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Top-Rezensenten Übersicht

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wilde hummel 1
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 61 Bewertungen
Bewertung vom 23.05.2023
Zwischen Himmel und Erde
Rodrigues Fowler, Yara

Zwischen Himmel und Erde


weniger gut

Zwischen Himmel und Erde - ein vielversprechender Titel und ein dicker, aber vor allem schwerer Roman. Da treffen zwei junge Frauen in einer Wohngemeinschaft in London aufeinander; Catarina, neu aus Brasilien eingereist und Melissa, in London aufgewachsen mit brasilianischen Wurzeln. Beide Protagonistinnen bleiben emotionslos, irgendwie auch fremd, die meisten Verbindungen sind politische und feministische Treffen. Spannender wird der Roman, wenn die beiden Frauen von ihren Herkunftsfamilien erzählen. Das ist auch der lesenswerteste Teil, weil hier viel von der unruhigen Geschichte Brasiliens einfließt, von Diktatur und deren Ende, von Revolution und Verfolgung. Was jedoch den Lesefluss ungemein schwierig macht, sind die stilistisch eingestreuten lyrischen Sprenkel, mal sind es Gedichte, meist jedoch nur konstruierte Wortwiederholungen. Oder von Seite 262 bis Seite 265 werden alphabetisch Namen aneinander gereiht (Nachfahren von afrikanischen Sklaven) und ich habe in diesem Buch vieles nur noch quer gelesen oder teilweise übersprungen. Man mag es unkonventionellen Stil nennen, wenn sich mir aber insgesamt kein tieferer Sinn erschließt, hinterlässt die eigentlich interessante Frauenbegegnung eher Ratlosigkeit. Ein Roman voll mit literarischen Stolpersteinen.

Bewertung vom 16.05.2023
Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)
Boyle, T. C.

Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)


ausgezeichnet

T. C. Boyle bleibt sich selbst treu und beschert uns einen Roman mit einer erschreckenden Zukunftsvision, die anhand einer Familie in drei Episoden beschrieben wird und die Geschichte ist alles andere als klimaneutral. Wie lebt und überlebt der Mensch, wenn das Klima bereits kollabiert ist? Die Eltern Frank und Ottilie leben in Kalifornien, wo kein Tropfen Regen fällt und die großen Feuer die Bewohner angreifen. Doch Mutter Ottilie bringt umweltbewusst statt Fleisch Insekten auf den Tisch, spart Wasser glaubt an ihren reduzierten Ökoabdruck. Die Tochter Cat lebt in Florida, das langsam immer stärker im Dauerregen ertrinkt. Naiv, gelangweilt und wenig vorausschauend kauft sie sich spontan einen Tigerpython, will damit als Influencer ihre Follower beeindrucken und die Abwesenheit ihres Partners Todd kompensieren, der als Bacardivertreter durch die Welt jettet. Ihr Bruder Cooper ist Insektenforscher und will das große Sterben aufhalten und kann der ökologischen Untergangsspirale nur wenig entgegensetzen. Diese vier Hauptprotagonisten stellt uns Boyle in einer zunehmend zerstörten Umwelt vor; sie agieren jeweils schlüssig und T. C. Boyle gelingt es, sie ohne vorwurfsvolle Bewertung in ihren Lebenswirklichkeiten zu beschreiben. Wenn das Klima unaufhaltsam gekippt ist, wenn Sturm, Dauerregen, Dürre, Artensterben, Nahrungsknappheit und der Klimakollaps Wirklichkeit sind, sind sie die Zutaten für einen gesellschaftskritischen Roman, der ohne erhobenen Zeigefinger den Blick auf eine apokalyptische Zukunft lenkt. Erschreckend realistisch und spannend und wieder ein echter, engagierter T. C, Boyle.

Bewertung vom 20.04.2023
Das Café ohne Namen
Seethaler, Robert

Das Café ohne Namen


ausgezeichnet

Einfach ist nicht zugleich einfach. Und Robert Seethaler schreibt einen Roman, indem er einfach erzählt und dabei Menschen, ihre Biografien und Schicksale lebendig werden lässt, unprätentiös und dabei große Erzählkunst. Er erzählt den Alltag von Menschen, die nicht wie die Sahne oben schwimmen, die aber so authentisch und lebenswirklich sind, dass mich das Buch von Anfang an mitgenommen. Wien im Jahre 1966, eine Stadt, gerade dem Schutt entkommen, im Aufbruch zur wirtschaftswunderbaren Hoffnung und Neubeginn. Robert Simon, der Hauptprotagonist ist ein einfacher Arbeiter, der im Quartier Leopoldstadt, einem alten Arbeiterviertel in Marktnähe, ein Café eröffnet. Das Kaffeehaus ist eher eine Schankwirtschaft für die Menschen der Umgebung, eine Begegnungsstätte und ein Sammelplatz für Geschichten. Robert Simon als Wirt stellt die arbeitslose Mila ein, es kommt der Metzger, ein Schaukämpfer, Spieler, eine liebeshungrige Jungseniorin und eine geheimnisvolle Lügnerin ins Café und sie alle erhalten ein Gesicht, einen Raum, in welchem sie vorurteilsfrei ihre Persönlichkeit einbringen. Gerade die kleinen Geschichten der 'kleinen Leute', die freundliche Begleitung ihrer Lebensentwürfe und Glücksversuche machen den Roman von Robert Seethaler sehr besonders und Herr Seethaler hat nicht zufällig den gleichen Vornamen wie der Hauptprotagonist und das Buch hat eine fast distanzlose Dichte. Was so scheinbar leicht daherkommt ist ganz große Kunst. Unbedingt lesen.

Bewertung vom 04.04.2023
Keine gute Geschichte
Roy, Lisa

Keine gute Geschichte


weniger gut

Ich packe meinen Koffer und komme doch nicht wirklich weg aus Katernberg. Lisa Roy nennt ihren Roman 'Keine Gute Geschichte' und leider muss ich ihr hier im doppelten Sinn recht geben. Arielle kehrt zurück zu ihren Wurzeln und zu ihrer Großmutter, nach einem Klinikaufenthalt. Immer wieder sucht sie den einseitigen Dialog mit ihrer verschwundenen Mutter. Nun sind zwei kleine Mädchen ebenfalls verschwunden. Der Roman ist im ersten Teil vor allem eine Milieuschilderung einer typischen Trabantenstadt, einem Vorort, einem sog. Problemviertel. Und so sind auch die Protagonisten irgendwie zwar im Kontakt und zugleich beziehungslos und kühl. Die glatten Betonfassaden und die einschlägigen Läden, die Nagelstudios und die Imbisskultur, prekäre Familienverhältnisse und eine Kindheit in einer abgegrenzten Wirklichkeit. Im zweiten Teil des Romans nimmt die Geschichte dann doch noch Fahrt auf und entwickelt sich zu einem Krimi. Die Auflösung ist überraschend und gut gelungen. Leider war mir der Roman zu sehr bestückt mit 'Jugendsprech', Labels und Anglizismen. Ich hätte mir mehr Auseinandersetzung mit Herkunft und vermeintlichem Aufstieg der Protagonistin gewünscht. Wer einmal weggeht und zurückkehrt müsste mehr Draufsicht von außen haben. Aber vielleicht ist die Kernaussage, dass man das Mädchen aus der Gosse, aber die Gosse nicht aus dem Mädchen holen kann, letztendlich romantechnisch bewiesen worden. Als Ruhrgebiet Milieustudie lesbar.

Bewertung vom 15.03.2023
Der weiße Fels
Hope, Anna

Der weiße Fels


sehr gut

Anna Hope hat ihren neuen Roman raffiniert konstruiert. Vier Menschen in vier unterschiedlichen Epochen und im Mittelpunkt oder als verbindendes Element der weiße Fels. Dabei geht der Roman beginnend mit der Schriftstellerin 2020 zurück zu dem Sänger 1969, dann zurück zu dem Mädchen 1907 und dann zu dem Leutnant 1775 und in der Mitte steht der weiße Fels und ab da geht die Fortsetzung der Geschichten aufsteigend wieder bis hin zur Gegenwart. Es blieben vier ineinander geschachtelte, von einander unabhängige Erzählungen, wenn die Schriftstellerin nicht mit viel literarischem Geschick feine Verbindungen und Kausalitäten in die Zeitgeschichte eingearbeitet hätte. Der Ort (der weiße Felsen) steht felsenfest im Roman und die Kolonisierung und Ausbeutung durch die Spanier, die Vertreibung der indigenen Gruppe der Yoemem, die Drogenabhängigkeit und Haltlosigkeit eines Rockstars und die Pilgerfahrt einer Schriftstellerin als rituelle Danksagung umkreisen den Felsen und erzählen dabei viel von der Zerstörung, von Verfolgung, von Verfall und Entfremdung des Menschen. Anna Hope macht dies ohne Pathos, stellt die Geschichten einfach zur Verfügung und überlässt mir als Leserin das Nachdenken über die Zusammenhänge von Ursprung und Gegenwart. Ein empfehlenswertes Buch mit einem sehr schönen Cover.

Bewertung vom 10.03.2023
Die spürst du nicht
Glattauer, Daniel

Die spürst du nicht


ausgezeichnet

Das Buchcover ist bereits bedeutungsschwanger. Da sind zwei dunkle Mädchenbeine zögernd am Rand eines Pools. Die Geschichte beginnt mit einem gemeinsamen Urlaub zweier Familien aus dem Wiener Bildungsbürgertum in einer Villa in der Toskana. Die 14-jährige Tochter Sophie Luise setzt die Mitnahme der Mitschülerin Aayana durch. Aayana ist ein Flüchtlingskind aus Somalia mit gesichertem Asylstatus. Und dann nimmt das Unglück seinen Lauf. Daniel Glattauer beschreibt mit Humor und Satire die Beteiligten und die Situationen. Aber schnell gefriert einem das Schmunzeln, weil die "schwarze Säule", die Mutter von Aayana in ihrer Burka ein Mensch ist. Mit Sprachwitz werden gesellschaftliche Positionen und Wertesysteme vorgeführt und entlarvt. Da werden die kleinen Lügen der engagierten Grünenpolitikerin karrieregefährdend gewichtig, weil ein Anwalt zum Mandanten der somalischen Familie wird und eine hohe Geldforderung für erlittenen Schockschaden einfordert. Fein säuberlich wird hier ein Gesellschaftsbild seziert und zerlegt, bis die individuellen Wahrheiten demaskiert sind. Im Roman wechseln Tragik und Komik und durch die immer wieder eingeschobenen Posts aus den Sozialen Foren und den Pressemeldungen erhält der Roman eine vielschichtige Aktualität und Kommentierung. Der Roman enthält zwar auch viele Klischees, aber aus der Überzeichnung entsteht auch das Hinterfragen. Die Geschichte zwischen dem Sohn der somalischen Familie und der Tochter Sophie Luise ist m.E. nicht zwingend und ein wenig zu viel hineingepackt. Ansonsten ein unbedingt lesenswertes Buch.

Bewertung vom 03.03.2023
Wovon wir leben
Birnbacher, Birgit

Wovon wir leben


sehr gut

Birgit Birnbacher nennt ihren Roman nicht von ungefähr 'Wovon wir leben' und nicht 'Wofür wir leben'. Das Wovon sucht die Quellen, die Zusammenhänge, die das Leben von Julia, der Hauptprotagonistin prägen. Julia ist Krankenschwester und verliert ihre Stelle in der Klinik in der Stadt und kehrt eher unfreiwillig in ihr Dorf und in die Familie zurück. Hier wird von ihr auch die Rückkehr in tradierte Frauenrollen erwartet. Der Vater nimmt sie teils mit drastischen Erpressungsaktionen in die Pflicht; denn Frau sein bedeutet Fürsorgerin, Bedienerin, Pflegerin sein. Die Mutter hat das familiäre Pflichtenheft abgegeben und ist nach Italien entflohen. Julia lernt einen jungen Mann kennen, der meist nur als der Städter bezeichnet wird. Birgit Birnbacher gelingt eine sehr präzise Beschreibung einer dörflichen Gemeinschaft im Innergebirg mit ihrer Tristesse, ihrer unausweichlichen Rollenverteilung und Beengtheit und durch die Gegenüberstellung von konträren Blickwinkeln, erhält der Roman eine eindringliche Spannung. Der Städter träumt Zukunft, die Dörflerin sieht die realen Hürden; der Vater erzwingt Fürsorge, Julia ersehnt persönliche und berufliche Freiheit. Die Sprache des Romans ist von einer literarischen Prägnanz mit wunderbaren eingestreuten Wortschöpfungen und ich kann dieses Buch absolut empfehlen.

Bewertung vom 01.03.2023
Gleißendes Licht
Sinan, Marc

Gleißendes Licht


gut

Marc Sinan lässt in seinem Roman Gegenwart und Geschichte sehr geschickt ineinanderfließen. Kaan, der Hauptprotagonist wächst als Kind einer türkischen Mutter und eines deutschen Vaters am Stadtrand von München auf. Die Mutter, als etablierte, berufstätige Frau versucht möglichst wenig türkisches Leben und Identität zuzulassen und fördert und verwöhnt ihren Sohn. Kaan wächst als voll anerkannter Junge und Jugendlicher in seiner Umgebung auf. Er verliebt sich in Zizi, mit der er eine längere Liebesbeziehung durchlebt. Kaan wird ein erfolgreicher Musiker. Leider wird er jedoch auch selbstverliebt und egozentrisch. Seine Reise nach Istanbul wird zur Konfrontation mit der Familiengeschichte. Seine Großmutter hat als armenisches Kind den Genozid überlebt, weil es von der geflüchteten Mutter zur Adoption zurückgelassen wurde. In ihrer Ehe mit einem türkischen Geschäftsmann verleugnet auch sie ihre armenischen Wurzeln. Der Mord an der armenischen Volksgruppe durchzieht den Roman wie ein genetisches Erbe. Von den ertränkten Tränen der ermordeten Kinder bis zur Wut, die Kaan immer mehr auf den türkischen Präsidenten fokussiert, spannt sich der Bogen des Romans. Dabei wechselt er häufig zwischen den Zeiten und Orten, lässt viele türkische Sätze einfließen, springt in zu viele angerissene Themen und leider ist auch das Ende eher verwirrend. Lesenswert als Buch über ein traumatisches Erbe eines Völkermordes und generationsübergreifender Disposition.

Bewertung vom 19.01.2023
Der Inselmann
Gieselmann, Dirk

Der Inselmann


ausgezeichnet

Dieses kleine Buch ist ein großes Buch, ein dünnes Buch, aber dicht, eindrücklich und von wunderbarer Sprache. Dirk Gieselmann ist eine Wortezauberer, der es schafft, ein ganzes Leben in seiner Einsamkeit und zugleich seiner Schönheit zu beschreiben. Der Rahmen der Geschichte ist schnell erzählt. Da flieht ein Ehepaar mit ihrem 10-jährigen Jungen auf eine einsame, unbewohnte Insel in einem See. Hans, der Junge erfährt die Insel, übernimmt sie als Fluchtort und stille Heimat. Aber Hans ist kein Hans im Glück und er muss seine Insel verlassen, landet in einem Erziehungsheim für 'schwierige Kinder', übersteht dieses mit Narben und Verhärtungen und folgt seiner Sehnsucht nach Rückzug auf seine Insel. Hans sucht und flieht zugleich. Sein ganzes Leben ist geprägt von Einsamkeit und Stille, er steht abseits der menschlichen Gemeinschaft und wohnt doch intensiv in sich und der Natur. Die Insel, sein Kleinamerika ist sein Hort und dort verbleibt er bis er selbst zum Mythos, zum Inselmann wird. Ich bin tief bewegt von diesem Buch, das so traurig und zugleich so wunderschön ist und ich habe es möglichst langsam gelesen, wie eine Kostbarkeit, die lange in mir nachklingen soll. Dieses Buch werde ich mehr als einmal lesen, damit sich manche Sätze neu in mein Gedächtnis legen.

Bewertung vom 19.01.2023
Frankie
Köhlmeier, Michael

Frankie


sehr gut

Das Buchcover verrät es bereits - ein Autowrack im Dickicht. Da fährt etwas total in den Graben, verlässt die gerade Bahn und rutscht direkt ins Abseits. Und so verläuft die Geschichte. Ein 14-jähriger Junge holt mit seiner Mutter den bislang unbekannten Großvater nach 18 Jahren Haft aus dem Gefängnis ab. Frankie erzählt in Ich-Form, wie dieser kriminelle Großvater in sein Leben eindringt und zunehmend Einfluss gewinnt. Frankie wird zu Frank und folgt seinem Großvater, ist fasziniert und abgestoßen und kann sich dennoch dem Sog der Grenzüberschreitung nicht entziehen. Das scheinbar 'heile Zuhause' erhält Risse, durch die das Böse tropfenweise sickern kann. Wird der Junge nun zum Ausbruch aus der bisherigen Ordnung verführt oder ist die Anlage zum Bösen bereits vorhanden und wird nur geweckt. Es gibt kein Warum, keine schlüssige Folgerichtigkeit - es passiert einfach und wird emotionslos geschildert. Die Sprache ist dem Alter des Jungen angemessen und der Roman gewinnt durch die präzisen Beobachtungen und Gedanken des Jugendlichen. Das Verbrechen des Großvaters bleibt ein Geheimnis. Dafür bleibt viel Raum für die Macht der Manipulation, der Verführung und der Faszination eines Heranwachsenden für seinen Ausbruch aus seiner braven Kindheit. Unschuld und Schuld stehen sich gleichwertig gegenüber. Es bleibt offen, wie die Zukunft von Frank aussehen wird, ob außerhalb oder innerhalb der legalen Konventionen.