Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Bewertungswiesel

Bewertungen

Insgesamt 45 Bewertungen
Bewertung vom 20.10.2023
Ich erkenne eure Autorität nicht länger an
Bech, Glenn

Ich erkenne eure Autorität nicht länger an


ausgezeichnet

Das Cover mit dem plakativen Titel spricht von einer großen Wut auf eine Gesellschaft, die nicht für alle offen ist, dominiert von reichen, urbanen Cis-Männern auf dem emotionalen Niveau von 15-16 -Jährigen.
Der Autor erzählt in pointierten, tief gehenden Aphorismen vom (eigentlich doch vorbildlichen) Dänemark, in dem keineswegs alle gleiche Chancen haben.
Wenn man in eine arme Familie in der Provinz geboren wird, ist es geradezu unmöglich, Privilegien über Bildung zu erlangen. Wenn man noch dazu homosexuell ist, hat die Lebenswirklichkeit rein gar nichts mit der von angesagten Personen in Metropolen und auf Social Media gemeinsam. Der Autor berichtet von Mobbing und dem Gefühl der Selbstverleugnung, vom Verstecken, und das alles in diesem Jahrtausend, noch immer! Diejenigen, die sich zufällig im Mainstream (hetero, obere Mittelschicht) befinden, haben nicht annähernd eine Vorstellung von der tatsächlichen Situation. Schließlich erlebt man doch auf allen Kanälen, wie cool sich z. Bsp. schwule Künstler inszenieren.
Dieses Manifest ist ein sehr poetischer, noch dazu perfekt lesbarer Appell an die sogenannten Cis-Personen, und auch an sonstige Privilegierte, egal welcher sexuellen Orientierung, etwas aufmerksamer mit Empathie auf seine Mitmenschen zu blicken. Klare Leseempfehlung für ALLE, die starke Texte lieben, nicht nur für Benachteiligte!

Bewertung vom 01.10.2023
Lichtspiel
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


ausgezeichnet

Der neue Kehlmann präsentiert sich auf schwarzem Hintergrund, mit weißen und roten Lettern, also in den Farben der preußischen Fahne. Wir haben es mit einem hochkarätigen historischen Roman zu tun. Er zeigt die Geschichte des deutschen Films, von Stummfilm bis Nachkriegs-Heimatfilm.
Mit Ironie und einem beeindruckenden Gespür für die Schwächen der Menschen schickt uns der Autor auf die Spuren des berühmten Regisseurs G.W. Pabst. Dieser war eine Art Wendehals. Im Herzen politisch links, verfilmte er Brechts „Dreigroschenoper“, lehnte Hitlers Machtergreifung ab, versuchte sein Glück in Paris und Hollywood, konnte sich allerdings, nicht zuletzt aufgrund rudimentärer Englischkenntnisse, dort nicht durchsetzen und landete zunächst aus privaten Gründen wieder in seiner Heimat Österreich, die jetzt Ostmark hieß. Dort ließ er sich von den Nazis vereinnahmen, wobei er sich immerhin von klassischen Propagandafilmen fern hielt und versuchte, einfach weiter gute Filme zu machen. Bis zuletzt redete er sich selbst ein, er kämpfe für die reine Kunst.
Schon der Einstieg in den Roman ist brillant! Wir befinden uns in der Gegenwart, die Perspektive ist die seines, inzwischen senilen Assistenten Wilzek.
Kehlmann liebt die indirekte Rede, dennoch wirken die Dialoge unmittelbar und echt. Atmosphärisch dicht und immer ganz nah am tiefsten Inneren der Menschen kommen nach und nach andere Personen in den Fokus.
Wer sich für das Kino interessiert, findet in diesem Roman, was möglicherweise hinter den Kulissen in den Köpfen der Beteiligten geschah. Wer einen ungewöhnlichen Roman über die Nazizeit lesen möchte, sollte diesen hier nicht auslassen.
Kehlmann ist wieder einmal genial!

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.08.2023
Wellenkinder
Bahrow, Liv Marie

Wellenkinder


sehr gut

Das Cover mit der Schaukel am Meer lässt an einen beschwingten Sommerroman denken.
Das ist dieses Buch nicht. Es handelt sich eher um einen historischen Roman mit Thriller-Elementen. Drei Handlungsstränge über Personen in verschiedenen Zeiten sind inhaltlich geschickt miteinander verflochten.
Dabei wird die Grausamkeit des Systems der sozialistischen Diktatur anhand der einzelnen Lebensgeschichten deutlich.
An manchen Stellen erscheint mir die fiktive Handlung aber zu stark konstruiert. Die drei Personen, aus deren Perspektive im Wechsel berichtet wird, sind etwas klischeehaft. Einige Ereignisse können sich unmöglich so ereignet haben. Es wurden zwar geschichtliche Fakten als Hintergrund genommen, bei deren Ausschmückung zum Roman wurde aber definitiv zu dick aufgetragen und Gesetze der Logik wurden außer Kraft gesetzt. Schade.

Bewertung vom 24.08.2023
Eigentum
Haas, Wolf

Eigentum


ausgezeichnet

Minimalistisch ist er, der Einband für die Biographie einer sparsamen Frau, passender geht es nicht!
Auf seine ganz eigene, urkomische Art beschreibt Haas in diesem Roman die letzten beiden Tage seiner Mutter im Altersheim sowie ihr gesamtes Leben in Rückblicken, diese in ihrer eigenen, ebenfalls reduzierten, mundartlichen Sprache.
Ein derartig sensibles Thema kann wohl nur Haas so erzählen, dass es nicht im geringsten deprimierend wirkt, sondern sogar witzig, ohne die Würde der alten Dame zu verletzen.
Sie war eine Frau, die sich jahrzehntelang bemüht hat, etwas zu erreichen, das andere einfach so erben: Ein paar Quadratmeter eigenes Land. Dabei mochten sie die meisten Leute in ihrem österreichischen Bergdorf nicht, fanden sie schwierig, weil sie zu ehrlich war, was beleidigend wahrgenommen wurde.
Kurzweilige Lektüre für alle, die auch dem Ernst des Lebens gern eine fröhliche Seite abgewinnen wollen.

Bewertung vom 08.08.2023
Terafik
Karkhiran Khozani, Nilufar

Terafik


sehr gut

Das stimmungsvolle Cover lässt eine besondere Reise erwarten. Besonders ist Nilufars Reise auch . Mit über 30 reist sie zum ersten Mal in das Land, dessen Pass längst für sie bereit liegt und den sie auch nicht mehr abgeben kann, in den Iran. Ihre deutsche Mutter trennte sich von ihrem Vater, als sie 7 war. Ein Besuch wurde nicht erlaubt, denn ihre Mutter hatte das sehr reißerische, einseitig aus amerikanischer Sicht geschriebene Buch von Betty Mahmoody gelesen, in dem ein Kind im Iran festgehalten wurde.
Aber Nilufars Vater pflegt den Kontakt zu ihr, und nach dem Studium gibt es für sie keine Ausreden mehr.
Als Leser muss man sich nun einige Namen von Verwandten merken. Denn ohne geht es nicht. Während ihr Vater ihr zunächst aus dem Weg zu gehen scheint, wird sie überaus gastfreundlich von sämtlichen Verwandten aufgenommen und permanent mit Tee und Obst versorgt.
Endlich, in den Bergen, kommt es zu einer Aussprache zwischen Vater und Tochter. Das ist der wirklich starke Teil des Romans. Man spürt während des Lesens ihre Zerrissenheit zwischen den Kulturen, ihre Verzweiflung, nichts allein erkunden zu können. Ihr Radius - geschrumpft auf den eines Kindergartenkindes. Und doch ist da eine enge Bindung, ein Verständnis für den zwar intellektuell erfolgreichen, sozial äußerst flexiblen, aber dennoch in der deutschen Gesellschaft gescheiterten Vater.
Nilufars lesbische Beziehung ist hier kein Thema, was sicherlich interessant gewesen wäre, aber die Grenze des Möglichen überschritten hätte.
Dieses Buch erzählt glaubhaft, wie schwierig ein sogenannter Migrationshintergrund sein kann.

Bewertung vom 01.08.2023
Das Pferd im Brunnen
Tscheplanowa, Valery

Das Pferd im Brunnen


gut

Das Cover im Stil von Van Gogh ist erfrischend in Orange-und Grüntönen gehalten. Der Plot hat eine Menge Potenzial: Vier Frauen aus vier Generationen, verflochten mit der Geschichte der Sowjetunion. Dementsprechend hoch meine Erwartung. Leider wird keine der Frauen in meinem Kopf lebendig. Hauptsächlich ist das Buch eine Hommage an Großmutter Nina, diese wird leider eher unsympathisch dargestellt. Es hilft dabei auch nicht, dass ihre ruppige Art mit einer Notwendigkeit erklärt wird. Frau tut, was sie tun muss, denkt nicht nach, weil das System nur solche überleben lässt.
Vielleicht sollen wir als Leser ein Unbehagen im Umgang mit den Figuren durchmachen, damit es authentisch bleibt.
Vielleicht wurde aber auch nur schwach recherchiert, und insgesamt mit zu wenig Inhalten aufgeschrieben. Die übrigen Figuren bleiben nämlich starr, geradezu hölzern. Diejenigen Männer, die Erwähnung finden, verschwinden so plötzlich, wie sie gekommen sind.
Die Chronologie ist zwischen den einzelnen Kapiteln aufgehoben, wir befinden uns mal später, mal früher im Zeitgeschehen. Beschrieben wird alles im Präsens, das, was danach geschieht, teilweise im Futur, was ich extrem irritierend fand.
Der metaphorische Titel führt ins Leere: Ein Brunnen, der nicht mehr erkennbar ist, ein - ebenfalls unsichtbares - Pferd, das mal hinein gefallen sein soll.
Insgesamt überzeugt der Roman kaum.

Bewertung vom 30.07.2023
Tasmanien
Giordano, Paolo

Tasmanien


ausgezeichnet

Auf dem Cover eine einsame Person am aufgewühlten Meer. Ein Journalist und Autor, der sich zum Ziel gesetzt hat, ein Buch über die Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki 1945 zu schreiben. Trotz fundierter Fachkenntnis durch sein Physikstudium kommt er damit nicht weiter. Begleitet von wechselnden Krisen in den Jahren 2015-2022, durchlebt er auch privat eine Krise in der Beziehung zu seiner fast zehn Jahre älteren Lebenspartnerin. Als Wissenschaftler hat er immerhin diverse Kontakte, die es ihm ermöglichen, die Welt zu bereisen.
Klimakonferenz, Terroranschläge - er erliegt einem apokalyptischen Sog. Noch dazu verlangt man ihm eine Stellungnahme ab, die ihn überfordert: Ein guter Freund, renommierter Klimaforscher, liefert öffentlich einen angeblichen Beweis, dass Frauen in der Forschung zu Recht unterrepräsentiert seien, da ihre Leistung nicht an die der männlichen Mitstreiter heran reiche!
Alles etwas viel für den paralysierten Intellektuellen, den die Vergangenheit belastet, der vor der Gegenwart flieht, und der keine Zukunft für die Menschheit sieht.
Ratlos lebt er ein passives Leben voller Widersprüche, produziert noch mehr CO 2 durch unnötige Flugreisen, lebt in Hotels, schreckt aus unerfindlichem Grund nicht einmal vor Videos von Enthauptungen zurück. Auch der Glaube bietet kein Fundament mehr.
Jener Freund mit der sexistischen Studie hatte Tasmanien als Ort benannt, auf dem das Überleben einer Elite denkbar sei.
Tasmanien selbst ist aber ansonsten gar nicht Thema dieser Odyssee.
Mehrmals fragte ich mich als Leser, warum genau dieses Buch geschrieben wurde. Es passt in keine Schublade, gehört aber ins Bücherregal!
Trotz etlicher hochinteressanter naturwissenschaftlicher Fakten will es kein Sachbuch sein. Es ist auch kein Gesellschaftsroman, obschon die Ängste der zeitgenössischen Gesellschaft perfekt und tiefgründig beschrieben werden, aber eben aus der Perspektive eines Einzelnen. Für einen Bildungsroman scheint der Protagonist zu alt.
Es könnte die existentialistische Antwort auf die TAGESSCHAU sein. Durch eindringliche Beschreibungen eines Nagasaki-Überlebenden wird es außerdem zu einem Anti-Kriegs-Roman.
Die Frage, die der Roman aufwirft: Können wir, selbst mit all unserem Wissen, überhaupt anders agieren, als wir es gewohnt sind, um Schlimmes zu verhindern?
Tasmanien ist definitiv keine Lösung!

Bewertung vom 25.07.2023
Vatermal
Öziri, Necati

Vatermal


ausgezeichnet

Das Cover wirkt mit den riesigen grellen Buchstaben und roten Spitzen geradezu aggressiv, was mich zunächst abschreckte.
Das Buch selbst hatte ich mit Begeisterung innerhalb von 24 Stunden durchgelesen. Es ist eine wirklich unter die Haut gehende, großartig geschriebene Geschichte über eine türkische Familie.
Durch ein Erdbeben waren die Großeltern mütterlicherseits gezwungen zu fliehen. Der Vater ist ein linker Aktivist, dessen Bruder in der Türkei von rechten Widersachern getötet wurde. Es kam zur Blutrache, er musste deswegen fliehen.
Der Erzähler lernt seinen Vater nie kennen, ist aber keineswegs nachtragend oder verbittert, jedenfalls weit davon entfernt, eine Opferrolle einzunehmen.
Die Perspektive der weiblichen Familienmitglieder wird in eigenen Kapiteln komplett nachvollziehbar gezeigt. Man liest nicht nur über sie, man lebt mit ihnen, und erkennt ganz klar: Es gibt nicht den einen Schuldigen, und Integration ist definitiv machbar.
Vaterlos aufzuwachsen, das bedeutete in diesem Fall vor allem die Chance auf Gewaltverzicht und ein zeitgemäßes Rollenverständnis.
Mit diesem Buch ist es Necati Öziri gelungen, eine Brücke zu errichten.
Er schreibt das Buch als imaginären Brief an den unbekannten Vater. Es ist aber vielmehr auch eine spannende Einladung an alle „Kartoffeln“ zum Teilen von Kultur und Geschichte.

Bewertung vom 08.07.2023
Das Glück der Geschichtensammlerin
Page, Sally

Das Glück der Geschichtensammlerin


weniger gut

Der Titel und das liebliche Cover mit Buch, Hut, Blumen und Hund lassen es erahnen: Hier haben wir es nicht mit einem postmodernen Roman zu tun, sondern eher einer viktorianisch inspirierten Gute-Nacht-Geschichte, inclusive einem allwissenden Erzähler, rührselig wie die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens.
Um dem Ganzen dennoch Aktualität zu geben, ist alles im Präsens geschrieben. Das Wort „Geschichte“ taucht gefühlt auf jeder Seite mindestens zweimal auf. Dieser Schreibstil macht es mir unmöglich, den Charakteren näher zu kommen oder mich gar in sie einzufühlen.
Diese unüberwindbare Distanz wird trotz zahlreicher, erschreckend dramatischer Inhalte keineswegs durch Spannung ausgeglichen. Diese will sich einfach nicht aufbauen, weil sich stattdessen immer wieder das Gefühl breit macht, man solle hier moralisch belehrt werden, dass Menschen eben gut und böse im Wechsel sein können. Prädikat: Pädagogisch wertlos!
Die zwei Sterne ergeben sich, da man zum Einen dem Buch wirklich keine Handlungsarmut vorwerfen kann. Senile Ex-Spionin mit Hang zum Alkohol, Suizide, Morde, Seenot, Vernachlässigung, verschwundenes Kind - alles drin.
Zum Anderen gefiel mir die überraschend kulturelle Grenzen sprengende Anspielung auf „Tausend und eine Nacht“.
Wer experimenteller Literatur nichts abgewinnen kann und sich gern von Altbewährtem an die Hand genommen fühlen möchte, ist vermutlich spendabler mit den Sternen.

Bewertung vom 18.06.2023
Schönwald
Oehmke, Philipp

Schönwald


sehr gut

Das Cover lässt ein eher behäbiges, klassisches Familienepos erwarten. Tatsächlich aber haben die dunklen Punkte aus der Vergangenheit der einzelnen
Schönwalds große Aktualität und fügen sich in einen temporeichen, humorvollen Plot ein. Noch dazu wird alles aus verschiedenen Perspektiven packend erzählt und gekonnt zusammengefügt.
Zugegeben, es sind ein paar aktuelle Themen zu viel. Queerer Buchladen, woke Social-Media-Jugend, die deutsche Kollektivschuld, Stadt-Land, Ost-West, Donald Trump, Missbrauch, Me-Too. Während man sich durch all diese heiß diskutierten Themen liest, kommt immer wieder die Frage auf, welches eigentlich das zentrale sein könnte. Zu Beginn scheint es darum zu gehen, ob in Deutschland lebende Menschen ohne Migrationshintergrund per se Menschen mit Nazi-Hintergrund sind, und deren Geld folglich immer ein weiter vermehrter Profit aus der Zeit des Nationalsozialismus. Immer deutlicher wird dann klar, dass es nicht nur um Nazis geht, und schon gar nicht um Genderfluidität. Vielmehr um das Miteinander-Reden in Familien, um Offenheit, die nachhaltig Konflikte verhindern kann.
Grandioses Ende!
Der Roman ist leicht überfrachtet, aber eines sicher nicht - langweilig!