dialogwitz machten bereits Bücher wie "Zwei an einem Tag" oder "Drei auf Reisen" zu einem besonderen Leseerlebnis.
Bei Fischer Krüger erscheint nun sein neuer Roman "Zwei in einem Leben", wobei bereits beim deutschsprachigen Titel abzusehen ist, dass der Versuch unternommen wird, an frühere Erfolge anzuknüpfen. Die Konstruktion der Geschichte ist typisch für Nicholls, alles dreht sich um zwei Hauptcharaktere, eine Frau und einen Mann, Marnie und Michael. Beide befinden sich in ihren mittleren Jahren und durchleben derzeit eine Art Krise. Marnie, die als selbstständige Lektorin arbeitet, ist seit der Trennung von ihrem Ehemann vereinsamt und verbarrikadiert sich zunehmend in ihrer kleinen Wohnung, trifft kaum noch Freunde oder Bekannte, und erwischt sich hin und wieder dabei, wie sie mit ihren Einrichtungsgegenständen spricht. Ihre Lebenssituation wird wunderbar spezifisch geschildert, es werden nicht nur banale Klischees formuliert, mehr noch wird ihre Einsamkeit mit vielen zutreffenden Details ausgeschmückt.
Der zweite Protagonist Michael, ein Erdkundelehrer, lebt ebenfalls getrennt von seiner Lebensgefährtin, doch das Leben als Alleinlebender stellt für ihn eine Herausforderung dar, weil auch er von Einsamkeit und Zweifeln geplagt wird.
Bei einer gemeinsamen Gruppenwanderung treffen diese beiden Einzelgänger zufällig aufeinander. Ihr ersten Konversationsversuche sind zögerlich und unbeholfen, doch mit einer zunehmenden Zahl gewanderter Meilen beginnen sie, sich einander zu öffnen, und vertrauen sich schon bald sogar ihre Sorgen an. Je vertrauter der Umgang miteinander wird, desto stärker werden auch die Gefühle, die sie füreinander hegen. Der Aufbau des Romans lässt ihrer Beziehung viel Raum zur Entwicklung, die beiden Hauptfiguren nähern sich einander nur langsam an, und nicht zu jedem Zeitpunkt der Geschichte ist abzusehen, wer von den beiden, wenn überhaupt, sich einen weiteren Schritt voran wagen wird.
Vieles von dem, was man an David Nicholls Romanen schätzt, lässt sich in "Zwei in einem Leben" wiederfinden. Zum einen sein Händchen für die Protagonisten, immer wieder gelingt es ihm, bei der Beschreibung ihres Innenlebens den Nagel auf den Kopf zu treffen, ihre Gefühle und Gedanken werden so glaubhaft dargestellt, dass beim Lesen nahezu der Eindruck entsteht, der Autor habe reale Menschen porträtiert. Vor allem zu Beginn der Geschichte sind die Dialoge spritzig, pointiert und teilweise komisch, hier sticht Nicholls‘ Erfahrung als Drehbuchautor durch. Zudem ist er in der Lage, die Stimmungslage zu variieren, denn je näher Marnie und Michael sich kommen, desto tiefsinniger werden auch ihre Gespräche, anstatt einer Prise Humor, sind ihre Unterhaltungen dann von einer untergründiger Melancholie durchzogen, ebenso von neu erweckter Hoffnung. Nur die wenigsten von Nicholls‘ Autorenkollegen können Dialoge auf diesem Niveau schreiben, das ist zu würdigen.
An "Zwei an einem Tag" oder "Drei auf Reisen" kann Nicholls neuer Roman jedoch nicht heranreichen, das mag zum einen am Thema liegen. Die Chronik einer Wanderung bei englischem Wetter birgt zwar viel Potenzial für ruhige Momente, jedoch bietet der Wechsel zwischen englischen Ortschaften weniger Abwechslung als eine Tour quer durch Europa wie in "Drei auf Reisen". Und die Themen Alleinsein und Einsamkeit sind vom Autor an sich zwar gekonnt umgesetzt worden, jedoch fehlt vor allem in der zweiten Hälfe des Romans an einigen Stellen die Interaktion mit weiteren Figuren, weil Marnie und Michael zunehmend nur noch mit sich selbst beschäftigt sind. Womöglich hätte die Einführung eines zweiten Themengebiets die Geschichte noch etwas abwechslungsreicher gestaltet und somit für den letzten Rest Tiefgang gesorgt, den Nicholls Vorgängerromane nicht vermissen lassen. Dennoch bietet "Zwei in einem Leben" als Unterhaltungslektüre eine gelungenen Mischung aus Humor und Welterfahrenheit, nach der auf der Suche nach einer Romanze bevorzugt gegriffen werden sollte, als nach manch anderem Machwerk dieses Genres.

Bewertung vom 19.08.2024
Die Gräfin
Nelles, Irma

Die Gräfin


gut

Gräfin Diana

In ihrem Romandebüt "Die Gräfin" webt Irma Nelles eine kurze Erzählung rund um Diana von Reventlow-Criminil. Die mittlerweile achtzigjährige Gräfin lebt zurückgezogen auf der Hallig Südfall, ihrer Wahlheimat, wo sie vom Zweiten Weltkrieg weitestgehend unbehelligt bleibt. Im Sommer 1944 jedoch stürzt der englische Pilot John Philip Gunter während eines geheimen Flugauftrags ins Wattenmeer. Die Gräfin quartiert den Verletzten bei sich ein, versteckt ihn, wohl wissend, dass es ein schweres Vergehen ist, einen Feind zu beherbergen. Dank Dianas Englischkenntnissen findet sie schnell Zugang zu dem fremden Piloten, und ihre gemeinsamen Interessen verbinden sie miteinander. Jedoch sind sie unfähig, einander vollends zu vertrauen. Und auch an Dianas Hausbediensteter Meta findet der Pilot gefallen.
Wie dem Autorentext zu entnehmen ist, waren Anekdoten über die Gräfin Diana in Irma Nelles‘ Kindheit keine Seltenheit. Nun hat die Autorin ihr ihren ersten Roman gewidmet, ebenso hat sie die auftretenden Figuren nach realen Vorbildern gestaltet. Wahre Begebenheiten zu beschreiben, das scheint der Autorin zu liegen, denn vor allem in der Ausarbeitung der Protagonisten kann der Roman überzeugen. Diana als Heldin ist in vielerlei Hinsicht interessant. Auf der einen Seite sehnt sie sich nach Zurückgezogenheit, verbarrikadiert sich auf ihrer Hallig vor der Außenwelt. Sie verbringt ihre Tage lieber mit ihren Büchern, als mit ihren Mitmenschen. Gleichzeitig ist sie jedoch voller Empathie und setzt sie sich für Verfolgte ein. Trotz aller Gefahren verhilft sie Flüchtlingen nach Dänemark, um sie vor den Nazis zu retten. Ebenfalls gut gelungen sind der Autorin Dianas Bedienstete. Maschmann zum Beispiel, der im Gegensatz zu seiner Arbeitgeberin aus armseligen Verhältnissen stammt und seit seiner Jugend hart schuften musste. Erst bei ihr auf der Hallig ist er zufrieden mit seinem Leben, denn er fühlt sich wertgeschätzt und gerecht behandelt. Dass er ausschließlich plattdeutsch spricht, stellt jedoch die Nervenstärke des Lesers auf die Probe.
Während die Charaktere und ihr Beziehungsgeflecht gekonnt umgesetzt werden, lässt die Erzählweise jedoch auf eine gewisse Unerfahrenheit schließen. Vor allem zu Beginn hat die Autorin sichtlich Mühe, die Geschichte in Gang zu bringen und die Figuren in die Handlung einzuführen. Wenig galant wird die Wesensart der Figuren gleich bei ihrem ersten Auftreten umfänglich beschrieben, anstatt ihre Eigenschaften durch ihr Verhalten im Fortlauf der Handlung zu illustrieren. Zudem wirkt der Schreibstil insgesamt unausgereift. Die Autorin ist um eine präzise Sprache bemüht, allerdings fehlen dabei häufig fließende Übergänge zwischen den Sätzen, die dadurch teilweise wie lieblos aneinandergereiht wirken. Hier wird viel Potential verschenkt. Nicht auszudenken, was dieser kurze Roman leisten könnte, wenn er besser geschrieben wäre.
Hinsichtlich des Themas und der Protagonisten ist "Die Gräfin" trotzdem ein charmanter kleiner Roman. Auch die Länge ist von knapp 160 Seiten ist gut gewählt. Diese Geschichte auszudehnen hätte nur geschadet.

Bewertung vom 19.08.2024
Reise nach Laredo
Geiger, Arno

Reise nach Laredo


sehr gut

Ehemaliger König auf Wanderschaft

Nach langem Warten erscheint wieder einmal ein Roman des österreichischen Schriftstellers Arno Geiger, dessen Werk im Allgemeinen als vielseitig angesehen werden kann. Mit "Reise nach Laredo" veröffentlicht er jedoch seine bisher ungewöhnlichste Geschichte, die im 16. Jahrhundert spielt.
Die ersten knapp vierzig Seiten, eine Art längerer Prolog, erinnern beinahe an Bücher von Gabriel García Márquez, etwa "Der Herbst des Patriarchen" oder "Der General in seinem Labyrinth", in denen ein bejahrter Regent auf seine einstige Herrschaft zurückblickt. Geigers Protagonist Karl, ein ehemaliger Kaiser und König, hat sein Amt niedergelegt und sich in ein Kloster zurückgezogen. Alt und krank erwartet er nicht mehr viel vom Leben. Literarisch bildet dieser Einstieg in den Roman den stärksten Teil des Buches, sowohl sprachlich, als auch inhaltlich. Karl wird als ein altersschwacher Mensch dargestellt, der ohne seine einstige Macht nur noch ein Schatten seiner selbst ist, und mit seinem gebrechlichen Körper kämpft. Seit der Niederlegung der Krone unterscheidet ihn nichts mehr von anderen Männern seines Alters, mit dem Verlust der Macht sind auch seine angeborenen Privilegien entschwunden, und seine Mitmenschen verhalten sich ihm gegenüber nicht mehr mit der zeitlebens gewohnten Ehrerbietigkeit.
Eines Nachts entschließt sich Karl zur Flucht. Gemeinsam mit dem elfjährigen Jungen Geronimo begibt er sich auf eine Reise, dessen erklärtes Ziel die Stadt Laredo ist. Ähnlich wie in Stephen Kings "Der dunkle Turm" ist der eigentliche Zweck des Zielorts kaum definiert. Vielmehr geht es um die Reise an sich, und um die Abenteuer, die Karl und Geronimo währenddessen erleben. Begleitet werden sie schon recht bald von dem Wegführer Honza, sowie dessen Schwester.
Mit dem Antritt der Reise verlässt der Roman nicht nur das Kloster, sondern weitestgehend auch ein sattelfestes literarisches Gebiet. Magische Reisebeschreibungen sind vor allem in der Fantasyliteratur zu finden oder Bestandteil locker fröhlicher Roadmovies- bzw- bücher, beides Genres, die mir persönlich nicht im mindesten zusagen. Auch Arno Geiger bedient sich üblicher Komponenten dieser Genre, thematisch geht es um Freundschaft, Zusammenhalt, der Suche nach Glück, aber auch Tod und Verlust.
Wie bei nahezu allen Romanen Geigers bleibt am Ende der Lektüre die Frage offen, was der Autor dem Leser mitzuteilen versucht. Der Text ist flüssig zu lesen, phasenweise unterhaltsam, und das Zweigespann aus Karl und Geronimo kann verzaubern. Darüber hinaus ist jedoch nur wenig Mehrwert zu erkennen, vor allem in literarischer, wenn gar intellektueller Hinsicht. Als Kunstwerk ist die Geschichte durchaus vielversprechend angelegt, die Handlungswelt wirkt magisch aufgeladen, das Lesen bereitet Freude, und die einzelnen Stationen der Reise werden bildreich beschrieben; nur wirkt die Handlung dabei vor allem im Mittelteil äußerst inhaltsleer und belanglos. Das Niveau der ersten Seiten kann nicht gehalten werden und entwickelt sich zu einem Abenteuerroman für ein breites Publikum.
Weiterhin ist "Unter der Drachenwand" Arno Geigers stärkster Roman. Wie die restlichen Bücher seines Werks ist "Reise nach Laredo" zwar durchaus lesbar und vergnüglich, aber als Beitrag zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vernachlässigbar.

Bewertung vom 01.08.2024
Die Legenden der Albae - Dunkles Erbe
Heitz, Markus

Die Legenden der Albae - Dunkles Erbe


weniger gut

Mit "Die Legenden der Albae: Dunkles Erbe" ergänzt Markus Heitz seine Geschichte des finsteren Volks um einen weiteren Band. Es ist mein erstes Buch von diesem Autor und womöglich auch mein letztes, denn es konnte mich überhaupt nicht abholen. Womöglich ist es sogar der Grund, dass ich mich fortan endgültig von dem Fantasygerne fernhalte. Auch Autoren wie Terry Pratchett etc. konnten mich wenig begeistern; den Gipfel bildet nun jedoch Markus Heitz. Vor allem sein Schreibstil ist gewöhnungsbedürftig, viel zu simpel in der Satzstruktur und dialoglastig wie ein Drehbuch, wobei die Figuren sich äußerst gestelzt und unglaubwürdig ausdrücken. Manche Diskussionen drehen sich im Kreis und werden unnötig in die Länge gezogen. Problematisch sind auch die Charaktere, die mich nicht in ihren Bann ziehen konnten. Womöglich ist es für Leser, die bereits mit den Vorgängerromanen vertraut sind, um einiges leichter, sich mit den Figuren zu identifizieren. Mir als Neuling war es jedoch unmöglich, nur ansatzweise in ihre Gefühlswelt einzudringen, jeder von ihnen blieb bis zum Ende leblos und eindimensional. Somit muss die Notwendigkeit dieses Fortsetzungsbandes in Frage gestellt werden, denn offenbar gelingt es dem Autor nicht, neue Aspekte seiner Figuren zum Vorschein zu bringen.
Einsteigern in die Fantasyliteratur ist dieses Buch nicht zu empfehlen. Wer mit der Erzählwelt rund um die Albae bereits vertraut ist, wird der Geschichte vielleicht das ein oder andere abgewinnen können.

Bewertung vom 27.07.2024
Man sieht sich
Karnick, Julia

Man sieht sich


gut

Über fünfzig Jahre

Über eine längere Zeitspanne hinweg, vom Jungsein bis zum Älterwerden, erzählt Julia Karnick die Geschichte von Friederika (genannt Fri) und Robert. Als Schüler treffen sie sich zum ersten Mal, doch nach ihrem Abschluss gehen die beiden unterschiedliche Wege. Die Autorin beschreibt das Leben von zwei Menschen, die wohl gemeinhin als gewöhnlich angesehen werden dürfen, denn ihr Werdegang ist keinesfalls einzigartig. Fri möchte nach der Schule schnellstmöglich von zuhause weg. Nach einem längeren Auslandsaufenthalt ist sie als alleinerziehende Mutter dazu gezwungen, ihr Jurastudium abzubrechen. Robert indes schlägt sich als Musiker durch, doch der erhoffte Erfolg lässt auf sich warten. Beide sind verstrickt in ihre alltäglichen Probleme, kaum etwas läuft nach Plan. Unerwartete Schwierigkeiten ereignen sich, aber auch die eine oder andere glückliche Fügung, vor allem für Robert.
Sich ein Leben wie das von Fri und Robert auszumalen ist nicht schwierig, denn es unterscheidet sich in seinen Eckpunkten kaum von dem eines beliebigen Passanten, dem man auf der Straße begegnet. Beim Leser stellt sich demnach die Frage, weshalb man über 458 Seiten hinweg den Alltag zweier derart gängigen Charaktere mitverfolgen sollte. Der Großteil der Leserschaft dieses Romans entstammt womöglich derselben Generation wie die beiden Protagonisten, die somit ihr Vergnügen damit haben werden, sich selbst in Fri und Robert wiederzufinden - vor allem in der Erzählung der Teenagerjahre in den Achtzigern und Neunzigern. Somit bietet der Roman jenen einen vergnüglichen Trip zurück in die Vergangenheit. Für Leser anderer Generationen fehlt dieser Nebeneffekt der Nostalgie, weswegen sich das Hauptaugenmerk auf die Handlung an sich legt. Alltagsromane als Genre will ich keineswegs in Frage stellen, es kann äußerst interessant und lehrreich sein, Romanfiguren durch ihre Routine zu begleiten, dafür muss der Leser sich jedoch mit den Charakteren identifizieren können. Und mir persönlich gelang das mit Fri und Robert nicht, sie sind keine Menschen, die ich persönlich im echten Leben näher kennenlernen wollte. Das ist natürlich Ansichtssache. Leser, bei denen das Gegenteil der Fall ist, werden mit diesem Buch sicherlich mehr Freude haben. Ansonsten ist der Text unterhaltsam geschrieben, leicht verständlich und verdaulich. Für gewöhnlich sollte ein Buch wie „Man sieht sich“ nichts weiter als ein Anhängsel im Verlagsprogramm sein, wenngleich der Roman derzeit wohl doch einigermaßen erfolgreich wird.

Bewertung vom 13.07.2024
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


gut

Für das "Das Lied des Propheten" erhielt der irische Schriftsteller Paul Lynch 2023 den Booker Prize. Vielerorts angepriesen als das zentrale Buch über unsere Gegenwart, sind die Erwartungen vor der Lektüre selbstredend hoch. Lynch entwirft eine Art Dystopie, in der Form eines autoritären Regimes, das in Irland plötzlich an der Macht ist, woraufhin sich nicht nur für die Wissenschaftlerin Eilish Stack und ihre Familie vieles von jetzt auf gleich ändert. Zuerst wird ihr Mann Larry von der Polizei abgeführt, weil er als Gewerkschafter als ein Risiko für den Staat angesehen wird. Dann besteht auch noch für ihren ältesten Sohn Mark die Gefahr, von der Regierung zum Krieg eingezogen zu werden, was die Mutter jedoch um jeden Preis zu verhindern sucht. Neben diesen beiden dramatischen Ereignissen sind es jedoch vor allem die Kleinigkeiten, die der Familie den Alltag erschweren. Die Kontrolle über das eigene Leben schwindet, denn die unsichtbare Hand des Regimes tastet sich in sämtliche Bereiche vor, Recht und Freiheit existieren nicht mehr. Irland wird vom Rest der Welt abgeschnitten.
Das Szenario, das Paul Lynch beschreibt ist nicht neu, viele Autoren haben sich bereits an der Schilderung des Lebens unter einem autoritären Regime versucht. Bisweilen ist dafür jedoch nicht einmal die Erfindungsgabe des Autors gefragt, denn die Vergangenheit und mitunter auch die reale Gegenwart bieten reichlich Stoff dafür. Insofern musste Lynch für die Gestaltung seiner Erzählwelt weniger tief in die Tasche greifen, als mancher Science-Fiction-Autor, sondern konnte sich an historischem und aktuellem Material bedienen. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, an der einen oder anderen Stelle zu übertreiben - ein häufiges Manko dystopischer Romane. Zugunsten des Spannungsbogens steuert Lynchs fiktives Irland nämlich unglaubwürdig rasant auf eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes zu, wobei die dorthin führenden Etappen äußerst vorhersehbar sind. Allerdings legt die Geschichte ohnehin das Hauptaugenmerk auf das Einzelschicksal der Familie Stack, ihren Freunden und Verwandten, demnach sollte der Roman vor allem hier mit Finesse punkten. Diesbezüglich gelingt es dem Autor, Eilishs Gefühlswelt glaubhaft zu schildern, ihr Bangen um die Zukunft ihrer Kinder unter der neuen menschenverachtenden Regierung wird in mehreren Szenen dargestellt. Um zu überleben, arrangiert sie sich notgedrungen mit den neuen Rahmenbedingungen, gleichwohl in ihrem Inneren weiterhin der Wille zu einem selbstbestimmten Leben brennt. Sie trotz den Bestimmungen des Regimes, etwa, indem sie ihren ältesten Sohn versteckt, damit dieser nicht vom Militär eingezogen wird. Die von Angst und Verunsicherung beeinflussten Dialoge zwischen Eilish und ihren Freunden bzw. Verwandten sind dem Autor gut geraten: hier ist ein Schwanken zu erkennen, zwischen dem, was die Figuren aus ideeller Überzeugung kommunizieren möchten, und dem, was sie in Zeiten der Ungewissheit tatsächlich mitzuteilen wagen, ohne eine Verhaftung zu riskieren.
Aber auch in der Charakteristik der Protagonisten ist der Roman oftmals vorhersehbar, mitunter greift der Autor auf gendertypische Klischees zurück. Die Männer wie Eilishs Mann Larry und ihr Sohn Mark sind in diesen unruhigen Zeiten scheinbar unfähig, ihren angeprägten Starrsinn zu überwinden: Trotz der Verwarnung durch die Polizei ist Larry zu dickköpfig, seine Tätigkeit als Gewerkschafter einzustellen, woraufhin er spurlos verschwindet. Und Sohn Mark verbietet es der Stolz, sich von seiner Mutter verstecken zu lassen, um dem Einzug in einen sinnlosen Krieg zu entgehen - lieber läuft er geradewegs ins offene Messer. Hingegen wächst Eilish als Frau in der Not über sich hinaus, hält die Familie zusammen, und auch der Verlust ihres renommierten Berufs als Wissenschaftlerin hindert sie nicht daran, für sich und ihre Kinder zu kämpfen. Womöglich liegt der Autor mit dieser Verteilung der Rollen richtig, erfrischend wäre jedoch eine unerwartete Konstellation der Verhaltensmuster gewesen.
Ein meisterhafter Roman - wie der Verleger das Buch bewirbt - ist "Das Lied des Propheten nicht", zu sehr hat man als Leser das Gefühl, ähnliches bereits in anderen Dystopien gelesen zu haben. Manchmal gelingen dem Autor schön geschriebene Passagen, dann wiederum verliert er sich in vorhersehbaren Klischees. Wie häufig bei den großen Literaturpreisen wurde anscheinend wieder einmal das Thema an sich ausgezeichnet, gepaart mit der Intention, eine Mahnung an die momentanen Zustände auszusprechen. So kann auch ein durchschnittlicher Roman zum Buch der Stunde werden.

Bewertung vom 25.06.2024
Wir waren nur Mädchen
Jackson, Buzzy

Wir waren nur Mädchen


sehr gut

Widerstand
An sich ist über den Zweiten Weltkrieg fast alles gesagt, allerdings beschäftigte sich die Nachkriegsliteratur vorrangig mit der männlichen Sichtweise. Vor allem in den letzten Jahren werden Historische Romane über den Zweiten Krieg jedoch vorrangig von Autorinnen geschrieben, um einer weiblichen Hauptfigur eine Stimme zu geben. Viele dieser Texte wie "Stay away from Gretchen" oder "Wir sind doch Schwestern" etc. sind jedoch eher dem Trivialen zuzuordnen.
"Wir waren nur Mädchen" von Buzzy Jackson ist ebenfalls nicht frei vom Anspruch der Unterhaltung, behandelt jedoch ein selten angesprochenes Thema. Hannie Schaft, eine zurückhaltende Jurastudenten wird in Amsterdam geradewegs in den Widerstand hineingezogen, nachdem sie ihre beiden jüdischen Freundinnen bei sich Zuhause vor den Nazis verstecken muss. In den nächsten Jahren ist sie Mitglied in einer Gruppe von jungen Leuten, die mit allen erdenklichen Mitteln die deutsche Besatzung sabotieren. Auch der Mord an Befehlshaber gehört fortan zu Hannies Aufgaben.
Auf plausible Art und Weise gelingt es Jackson, Hannies Weg in den Widerstand zu beschreiben. Ein Mädchen, das anfangs schüchtern und zögerlich agiert, wird durch die Nazis dazu gezwungen, über sich selbst hinauszuwachsen. Als "Das Mädchen mit den roten Haaren" wird sie zu einer der meistgesuchten Personen der Besatzer. Auch ihr Leben innerhalb der Widerstandsgruppe wird anschaulich dargestellt — angefangen mit Schießübungen, bis hin zu ihrem ersten Mord und weiteren Sabotageakten. Aber auch das Menschliche steht im Fokus der Geschichte: die Liebe, Hoffnung und das Leid der Widerständler finden immer wieder Einzug in den Text. Allerdings unternimmt der Roman dadurch keine literarischen Höhenflüge. Um eine möglichst große Zielgruppe zu erreichen, liest sich der Text beinahe so rasant wie ein Thriller. Den Zweiten Weltkrieg in einem Unterhaltungsroman zu verarbeiten ist grundsätzlich eine schlechte Idee, doch zum Glück gelingt der Autorin in der Gesamtheit mehr als das. Ihre Figuren sind authentisch ausgearbeitet und sensible Zwischentöne bieten Mehrwert. Jacksons offensichtliches Ziel, das Bild einer starken Frau während der Wirrungen der Kriegsjahre zu zeichnen, wurde erreicht.

Bewertung vom 23.06.2024
Mord stand nicht im Drehbuch
Horowitz, Anthony

Mord stand nicht im Drehbuch


sehr gut

Tod einer Kritikerin

"Mord stand nicht im Drehbuch" ist der neueste Fall für den Ex-Polizist und Privatermittler Daniel Hawthorne, in dem auch der Autor Anthony Horowitz eine tragende Rolle spielt. Allerdings hat Anthony eigentlich gar nicht vorgehabt, ein weiteres Mal über seinen alten Freund zu schreiben. Doch dann kommt es nach dem Debüt seines jüngsten Theaterstücks zu einem unerwarteten Mord. Eine Kritikerin wird tot in ihrer Wohnung aufgefunden, nachdem sie Horowitz' Stück am Abend zuvor aufs heftigste verrissen hatte. Der Autor selbst gerät unter Mordverdacht. Um seine Unschuld zu beweisen, bittet er einmal mehr Daniel Hawthorne um Hilfe.
Das Buch steht ganz in der Tradition der britischen Kriminalliteratur, auf die Ähnlichkeit zu den Büchern Agatha Christies muss kaum eigens hingewiesen werden. Nach einigen einleitenden Kapiteln, Gipfeln im Auffinden der ersten Leiche, entwickelt sich ein engmaschiges Netz aus Fakten und Geschichten rund um den Mord, gewoben aus konventioneller Ermittlungsarbeit. Aus den Befragungen der Mordverdächtigen, die größtenteils aus der Crew von Anthonys Theaterstück stammen, tritt nach und nach des Rätsels Lösung zu Tage. Mit diesen Mitteln gelingt Horowitz ein durchweg unterhaltsamer Kriminalroman, der nicht auf atemlose Spannung setzt, sondern stattdessen mit mehreren Mosaikstücken hantiert, die am Ende ein gesamtheitliches Bild ergeben. Fast jede Figur kommt als Täter in Betracht und ist auf seine ganz eigene Weise skurril. Auch humoristische Elemente lässt Horowitz in die Geschichte einfließen, was den Unterhaltungswert steigert und zu keiner Zeit Nervenkitzel vermissen lässt.
Insgesamt ist "Mord stand nicht im Drehbuch" gewiss kein großer Wurf, doch allemal ein freundlicher kleiner Krimi für Zwischendurch, so leicht, locker und geschliffen wie man es sich von Agatha Christie häufiger gewünscht hätte.

Bewertung vom 23.06.2024
Nach uns der Sturm
Chan, Vanessa

Nach uns der Sturm


sehr gut

Historische Romane über den Zweiten Weltkrieg gibt es zuhauf, doch nur selten bekommt man als deutscher Leser eine Geschichte in die Hände, die sich mit Malaysia in dieser Zeit auseinandersetzt. Die Schriftstellerin Vanessa Chan schildert in ihrem Debütroman »Nach uns der Sturm« die Auswirkungen des Krieges auf eine junge Familie während der japanischen Besatzung Kuala Lumpurs im Jahr 1945. Dabei verfolgt sie zum einen die Geschichte der Mutter, Cecily, die früher als Spionin tätig war und seither ein Geheimnis vor ihren Angehörigen verbirgt. Sie hat drei Kinder, aus deren Sichtweise ebenfalls erzählt wird. Ihr Sohn Abel kehrt eines Tages nicht nach Hause zurück, weil er in ein Arbeitslager verschleppt wurde, wo er fortan für die Japaner unter schlimmsten Bedingungen schuften muss. Cecilys beiden Töchter haben es daheim ebenfalls nicht leicht. Jujube arbeitet in einem Teehaus und wird zunehmend in die Angelegenheiten ihres Stammgastes Mr. Takahashi hineingezogen. Als sie ihre jüngere Schwester Jasmin daheim in den Keller einsperrt, gelingt dieser die Flucht. Daraufhin quartiert Jasmin sich im Haus des Generals Fujiwara ein, ohne zu ahnen, dass eine Verbindung zwischen ihm und der Mutter besteht.
Der ständige Wechsel zwischen den Figuren führt zu einem temporeichen Leseerlebnis. Wie in einem Puzzle wird die Geschichte der Charaktere stückweise zusammengesetzt, wodurch sich am Ende ein vollständiges Bild der Familie Alcantara und ihrer Zeit ergibt — und das, obwohl nicht alle vier Erzählstränge gleichermaßen fesselnd sind. Vor allem die Handlung mit Cecily und Abel sind der Autorin gut gelungen, hier entwickeln sich Drama und Spannung. Weitestgehend ist auch Jasmins Geschichte greifbar, vor allem zum Ende hin. Jedoch wirken weite Teile von Jujubes Tun und Treiben wie ein Lückenbüßer. Auch einige Rückblenden, in denen Chan in die Vergangenheit von Cecily eintaucht sind teilweise etwas zu lang geraten. Von diesen Längen einmal abgesehen entfaltet der Roman durchaus eine Sogwirkung. Der Leser wird immer tiefer in das Schicksal der Familie hineingezogen, teilweise überschlagen sich die Ereignisse, und das Leid der Figuren, sowie ihr Überlebenswillen wird erfahrbar gemacht. Für meinen Geschmack hätte die Autorin an der einen oder anderen Stelle auf ein wenig Dramatik verzichten können, zuweilen tritt das Bemühen der Autorin, eine cineastische Wirkung zu erzielen, allzu offen zutage. Ein starker Einstieg, in dem die Autorin historische Fakten einfließen lässt und die Umstände des Krieges in Kuala Lumpur anschaulich beschreibt, weicht zunehmend der bloßen Schilderung von Geschehnissen. Für eine Debütantin hat Venessa Chan jedoch ganze Arbeit geleistet, ihr gelingt ein niveauvoller Roman mit starken Figuren, einer weitestgehend fesselnden Handlung und historischer Authentizität. Im Anbetracht dessen, dass in Malaysia von der betreffenden Generation nur selten über den Krieg gesprochen wird, ist »Nach uns der Sturm« durchaus ein Eisbrecher. Als deutscher Leser wird man grundsätzlich von Romanen über den Zweiten Weltkrieg überhäuft, sodass kaum noch ein Buch in der Lage ist, eine wirklich neuartige Sichtweise zu liefern. In einigen Bereichen kann »Nach uns der Sturm« jedoch neue Ansätze liefern, denn der Handlungsort ist bisher nur selten literarisch aufgearbeitet worden. Eine deutschsprachige Veröffentlichung findet somit seine Berechtigung und ist als Lektüre definitiv zu empfehlen.

Bewertung vom 14.06.2024
Seinetwegen
Del Buono, Zora

Seinetwegen


gut

Spuren der Vergangenheit
In "Seinetwegen" begibt die Schweizer Autorin Zora del Buono sich auf eine Spurensuche, um den Umständen näherzukommen, die zum Tod ihres Vaters geführt haben. Sie war noch ein Kleinkind, als Manfredi del Buono, ein vielversprechender Oberarzt, in einen Autounfall verwickelt wurde und wenige Tage später seinen Verletzungen erlag. Hingegen überlebte der Schuldige des Unfalls, ein junger Mann, der bereits mehrfach mit seiner rücksichtslosen Fahrweise auffällig geworden ist. Beim Gerichtsprozess kommt er vergleichsweise glimpflich davon, während Zora del Buono fortan als Halbwaise aufwächst. Ihre Mutter heiratet kein zweites Mal. In einer literarischen Form beschreibt die Autorin nun, in welchen Verhältnissen sie aufwuchs, was das Fehlen eines Vaters für sie bedeutete, und nähert sich überdies dem Mann an, der für den Tod ihres Vaters verantwortlich ist - lange sind ihm nur seine Initialen, E.T., bekannt.
Ein vergleichbares autobiografisches Projekt ist mir nicht bekannt, dass eine Autorin den Versuch unternimmt, das Leben eines Fremden zu durchleuchten, der für den Tod des eigenen Vaters verantwortlich ist, darf als neuartig angesehen werden. Demnach war ich äußerst gespannt auf dieses Buch. Die Autorin findet durchaus eine geeignete Form, eigene Überlegungen, Fakten und Tatsachen, Anekdoten aus ihrem Leben, Essays und die Ergebnisse ihrer Recherchen miteinander zu verknüpfen. Obwohl der Text größtenteils aus Fragmenten und Schnipseln besteht, ist ein roter Faden zu erkennen. Auch ohne Kapitelüberschriften wirkt alles geordnet. Die Autorin setzt interessante Schwerpunkte, holt gelegentlich etwas aus, beispielsweise indem sie die Lebensumstände der Italiener in der Schweiz beschreibt wie sie es als Mädchen erlebt hat, bleibt ihrem Kurs jedoch stets treu. Sechzig Jahre nach dem verheerenden Unfall kommt sie E.T. immer näher. Wie ist er all die Jahre mit seiner Schuld umgegangen? Was für ein Leben hat er geführt?
Del Buono gelingt ein solider Text, keine Frage, aber kein Bravourstück. Vielleicht liegt es an meinen zu hohen Erwartungen an dieses Buch, dass es mich am Ende weniger abholen konnte, als erwartet. Trotz der Anstrengungen der Autorin, ihre Familie, ihren Vater und die Zeit, in der sie aufwuchs, zu beschreiben, entsteht nur ein blasses Bild von alledem. Vielleicht war das Thema am Ende doch zu persönlich, sodass del Buono sich scheute, unbekannte Leser tiefer in ihre Familiengeschichte einzuführen. Anstatt einer tiefgreifenden Analyse bieten die 200 Seiten des Buches daher nur einen knappen Abriss.