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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 859 Bewertungen
Bewertung vom 17.08.2024
Was man sät
Rijneveld, Lucas

Was man sät


gut

Landleben und Apokalypse

Der Debütroman «Was man säht» der holländischen Autorin Marieke Lucas Rijneveld bekam 2020 den hochdotierten International Booker Prize für fremdsprachige Romane. Die geografisch im niederländischen Bibelgürtel und zeitlich in den späten neunziger Jahren angesiedelte Geschichte berichtet von den Verstickungen einer orthodox kalvinistischen Bauernfamilie aus der Sicht eines der vier Kinder. Ich-Erzählerin ist Jas, die oft auch Jacke genannt wird, weil sie Tag und Nacht die gleiche Jacke trägt. Eine hartnäckig verteidigte Marotte, die sie angeblich vor Gefahren und den Anfeindungen ihrer Umgebung beschützt. Lapidar lautet denn auch der erste Satz: «Ich war zehn und zog meine Jacke nicht mehr aus.»

Ihre Erzählung beginnt kurz vor Weihnachten, als sie bemerkt, dass ihr Vater ihr geliebtes Kaninchen mästet. Offensichtlich, weil es als Festbraten auf dem Esstisch landen soll. Sie versucht vergebens, ihren Vater davon abzubringen. Insgeheim fleht sie zu Gott. er möge ihr Kaninchen verschonen und stattdessen ihren ältesten Bruder zu sich nehmen. Auf den ist sie gerade sauer, weil er sie nicht mitgenommen hat zum Schlittschuhlaufen. Ihr Wunsch erfüllt sich auf makabre Weise, der Bruder bricht ins Eis ein und ertrinkt! Und Weinachten fällt komplett aus für dieses Jahr, das Kaninchen bleibt also unbehelligt, es gibt nichts zu feiern. Für die Familie ist der Tod des Ältesten eine Strafe Gottes, die man geduldig zu ertragen hat. Diesem erzählerischen Paukenschlag gleich zu Beginn folgen Schilderungen des harten Lebens auf dem Bauernhof mit hundertachtzig Kühen, wo auch die Kinder mithelfen müssen. Es ist kein Lobgesang auf das idyllische Landleben, ganz im Gegenteil, und Jas flüchtet sich in ein Traumleben hinein, welches von dem entbehrungsreichen Alltag geprägt ist, dessen extreme Anspruchslosigkeit durch die Bibel vorgegeben ist. Für jedes Problem, für alle Lebens-Situationen haben die bibelfesten Eltern stets und ständig einen frommen Spruch parat. Auch den Kindern sind diese Pseudo-Weisheiten in Fleisch und Blut übergegangen, auch sie können für jede Situation eine passende Bibelstelle zitieren. Sie nehmen sie spöttisch vorweg, wenn es darum geht, was denn die Eltern oder der Herr Pfarrer zu bestimmten Ereignissen jetzt gleich sagen werden. Hier profitiert die Autorin offensichtlich von eigenen Erfahrungen, sie selbst wuchs in einem streng religiösen Heim auf.

Jas wird von Schulgefühlen geplagt, auf die sie durch Gewalt gegen sich selbst reagiert. So drückt sie sich, zur Strafe quasi für das heraufbeschworene Unheil, eine Reiszwecke in den Bauchnabel, die dort auch bleibt, als ständige Mahnung! Überhaupt prägt offene, aber auch unterschwellige Gewalt das Familienleben. Der Bruder von Jas nimmt eines Tages seinen geliebten Hamster aus dem Käfig und drückt ihn in einer Schüssel unter Wasser. Ungerührt sieht er zu, wie das Tierchen strampelt und sich dann nicht mehr bewegt. Bald darauf muss der Hahn dran glauben, mit einem Hammer schlägt der Bruder ihn tot, als Mutprobe. Zu den ständigen Ängsten von Jas gehört auch ein vom Balken herabhängender Strick, sie fürchtet, die depressive Mutter könne sich damit erhängen. Und Vater droht öfter mal, dass er fortgehen werde und nicht mehr zurückkommt, - der reinste Psychoterror für die Geschwister!

In einer der Erzähler-Figur Jas angepassten, naiven Sprache werden in diesem Roman unzählige, teilweise poetische Bilder herauf beschworen. Die wirken anfangs sogartig, werden mit der Zeit aber langweilig, weil im Grunde wenig passiert, Landleben halt! Tod und erwachende Sexualität hingegen prägen, immer wieder geschickt eingestreut, die Gedanken der jugendlichen Protagonistin. Sie sind denn auch bestimmend für den Plot, der zielgerichtet auf ein apokalyptisches Ende hinsteuert. Welches man sich, listiger Weise geradezu beiläufig erzählt, dann schockierender kaum vorstellen kann!

Bewertung vom 14.08.2024
Kommt ein Pferd in die Bar
Grossman, David

Kommt ein Pferd in die Bar


gut

Lachen und Weinen

Das Original des erfolgreichsten Romans von David Grossman wurde 2014 in Israel veröffentlicht und zwei Jahre später sowohl ins Englische als auch, unter dem Titel «Kommt ein Pferd in die Bar», ins Deutsche übersetzt. Der Roman wurde 2017 als bester fremdsprachiger Roman mit dem Booker International Prize ausgezeichnet, dessen Preisgeld von 80.000 Pfund sich Autor und Übersetzer teilen. Während das Buch in seinem Heimatland Israel recht unterschiedlich bewertet wurde, war das Echo im deutschen Feuilleton einhellig positiv. Alleiniges Thema des Romans ist ein Auftritt des Komikers Dov Grinstein in einer israelischen Stadt am Mittelmeer, es ist der Tag seines 57ten Geburtstags.

Zu diesem Abend hat er Avischai Lasar eingeladen, einen gleichaltrigen Freud aus seiner Kindheit, die Beiden haben sich seit 40 Jahren nicht mehr gesehen! Der ehemalige Richter wurde vor drei Jahren vorzeitig in den Ruhestand versetzt, weil den Vorgesetzten seine scharfsinnigen, immer exzellent begründeten Urteile nicht mehr gepasst haben, sie gaben häufig Anlass zur Revision. Der Stand-up-Comedian hatte große Schwierigkeiten, den auch in den Medien bekannten, hohen Richter a. D. zum Kommen zu bewegen. Sein alter Freund Avischai hat es sich nämlich als Pensionär gemütlich gemacht und ist mental inzwischen auch über den Tod von Samanta hinweg, seiner ehemaligen Freundin. Aber was ihn schon gar nicht interessiert, das sind solche Comedy-Shows, und dann soll er Dov auch noch berichten, wie er seinen Auftritt bewertet! «Das, was von einem Menschen ausgeht, ohne dass er Kontrolle darüber hat – das sollst du mir erzählen.» Er habe ja in seiner Zeit als Richter bewiesen, welch glänzender Formulierer er ist, - und schließlich gibt Avischai nach.

«Einen wun-der-ba-ren Guten Abend» heißt es am Anfang, «Gute Nacht» sind die Schlussworte nach gut 250 Seiten, chronologisch sind es zwei, drei Stunden später, dazwischen wird von Dovs denkwürdigem Auftritt berichtet. Er beginnt mit den üblichen Späßen, erzählt viele Witze, erweist sich als schlagfertig, wenn er Leute aus dem Publikum mit einbezieht, ist mimisch und gestisch virtuos. Immer öfter aber schweift er zu seiner leidensvollen Kindheit ab und provoziert damit sein Publikum, das zum Lachen hergekommen ist. Dov reagiert aggressiv, die Proteste werden lauter, man will keine Leidens-Geschichten hören, erste Gäste verlassen den Saal. Mit seinen Witzen gelingt es ihm immer wieder, die Leute zu beruhigen, die lauter werdenden Buh-Rufe für kurze Zeit zum Verstummen zu bringen, aber der Abend wird zusehends zum Fiasko. Mit «Ein Pferd kommt in die Bar» beginnt er einen Witz, den er nicht zu Ende erzählt, er hat sich buchstäblich vergaloppiert, verliert dauernd den Faden. Er ist als Comedian am Ende, bei aller Gelenkigkeit ein körperliches Wrack, sein Freund erkennt aber die Sehnsucht, die da aus seinem total missglückten Auftritt mit der schonungslosen Lebensbeichte überdeutlich spricht. Verstörend ist insbesondere die Einbeziehung des Holocausts in seine Erzählung, sein Vater habe ihn als Einziger in der Familie überlebt. Die Mutter wurde hochgradig traumatisiert, weil sie sich in Todesangst ein halbes Jahr lang unter prekären Verhältnissen vor den Nazis verstecken musste. Sie hat sich nie mehr davon erholt, blieb ihr Leben lang schwer davon gezeichnet. Dov wollte sie aufheitern, unterhielt sie mit Späßen und wurde so zum Comedian wider Willen.

Der Erzähler des Romans ist der pensionierte Richter, er schildert die Gratwanderung zwischen mit Witzen gewürzter, oft in Klamauk abgleitender Komik und der Leidensgeschichte, die Dov auf der Bühne, unbeirrt vom Protest des Publikums, trotzig von sich gibt. Von einigen Rückblenden abgesehen ist das der alleinige Erzählstoff des Romans, zu dem sein Autor überraschend angemerkt hat, er selbst sei eigentlich gar kein Freund von Witzen. Lachen und Weinen liegen hier sehr eng beieinander!

Bewertung vom 13.08.2024
Südstern
Staffel, Tim

Südstern


gut

Kreuzberg ist überall

Nach fünfzehn Jahren kehrt der vielseitig schreibende Tim Staffel mit «Südstern» zum Genre Roman zurück, und zwar so überzeugend, dass seine Prosa für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominiert wurde. Es ist ein Berlin-Roman, der im Problem-Stadtteil Kreuzberg angesiedelt ist, worauf schon der Titel hinweist, ein Platz in der Hasenheide mit einer U-Bahn-Station. Der Roman bringt dank seines in Berlin lebenden Autors jede Menge Lokalkolorit mit, und zwar aus dem prekären Teil dieser Metropole, nicht aus dem schicken Berlin, wie es die Touristen zu sehen bekommen. Zudem ist er in der Gegenwart, im Hier und Jetzt angesiedelt und spiegelt den ganz normalen Wahnsinn einer aus den Fugen geratenen, überforderten sozialen Schicht wieder.

Der männliche Protagonist dieser Geschichte ist Deniz, ein junger Streifen-Polizist mit türkischen Wurzeln, der aufopferungsvoll seinen an Parkinson erkrankten Vater pflegt. Wegen seiner Geldnöte muss er häufig Doppelschichten machen. Als abgeklärter Streifenführer hat er oft Probleme mit seiner übereifrigen Kollegin, die bei den Einsätzen stur alle Vorschriften befolgt, wo Deniz schon mal ein Auge zudrückt. Weibliche Protagonistin ist die Barfrau Vanessa, die nebenbei als angebliche «Pharmakologin» ihre dankbaren Stammkunden mit Psychopharmaka beliefert, also für ‹Erfolg und Glück› sorgt. Als diese Beiden erstmals aufeinander treffen, springt der berühmte Funke über, sie fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Ein Liebesroman à la ‹Romeo und Julia› ist «Südstern» deshalb aber nicht, auch wenn diese Beziehung im Roman wie ein schwach sichtbarer, roter Faden wirkt. In erster Linie haben wir es hier mit einem Gesellschafts-Roman zu tun, der die Frage stellt: Wollen wir, müssen wir wirklich so leben?

Vanessa ist schon länger mit Olli zusammen, einem Bundestags-Abgeordneten, sie teilen sich die Wohnung und sind ein gut harmonierendes Paar. Während sich Olli als Politiker zu profilieren sucht, um aus dem Hinterbänkler-Dasein heraus zu kommen, bewegt sich Vanessa in ihrem eigenen Netzwerk. Dem gehört der Barbesitzer an, für den sie arbeitet, viele der urigen Stammgäste ihrer Bar, natürlich auch ihr meist in Amsterdam lebender Lieferant für die Psychopharmaka. Mit denen versorgt sie Sportler, Politiker, Geschäftsleute, Künstler, kurz Menschen, die dem alltäglichen Druck, dem hastigen Leben der Großstadt, nicht standhalten können. Außerdem begegnet man in diesem literarischen Sittengemälde den typischen Themen im Kiez, berufliche Ausbeutung, Wohnungsnot, häusliche Gewalt, Überforderung, Armut, Drogensucht. Zu dieser Tristesse prekärer Lebensumstände gehören aber auch der Pflegenotstand, der Deniz vor kaum zu bewältigende Probleme mit seinem Vater stellt.

Dieser hochaktuelle Roman berichtet aus der doppelten Ich-Perspektive mit dem jeweiligen Umfeld der beiden Protagonisten. Deren Gemeinsamkeit besteht darin, alltäglich mit prekären Lebens-Umständen konfrontiert zu sein. Vanessa mit dem karriere-bedingten Druck der leistungs-orientierten Gesellschaft, Deniz mit alltäglichem Zoff und seiner manchmal auch kriminellen Klientel im Kiez. Der Autor hat erkennbar intensive Recherchen betrieben, sein schonungsloser Blick offenbart stimmig die schwierigen Schicksale und alltäglichen Probleme seiner Romanfiguren. Trotz aller Härte, trotz der Dissonanzen seiner Thematik ist immer auch Menschlichkeit spürbar. Und selbst wenn die Liebe zwischen seinen beiden Haupt-Figuren eher ein zartes Pflänzchen bleibt, scheint sie doch tief verankert zu sein, so ganz ohne den üblichen Seelen-Kitsch. Die ständigen Perspektiv-Wechsel irritieren häufiger mal, denn das erzählende Ich ist oft nur schwer erkennbar. Erzählt wird in einer intensiven, vorantreibenden Sprache, die Dialoge kommen ohne Satzzeichen aus. Man ist ganz nah dran am Geschehen, und man erkennt: Kreuzberg ist überall!

Bewertung vom 10.08.2024
Monde vor der Landung
Setz, Clemens J.

Monde vor der Landung


weniger gut

Hohlwelt und Hohlkopf

Der durch sein Faible für das Abwegige bekannte Büchner-Preisträger Clemens J. Setz schildert in seinem neuen Roman «Monde vor der Landung» das Leben des Querdenkers Peter Bender, dessen abstruse Theorien in der «Hohlwelt-Theorie» gipfeln. Der 1893 geborene Schriftsteller, Vortragsredner und Religionsgründer war im Ersten Weltkrieg an der Ostfront, wurde verletzt, heiratete eine Krankenschwester und zog mit ihr nach Worms. Lange bevor Donald Trump den sich selbst widersprechenden Begriff der «alternativen Fakten» in sein absurdes Vokabular eingeführt hat, ist der verquere Held dieses Romans jemand, der in seiner Blase lebt und für keinerlei wissenschaftliche Fakten empfänglich ist. Er ist einer, der sich rühmt, Kant widerlegt zu haben, ist selbst aber gegen jede Vernunft immun, bleibt geistig unrettbar in seinem Kokon gefangen. Mit Hohlwelt und Hohlkopf bringt man es auf den Punkt!

Peter Benden fühlt sich als Schriftsteller, sein einziger Roman, «Karl Tormann – Ein rheinischer Mensch unserer Zeit», wurde aber kaum verkauft, und seither beschränkt sich sein literarisches Tun auf Flugblätter. Außerdem unterhält er eine lebhafte Korrespondenz mit den wenigen Mitstreitern, die es für die «Hohlwelt-Theorie» gibt, über die er in seinen Vorträgen spricht. Sie basiert auf der Gedankenwelt von Cyrus Reed Teed, der sich «Koresh» Teed nannte, dem Gründer der «Koreshan Unity», einer in Florida ansässigen, religiösen Sekte, zu der Bender einen regen Briefkontakt pflegt. Deren zu Lebzeiten von Koresh etwa 4000 Anhänger waren überzeugt, die Welt ist nicht eine Kugel, «auf» der wir leben, sondern eine, «in» der wir leben. Sie sei auf der Innenwand bevölkert, und alle Himmelskörper, die wir sehen, seien in der Mitte platziert. Man würde viel Zeit und Geld sparen können, wenn man irgendwann quer durch die Hohlwelt reist und nicht den Umweg an der Außenhaut entlang nehmen muss. Folglich gründet Bender mit zwei Mitstreitern schon mal die «Wormser kosmologische Vertikalreise-Gesellschaft».

Er ist auch politisch aktiv und beteiligt sich 1918 an der Gründung des «Wormser Arbeiter- und Soldatenrats». Ein Jahr später gründet er die Religions-Gemeinschaft «Wormser Menschengemeinde», wird wegen Gotteslästerung angezeigt und zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt, später landet er sogar für kurze Zeit im Irrenhaus. Mit einer abstrusen, durch ein Kreuz symbolisierten «Doppel-Paar-Theorie» handelt er sich auch noch eine Klage wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften ein. ‹Eigene Gedanken wagen› ist Peter Benders Credo, schon beim Militär hat er einen Kameraden zu überzeugen versucht, dass die Überlebenschance bei einem Gasangriff mit Maske geringer sei als ohne Gasmaske. Ähnliches haben die Querdenker und Impfgegner unserer Zeit bei Corona ja auch behauptet, oder etwa nicht? Anfangs ihrer Ehe können die Benders von einer stattlichen Mitgift leben, seine Einkünfte als Vortragsredner hingegen sind kümmerlich. Durch Weltwirtschaftskrise und galoppierende Inflation ist die Mitgift dann aber bald aufgebraucht, sie kommen in finanzielle Nöte und müssen Beide Nachhilfestunden geben, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Die Romanfigur Peter Bender ist ein weltfremder Spinner, ein Möchtegern, der davon überzeugt ist, das «Majorat des Geistes» sei in ihm verkörpert, er sei im übrigen auch der legitime Nachfolger des «Koresh» und damit Führer der «Koreshan Unity». Auffallend ist die fehlende Distanz des Autors zur Romanfigur, erzählt wird das alles nämlich ohne jede ironische Brechung, die hier doch wahrlich angesagt wäre! Bender wird stattdessen geradezu liebevoll behandelt, obwohl er menschlich recht unsympathisch wirkt, ein Egomane, untreuer Ehemann, desinteressierter Vater, eine verkrachte Existenz also auch in emotionaler Hinsicht. So ausufernd, wie der Plot angelegt ist, werden insbesondere die ‹spinnerten› Passagen durch ständige Wiederholung schnell langweilig, ja geradezu lästig beim Lesen. Einzig erfreulich ist die stilistische Seite dieses Romans, er ist angenehm lesbar, sprachlich virtuos und wortgewaltig.

Bewertung vom 06.08.2024
Laufendes Verfahren
Röggla, Kathrin

Laufendes Verfahren


gut

Die Beobachter-Clique auf der Empore

Selten ist sich das Feuilleton so uneins wie bei der Beurteilung des Romans «Laufendes Verfahren» von Kathrin Röggla, und ähnlich zwiespältig ist auch das Echo aus Leser-Kreisen. Es handelt sich, worauf ja schon der Titel hindeutet, um eine Geschichte aus dem Gerichtssaal, hier dem Saal A101 des Münchner Oberlandesgerichts. In dem wurde vor dem 6. Strafsenat an 438 Verhandlungstagen der NSU-Prozess abgehalten, eines der spektakulärsten Gerichtsverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Es ging, soviel sei angemerkt, um neunfachen Mord an Migranten, dem Mord an einer Polizistin, 43 Mordversuchen, um 2 Sprengstoffanschläge und um 15 Raubüberfälle, verübt von der Terrorgruppe National-Sozialistischer Untergrund. Kann man auf knapp 200 Seiten einen Roman über einen solch monströsen Kriminalprozess schreiben?

Man kann! Wenn man sich, wie die Autorin das tut, dem Verfahren konsequent aus einer ganz bestimmten Sichtweise widmet, der jener Prozess-Beobachter nämlich, die in München auf der Empore sitzen. Erzählt wird aus einer Wir-Perspektive im Futur II, bei der die Autorin eben gerade nicht im Pluralis Majestatis spricht, wie vielfach fälschlich behauptet wurde. Ihr geht es dabei um die Vermutungen ihrer bunt zusammen-gewürfelten Beobachter-Clique über das zu erwartende juristische Prozedere und das bekanntermaßen oft groteske Hickhack zwischen den Prozess-Beteiligten. Ebenso konsequent werden auch keine Namen genannt in diesem Roman, es gibt den «Vorsitzenden», die «Beisitzer», die «Staatsanwälte», die «Verteidiger», die «Anwälte der Nebenanklage», die «Zeugen». Einzig der Opfer ist im Nachspann des Romans ein namentliches Gedenken gewidmet. Auch für ihre Beobachter hat die Autorin übrigens keine Namen. Sie heißen, entsprechend ihrer Rolle in den Gesprächen unter sich und nach dem wenigen, was man von ihnen weiß, immer nur «Gerichtsopa», «Bloggerklaus», «Omagegenrechts», «O-Ton-Jurist», «Vornamenyildiz», «Die Frau von der türkischen Botschaft». Damit gelingt es der Autorin auf eine raffinierte Weise, ganz verschiedene Typisierungen vorzunehmen, ohne jede einzelne ihrer Figuren psychologisch determiniert zu beschreiben. Sie benutzt dazu vielmehr sehr geschickt ihre verbalen Geplänkel, ihre selbstgespräch-artigen Monologe, ihre gegenseitigen Belehrungen. Aus denen sich übrigens das erzählende Ich komplett heraushält, - es berichtet nur.

Natürlich ist es unmöglich, in einem kurzen Roman wie diesem die hanebüchenen Fehler und unverzeihlichen Versäumnisse bei der Aufklärung der Verbrechen gebührend abzuhandeln. Und auch die juristische Aufarbeitung solch terroristischer, fremden-feindlicher Straftaten kann allenfalls angedeutet werden. Die ganze Thematik ist hier komplett auf die Instanz der Beobachter verlagert, die sich auch über das Ungesagte im Prozessverlauf untereinander austauschen. Die da zum Beispiel über das beredte Schweigen der weiblichen Angeklagten diskutieren, was sie denn auch für einen von den Verteidigern ausgeheckten Verfahrenskniff halten. So ganz nebenbei erfährt man durch all diese Erörterungen ein wenig darüber, wie es in derartigen Strafprozessen zugeht. Dass die engagierten Dispute der Empore-Clique oft auch ausgesprochen komische Züge annehmen, das bewahrt den Roman übrigens davor, nur eine staubtrockene Lektüre aus dem Gerichtsmilieu zu sein.

Trotz aller Vereinfachungen steht die Dokumentation des Prozesses in diesem Roman stets im Vordergrund, auch wenn das durch die unkonventionelle Erzähl-Perspektive nicht erkennbar vorgegeben zu seien scheint. Dieser Chor der Erinnyen, verkörpert durch die Beobachter-Clique auf der Empore, die Stimme des Volkes quasi, kommentiert und bewertet teilweise durchaus kompetent, was sich da abspielt in diesem denkwürdigen Mammut-Prozess. Und dass dabei die Gräuel der Taten, die Trauer der Hinterbliebenen, das Versagen der Polizei, die Rolle des Verfassungs-Schutzes weitgehend außen vor bleiben, das kann einem fiktivem, literarischem Werk wie diesem wahrlich nicht angekreidet werden!

Bewertung vom 02.08.2024
Kochen im falschen Jahrhundert
Präauer, Teresa

Kochen im falschen Jahrhundert


weniger gut

Du bist, was du isst

Ihre Vorliebe für das literarische Experimentieren ist auch in dem neuen Roman «Kochen im falschen Jahrhundert» von Teresa Präauer das stilistisch prägende Element. Schon der kryptische Titel deutet das an, denn das ‹Kochen› ist hier nur Mittel zum erzählerischen Zweck, und das ‹falsche Jahrhundert› weist erkennbar auf einen sozialen Konflikt hin. Im kammerspiel-artigen Setting dieses Romans wird eine Essens-Einladung gleich in drei Anläufen geschildert, womit auch drei mögliche Entwicklungen eines geselligen Abends im gehobenen Mittelstands-Milieu der Stadt Wien vorgezeichnet werden.

Im Mittelpunkt des Abends steht die «Gastgeberin», ein Frau Mitte vierzig, berufstätig und vor zwei Jahren erst in die elegante Wohnung eingezogen. Der «Freund der Gastgeberin», mit dem sie seit zwanzig Jahren zusammen ist, der aber nicht bei ihr wohnt, hilft ihr bei der Vorbereitung der Dinnerparty. Es gibt Quiche Lorraine als Hauptspeise, ein bewusst einfaches Menü für diesen ersten Dinner-Abend, der quasi auch als Einweihungs-Party für ihre Wohnung gedacht ist. Denn sie hat die elegante Wohnung zunächst mit viel Engagement eingerichtet, auch mit Antiquitäten, die sie selbst wieder aufgearbeitet hat. Nach einem Jahr aber ließ ihr Elan merklich nach, es wurde ihr plötzlich alles zuviel mit der stilvollen Einrichterei. Und so stehen auch immer noch Möbelkisten in der Wohnung herum, sie konnte sich nicht aufraffen, das alles mal auszupacken. Pünktlich ‹wie eine Schweizer Uhr› ist der «Schweizer» als erster Gast eingetroffen, ein Universitäts-Professor. Er kommt allein, seine Freundin ist leider verhindert, sie hat unaufschiebbare Arbeiten zu erledigen. Als weiter Gäste sind ein befreundetes Ehepaar eingeladen, und als die Beiden nach dem ‹akademischen Viertel› noch nicht eingetroffen sind, wird mit der ersten Flasche Crémant angestoßen. Die Verspätung beträgt schließlich eine volle Stunde. Das Ehepaar war zwar frühzeitig aufgebrochen von zuhause, hatte aber unterwegs noch einen Aperitif getrunken und auch einen Happen gegessen. Dort hätten sie die Bekanntschaft mit einem netten amerikanischen Touristen-Paar gemacht und sich dann leider total ‹verplaudert.›

Das namenlos bleibende, ebenso sympathische wie versnobte Figuren-Ensemble, zu dem sich uneingeladen später auch noch die «Amerikaner» hinzugesellen, führt im Verlaufe des Abends endlose Gespräche über ‹Gott und die Welt›, wobei im Hintergrund ständig die von der «Gastgeberin» angelegte Spotify-Playlist mit Frauen-Jazz läuft. Immer wieder werden im Roman Interpretin und, kursiv gesetzt, der Songtitel genannt, letzterer oft mit Bezug zum gerade aktuellen Gesprächs-Gegenstand. Zwischen die vielen kurzen Kapitel des Romans sind jeweils, quasi als Überschrift, Lebensmittel, Gewürze oder Getränke eingeschoben. «Romana, Rucola, Eichblattsalat» sind da zum Beispiel untereinander aufgelistet, meist ohne Bezug allerdings zu dem, was gerade auf den Tisch kommt. Die Runde der arrivierten Mittvierziger spricht über längst vergangene Studienjahre, lästert über «Foodporn», debattiert über regionale Küche, Klimawandel, Nachhaltigkeit, Politik, soziale Medien und anderes mehr.

Ohne Zweifel ist dieser Roman von einer subversiven Intention der Autorin geprägt, indem sie ironisch eine Gesellschaft beschreibt, die mittels Kulinarik, mit exquisitem Geschmack auf Distinktion bedacht ist. Geradezu zynisch wird diese snobistische Haltung im Verlaufe des Abends Stück für Stück ad absurdum geführt, zerbröckelt die trügerische Fassade hedonistischer Selbsterhöhung. Der beim Essen und Trinken als sinnstiftend hochstilisierte Geschmack wird in dieser soziologischen Milieustudie kritisch hinterfragt. Stilistisch wird überwiegend in der dritten Person erzählt, wobei in den Rückblenden in die Du-Form gewechselt wird. Es passiert nicht viel in diesem akribisch durchgeplanten Plot, die belanglosen Gespräche der Gäste plätschern ohne Höhepunkte dahin, und damit kommt auch beim Leser schnell eine gepflegte Langeweile auf, wirklich bereichernd ist das alles nämlich nicht!

Bewertung vom 30.07.2024
Unschärfen der Liebe
Overath, Angelika

Unschärfen der Liebe


schlecht

Thema verfehlt

Mit ihrem neuen Roman «Unschärfen der Liebe» hat Angelika Overath ihre Geschichte zweier schwuler Männer fortgeführt. Eine dreißigstündige Zugfahrt von Chur nach Istanbul bildet den äußeren Rahmen ihrer Erzählung, deren eigentliche Thematik die titelgebenden «Unschärfen» einer homosexuellen Beziehung sind, deren mentale Seite sich als brüchig erweist. Einerseits deshalb, weil plötzlich eine Frau unerwartet die Beziehung stört, andererseits aber auch, weil Untreue die schwule Liebesidylle stört.

In einer vorgeschalteten Landkarte ist die Reiseroute des Protagonisten Baran abgebildet, die ihn auf den Spuren vom Orient-Express quer durch den Balkan von einem Besuch in der Schweiz zurück nach Istanbul führt, wo er mit seinem Lebensgefährten Cla wohnt. Diese Reise gibt ihm Gelegenheit, Ordnung in seine plötzlich gestörte, schwule Beziehung zu bringen. In Chur hatte er Alva besucht, die ehemalige Freundin von Cla, mit dem sie ein Kind hat. In drei Tagen, die er als Gast bei ihr verbringt, verliebt er sich völlig unerwartet in sie, und ebenso unerwartet haben sie auch Sex miteinander, was ihn total ratlos macht. Mutmaßlich, das wird im Roman aber nicht deutlich, weil es der erste hetero-sexuelle Kontakt für ihn war. Unvermittelt ist er da jedenfalls in ein Liebes-Dilemma hinein geschlittert, eine Schaden anrichtende Amour fou womöglich. Alva weiß natürlich von der homosexuellen Beziehung der Beiden. Ihre Liaison mit Cla, dem Vater ihres Kindes, ist inzwischen aber beendet. Er ist damals zu Baran, seinem schwulen Geliebten, nach Istanbul gezogen. Wie soll Baran ihm das nun erklären, wenn er in Istanbul ankommt? Und wo soll das hinführen?

In eine Mènage à trois, könnte man denken! Aber da geht die schmutzige Phantasie des Lesers weit über das dröge Sinnieren des Zugreisenden hinaus. Der nämlich reflektiert nur, ausgiebig und in Rückblenden, die Geschichte seiner Beziehung mit Cla. Deshalb hat er ja die extrem langsame Eisenbahn gewählt und ist nicht wie Cla in drei Stunden nach Istanbul geflogen, er wollte Zeit haben zu Nachdenken. Seine Gedanken und Erinnerungen wechseln sich permanent ab mit banalen Beobachtungen während der langen Bahnfahrt. Es sind nicht nur die vielen Menschen, die er im Zug beobachtet und zu denen er sich Gedanken macht, ausführlich wird auch die vorbeiziehende Landschaft beschrieben, deren klimatisch bedingte Veränderungen in den dreißig Stunden der Reise augenfällig werden. Ergänzt werden diese Episoden durch historische Ereignisse, berühmte Figuren und bemerkenswerte Bauten in den durchreisten Gebieten. Diese häufigen, fragmentarischen Einschübe ohne jeden inneren und äußeren Zusammenhang reichen von Exkursen über das Bergsteigen, über das Massaker von Vukovar und historisch bis zum römischen Kaiser Konstantin oder zu Atatürk, dem Staatsgründer der Türkei. Sie sind aber auch philosophisch, zum Beispiel wenn er über den Gottesbegriff bei Cusanus nachdenkt.

Der Roman ist mit derlei Exkursen deutlich überfrachtet, seine ja schon im Titel angedeutete, eigentliche Thematik, die «Unschärfen der Liebe», tritt als roter Faden der Geschichte weit in den Hintergrund. Gleiches gilt für die drei Romanfiguren, zu denen man keine Empathie aufzubauen vermag, sie bleiben ebenso blass wie all die namenlosen Zufallsfiguren, die den Weg des Reisenden kreuzen, oder wie die Menschen, die ihm im Leben begegnet sind. Einzig gelungen, aber eigentlich fehl am Platze, da sie rein gar nichts zum Thema beitragen, sind die unzähligen Beschreibungen der vorbeiziehenden Landschaften und Bahnstrecken. Als Reisebeschreibung «Im Orientexpress unterwegs» wäre das Buch aufgrund seiner gelungenen Schilderungen von Land und Leuten sicherlich eine interessante Lektüre. Die problematisch gewordene Schwulenliebe aber wird nur unzureichend thematisiert, sie geht unter in all den oft langweiligen Nebengeschichten. Zu allem Überfluss lässt die Autorin am kitschigen, völlig deplazierten Ende auch noch alles offen. «Thema verfehlt» hieß so etwas früher im Deutschunterricht!

Bewertung vom 28.07.2024
Doppler
Oláh, Thomas

Doppler


gut

Bösartig unterhaltsam

Einer der Nominierten für den Deutschen Buchpreis 2023 ist der Österreicher Thomas Oláh mit seinem Debütroman «Doppler», der vom deutschen Feuilleton, ganz im Gegensatz zu anderen Büchern aus den großen und bekannten Verlagen, völlig ignoriert wurde. Bei Perlentaucher, verlässliche Informations-Quelle über das Echo in den Medien, findet sich einzig eine Buchkritik des Deutschlandfunks. Ganz anders bei den privaten Kritikern im Versand-Buchhandel, aber auch bei Literaturkritik.de, wo der Roman, wie die anderen Nominierten auch, eine durchaus ‹normale› Beachtung und wohlwollende Aufnahme findet. So weit, so (nicht) gut, denn dem Kostümdesigner und Kulturhistoriker ist mit seinem Erstling ein durchaus lesenwerter Roman gelungen, der mehr Beachtung verdient hätte.

In einem turbulenten Plot erzählt ein namenlos bleibender Junge gleich zu Beginn völlig emotionslos, mit einem verstörenden Fokus selbst auf die kleinsten Details, was bei dem Autounfall 1970 passiert ist, den er als Einziger überlebt hat. Seine Eltern und sein jüngerer Bruder kamen dabei ums Leben, er selbst landete mit Gehirn-Erschütterung im Krankenhaus. Fortan lebt er bei seinen Großeltern auf dem Lande, die in langer Familien-Tradition Weinanbau betreiben. Als nicht-österreichischer Leser lernt man in diesem Roman so einige sprachliche Besonderheiten und viele spezifische Begriffe, zu denen auch der titelgebende «Doppler» gehört. Gemeint ist damit eine Zweiliterflasche, in der landesüblich der Wein abgefüllt wird. Der Autor lässt es sich aber auch nicht entgehen, in einem der Kapitel den von seinem österreichischen Entdecker erstmals theoretisch beschriebenen Doppler-Effekt zu thematisieren und spöttisch, so ganz nebenbei, amüsante Verbindungen zwischen Physik und Wein herzustellen.

Überhaupt spielt der Wein in diesem Roman eine tragende Rolle, es wird hier unglaublich viel getrunken, natürlich auch in der Weinbauern-Familie, wobei dem edlen Getränk ehrfürchtig ‹zugesprochen› wird, es wird goutiert, nicht gesoffen! Die dabei üblichen Rituale permanenter Verkostung werden weitervererbt, sogar der kleine Enkelsohn und Ich-Erzähler bekommt Wein zu kosten und entwickelt nach anfänglichen Schwierigkeiten tatsächlich eine beachtliche Kennerschaft. Er beobachtet, wie auch der Pfarrer das Weintrinken zum andächtigen Ritual erhebt, nicht weniger innig, wie es scheint, als bei der Andacht in seiner Kirche. Religion und Wein, Katholizismus und Alkoholismus gehen hier wie selbstverständlich eine symbiotische Beziehung ein, spottet der Autor. Die Roman-Figuren sind allesamt archetypisch und leben in einer Zeitblase, die keinen Fortschritt kennt. Allein durch ihre Namen schon werden sie vom Autor stimmig charakterisiert, da gibt es den «grausamen Onkel», der die Prügelstrafe wie eine Messe zelebriert, und dessen Söhne sind die «enthusiastischen Cousins», zwei bösartige Volltrottel. Es gibt den «Onkel mit dem wilden Auge», der schielt, oder die «kindische Tante», eine Epileptikerin, schließlich die «lachende Cousine», die, ein paar Jahre älter schon, sich mit dem jungen Ich-Erzähler zum Petting trifft.

«Doppler» ist, ohne erkennbaren biografischen Bezug, offensichtlich eine Abrechnung des Autors mit seiner Heimat zu jener Zeit. Sein Text ist bissig, durch die distanzierte, geradezu lakonische Erzählhaltung aus der Kinderperspektive aber auf bösartige Weise auch unterhaltsam. Der Plot besteht aus lauter erzählerischen Miniaturen, zu denen vor allem die mit beängstigender Phantasie ausgemalten, gewaltgeprägten und saudummen Jungenstreiche zählen. Eine zweite Erzählebene bildet die geradezu mystisch erhöhte Weinwelt mit dem archaischen Leben dort. Dazu gehören auch Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, dessen Ende hier im Ort in einer Rückblende erzählt wird. Die birgt auch Geheimnisse, welche unerreichbar tief im Gedächtnis der Menschen verankert sind. Dieser oft übertrieben bösartige Roman ist vor allem durch seinen schwarzen Humor gekennzeichnet, sein kreativer Wortwitz trägt einiges dazu bei.

Bewertung vom 25.07.2024
Ein Hund kam in die Küche
Mall, Sepp

Ein Hund kam in die Küche


gut

Eine fatale Fehlentscheidung

Das Kinderlied «Ein Hund kam in die Küche» hat dem Schriftsteller Sepp Mall als Titel für seinen historischen Roman gedient, in dem der Südtiroler von einer tragischen Periode in der Geschichte seiner Heimat erzählt. Durch das «Hitler-Mussolini-Abkommen» war die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols damals vor die Wahl gestellt, sich nach dem Motto «Heim ins Reich» nach Deutschland oder aber nach Süditalien umsiedeln zu lassen. Etwa 75000 Menschen wählten das Deutsche Reich als neue Heimat. So entschied sich 1942 auch die Familie von Ludi, dem anfangs 11jährigen Ich-Erzähler des Romans. Dessen Vater ist ein fanatischer Nazi. der es kaum erwarten kann, sich als Soldat für die deutsche Wehrmacht zu melden.

Ludis Mutter ist eher skeptisch, fügt sich aber der folgenschweren Entscheidung des Vaters. Erste Station der Umsiedlung ist Innsbruck, wo die Familie für die Einbürgerung einige Formalitäten erledigen muss, zu denen auch eine ärztliche Untersuchung gehört. Ludis innig geliebter, fünfjähriger Bruder Hanno ist geistig und körperlich behindert, die Ärzte ordnen deshalb seine Einweisung in eine Spezialklinik an. Ohne ihn zieht die Familie weiter in den Reichsgau Oberdonau im heutigen Oberösterreich, wo ihnen in einem kleinen Ort eine Wohnung zugewiesen wurde. Zwei Wochen später werden dort auch ihre Unzugsmöbel angeliefert, kurz darauf muss der Vater seinen Dienst in der Wehrmacht antreten. Ludi, der alle seine Freunde und Schulkameraden aus dem Bergdorf in Südtirol verloren hat, findet sich nun in einer fremden Umgebung wieder, wo er niemanden kennt. Statt in den Bergen wohnt er nun im Flachland an der Donau, aber er findet dort bald schon einen Freund, mit dem er durch die Gegend streunt. Irgendwann kommt dann ein Brief aus der Heil- und Pflegeanstalt, in dem der Tod von Hanno angezeigt wird, er sei an einer Lungenentzündung gestorben.

Man weiß als Leser von Anfang an, dass Hanno der Euthanasie zum Opfer fallen wird, es war einfach heuchlerisch von den Ärzten, von Heilung in einer Spezialklinik zu sprechen. Sepp Mall versteht es, durch die kindliche Perspektive des Ich-Erzählers selbst dieses Grauen ganz naiv zu schildern, die Wahrheit wird hier nicht mal angedeutet. Und auch der Mutter bleibt nichts anderes übrig, als zu glauben, was ihr amtlich mitgeteilt wird, Zweifel kommen ihr nicht. Nach dem Krieg kehren Ludi und seine Mutter illegal über die grüne Grenze in ihr Heimatdorf nach Südtirol zurück. Sie haben sich an der Donau nie wohlgefühlt und sind dort immer nur Fremde geblieben. So geschieht es ihnen nun auch in Südtirol, man betrachtet sie misstrauisch, sie sind ja Deutsche geworden. Die ehemaligen Freunde aber sind durch die Umsiedlungen in alle Winde zerstreut, daran können sie nicht wieder anknüpfen, sie sind nun auch hier in ihrer alten Heimat Fremde geworden. Das ändert sich auch nicht, als der Vater als seelischer Krüppel aus Kriegs-Gefangenschaft zur Familie heimkehrt. Er kann die Schrecken des Krieges und der Lagerhaft nicht verarbeiten und ertränkt sie im Alkohol. Die Folgen all dieser unheilvollen Veränderungen wirken bis heute nach in nicht wenigen Südtiroler Familien.

Neben der äußerst behutsamen Schilderung dieser familiären Katastrophe gibt es auch rohe Szenen, beim Metzger nebenan beispielweise werden immer wieder Tiere geschlachtet, es fließt ständig Blut im Hof. In einer Szene findet Ludi mit seiner Freundin einen toten Hirsch im Wald. Das Tier ist schon eine Weile in Verwesung, sein Anblick aber wird hier in allen ekligen Details geradezu masochistisch beschrieben. Man ist schockiert, aber auch das ist der kindlichen Erzähl-Perspektive geschuldet, deren Empfindungen noch weitgehend unbelastet sind. Im Gegensatz dazu steht die berührende Schilderung der innigen Bruderliebe von Ludi, der noch jahrelang nicht nur im Traum mit Hanno spricht. Der Bruder ist als Geist geradezu körperlich präsent, er kann dann richtig sprechen und sich auch normal bewegen. Betroffen stellt man als Leser fest, dass hier nicht der Hund aus dem titelgebenden Kinderlied erschlagen wird, sondern auch das ganze Lebensglück dieser unschuldigen Familie.

Fazit: lesenswert
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Bewertung vom 22.07.2024
Zeitzuflucht
Gospodinov, Georgi

Zeitzuflucht


ausgezeichnet

Amnesie statt Anästhesie

Der kryptische Titel «Zeitzuflucht» des neuen Romans von Georgi Gospodinov steht für eine kreative Thematik. Der Ich-Erzähler, ein bulgarischer Schriftsteller, hat sich einen Psychiater als Protagonisten erschaffen, den er Gaustin nennt, ein Zeitreisender, der durch die Jahrzehnte des 20ten Jahrhunderts flaniert. Mit seiner amüsanten Dekonstruktion nostalgischer Sehnsüchte desavouiert der Autor gekonnt den aktuellen politischen Rechtsruck in Europa, der alles andere als lustig ist. Nicht zuletzt deshalb, und für die literarisch exzellente Umsetzung des Stoffes, erhielt der Autor 2023 den International Booker Prize für fremdsprachige Erzählungen.

Die Figur des Gaustin hat sich im Roman quasi verselbständigt, der Autor und er arbeiten eng zusammen, diskutieren miteinander und vertreten sich gegenseitig. Bei der Behandlung von Demenzkranken ist Gaustin auf die Idee gekommen, den Patienten durch einen Rückgriff auf die Vergangenheit zu helfen. Und zwar durch eine vertraute Umgebung, an die sie sich erinnern können und wo sie sich dann auch wieder zurechtfinden im Leben, immer nach dem Motto: «Amnesie statt Anästhesie!» Er baut in Zürich eine Klinik auf, in der in jedem Stockwerk ein anderes Jahrzehnt des 20ten Jahrhunderts detailgetreu wie im Museum rekonstruiert ist. Ein therapeutischer Ansatz, der sich als äußerst erfolgreich erweist und andernorts viele Nachahmer findet. Alle haben die Hoffnung, durch diesen Zeitenwechsel den Schrecken der Gegenwart entfliehen zu können, und schon bald verwandelt sich die Therapie in ein politisches Programm. In kürzester Zeit werden ganze Stadtviertel in ein vergangenes Jahrzehnt zurückversetzt, bald auch ganze Städte. Schließlich ist die Sehnsucht nach Vergangenheit so groß, dass einzelne Staaten und dann auch die gesamte EU sich in die Vergangenheit zurückversetzen wollen. In verschiedenen Ländern werden Referenden abgehalten, bei denen die Bevölkerung das vergangene Jahrzehnt wählen kann, in dem die Menschen künftig wieder leben wollen.

Mit nicht zu übersehendem Spott berichtet der Schriftsteller von den Diskussionen mit seinem Protagonisten Gaustin, der ziemlich entrückt das Geschehen aus der Ferne verfolgt und dann immer wieder mal für Jahre spurlos verschwunden ist. Genüsslich schildert Georgi Gospodinov das von ihm erdachte, aberwitzige Szenario, berichtet von seinen Erlebnissen in den verschiedenen Jahrzehnten, die er besucht. - Wohlgemerkt, man besucht nicht mehr Orte, sondern Zeiten! Und geschickt nutzt der Autor auch das entstandene Chaos zu vielfältigen Reflexionen über politische und historische Gegebenheiten, so wenn er gegen Schluss ausführlich über die Referenden in den einzelnen Staaten Europas berichtet. Dabei lässt er sich kenntnisreich und amüsant über dortige Animositäten, Befindlichkeiten und Sehnsüchte aus. All das ist eine kontemplative Tour d’Horizont auf nostalgischen Pfaden der europäischen Geschichte, prall gefüllt mit Anekdoten, Ereignissen, Wegmarken und Irrwegen. Konsequent lässt er die Menschen in diesem speziellen Setting alle historischen Stationen durchlaufen, auch Erster und Zweiter Weltkrieg nicht ausgeschlossen, er thematisiert die Balkankriege ebenso wie den Brexit oder Donald Trump. Besonders aber die ehemaligen Ostblockstaaten werden kritisch durchleuchtet in ihren Befindlichkeiten. Viel Raum nimmt dabei natürlich Bulgarien ein, das zwar mit Spott und Häme überzogen wird, letztendlich aber immer die Heimat des Autors bleibt, soviel Patriotismus sei ihm erlaubt!

Diesen Roman zu schreiben ist ein wahrhaft schwieriges Unterfangen mit vorhersehbaren Problemen gewesen, die der Autor aber souverän zu unterlaufen versteht mit allerlei literarischen Tricks. Zu denen gehört insbesondere die scheinbar eigenmächtig handelnde Figur des Gaustin, Spießgeselle des Autors. Es gibt dermaßen viele historische Verweise, literarische Bezüge und philosophische Thesen, dass der Leser über so manche surreale Konstellation hinweg liest oder das Fehlen von Realität partout nicht empfindet. Er schwebt vielmehr gedanklich in anderen Jahrzehnten, zumal wenn er zu den «älteren Semestern» zählt.

Fazit: erstklassig