BenutzerTop-Rezensenten Übersicht
Bewertungen
Insgesamt 69 BewertungenBewertung vom 29.08.2023 | ||
Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Friedemann Karig lässt in seinem Roman Fiktion und Wirklichkeit immer wieder sich umspielend offen. Leider mochte ich persönlich das Buchcover nicht, wenngleich es wohl die diffuse Persönlichkeit der Hauptprotagonistin andeuten soll. Clara, eine Frau, die vermutlich auf Grund einer bipolaren Störung in einer Klinik ist und dort ihrer Therapeutin Geschichten ihrer selbst erzählt. Geschickt vermischen sich Lügen, Wahrheiten, Manipulation und die Kraft der Suggestion miteinander. Hat Clara nun die Fähigkeit, andere Menschen mittels ihrer Gedanken zu beeinflussen, deren Wünsche und Zukunft zu erkennen und sich selbst immer wieder neu zu entwerfen? Die innere Erzählerin kreiert Wahrheiten, beschreibt Episoden und Geschichten und ob diese real oder fiktiv sind, bleibt genauso changierend wie die vielen Ichs von Clara. Ein psychologisches Spiegelkabinett, in dem sich Clara in erfundenen Erlebnissen irgendwie auch verirrt, bewusst falsche Fährten legt und andere Menschen austestet. Das Lügen zur Herstellung von Bedeutung. Der Schreibstil von Friedemann Karig macht das Buch flüssig lesbar. Die in Kursiv geschriebenen wörtlichen Dialoge durchziehen die Geschichte wie ein Leitfaden, helfen zur Orientierung, damit ich mich als Leserin nicht völlig im Spinnennetz der Lügen verfange. Clara oder wie auch immer sie wirklich heißt -eine schillernde Persönlichkeit und so auch der Roman. "Sie lügt, denn wer am besten lügt, erzählt auch am besten" (Seite 220). Das Ende überraschend plötzlich. |
||
Bewertung vom 23.08.2023 | ||
Nilufar Karkahiran Khozani nennt ihren Roman Terafik und der Titel ist bezeichnend für das tägliche Verkehrschaos in Teheran und für das gebrochene deutsch des Vaters. Nilufar ist in Gießen geboren und die Tochter von Khosrow, einem eingewanderten Iraner und einer deutschen Mutter. Die Eltern trennen sich und der Vater kehrt zurück in den Iran. Für Nilufar ist der Vater relativ fremd. Auf Drängen des Vaters reist Nilufar in den Iran und lernt dort eine Vielzahl an Verwandten, an Regeln und iranischem Alltag kennen, sowohl die Herzlichkeit und die Gastfreundschaft, als auch die Einschränkungen der eigenen Freiheit, z.B. Bewegungsfreiheit, Kleiderordnung, Verhaltenskodex. Nilufar erfährt viel von ihrem Vater, der eine schillernde Persönlichkeit ist, ehrgeizig und immer wieder neu beginnt. Er bemüht sich neben der gesellschaftlichen Anerkennung um die Zuneigung der Tochter. Was diesen Roman so lesenswert macht, ist die vorurteilsfreie Beschreibung eines fremden Landes mit all seinen Facetten. Das Kopftuch ist Bestandteil im öffentlichen Leben der Frauen und der Roman verzichtet bewusst auf provozierende Polarisierungen. Die eingefügten WhatsApp-Nachrichten des Vaters an seine Tochter in Ausländerdeutsch und die Rückblicke auf die gemeinsamen Jahre in mehreren deutschen Städten zeigen einerseits die Zerrissenheit, aber auch, dass der Spagat in zwei sehr unterschiedlichen Lebenswelten Brücken zulässt und Heimat nicht nur ein fixer Ort sein muss. Der Roman hat mich auf eine intensive Reise in ein mir fremdes Land mitgenommen. Lesenswert |
||
Bewertung vom 17.08.2023 | ||
Das Thema der willkürlichen Schülervermischung vor dem historischen Hintergrund in Boston war für mich der Eintritt in das Buch. Leider wurde dieser Aspekt nur am Rande behandelt. Sehr spannend und gelungen waren die Charaktere der handelnden Personen. Jede und jeder war in seiner Persönlichkeit und seinem sozialen Umfeld gefangen. Der Autor ließ den Akteuren, egal ob ihre Handlungen nach der Norm gut oder schlecht waren, immer einen Platz zur Rechtfertigung. Gelungen ist die Betrachtung des permanenten Rassismus, der leider immer noch in vielen Ländern und Kulturen vorhanden ist. Dennis Lehane ist es gelungenen, einen historischen Roman als Krimi zu präsentieren, mit allen Zutaten, um eine bis zum Schluss ins unausweichliche Ende der Hauptakteurin gehende Dramaturgie. Mary Pat die tragische und schuldige Heldin ist eine Bereicherung für die Literatur. |
||
Bewertung vom 15.08.2023 | ||
Germana Fabiano erzählt die Geschichte des Thunfischfangs, beginnend 1960 und die Veränderung bis 2012. Eine kleine Insel nahe Sizilien (Katria) lebt vom Thunfischfang und alles dreht sich um die Mattanza. Es blättert sich eine Welt auf, die bestimmt ist von uralten Regeln und Hierarchien, von tradierten Bräuchen und einer Lebensgemeinschaft in Abhängigkeit vom Erfolg des Thunfischfangs. Als kein männlicher direkter Nachfolger geboren wird, wird Eleonora (Nora) zum Raìs ernannt. Das Mädchen übernimmt die ihr zugedachte Aufgabe und Rolle als Anführerin. Spannend auch die Beschreibung des Thunfischfangs, wenn der Schwarm geortet und gehoben wird. Dabei wird auch die Schwere und das blutige Abschlachten nicht verschwiegen. Das Dorf lebt vom Fisch, dem Eindosen in einer Konservenfabrik, die einer reichen Familie gehört. Die Patrone minimieren sich zahlenmäßig, als der Verkauf der Fabrik droht. Ein Dorf hält zusammen und doch können sie die Veränderungen nicht aufhalten. Andere fangen den Thunfisch ab, ehe er in die Gewässer von Katria schwimmt, die ersten Touristen kommen auf die Insel und im letzten Teil treibt es die Flüchtlinge an ihre Küste. Die Bewohner*innen fischen nun Menschen. Das kleine Buch erzählt vom Wandel einer abgelegenen Insel, die doch dem Weltenlauf ausgesetzt ist und wie sich die Bewohner darin einfinden. Schön sind auch die kleinen Geschichten und Ereignisse der anderen Insulaner. Persönlich hätte ich mir noch etwas mehr Reflexion der Hauptprotagonistin Nora gewünscht, ein wenig mehr Beschreibung der emotionalen Entwicklung und Auseinandersetzung. Ein kleiner Roman, der uns viel Einblick in den tradierten Thunfischfang und in die alten Regeln des Zusammenlebens auf einer abgelegenen Insel gibt. |
||
Bewertung vom 29.07.2023 | ||
Gleich vorab: Paradise Garden ist ein wunderschönes, trauriges und zugleich tief freundlich-versöhnliches Buch. Der erste Satz "Meine Mutter starb diesen Sommer" und "Am Tag, als meine Mutter starb, fiel ich auseinander" (Seite 7). Es ist die Geschichte der 14-jährigen Billie, der eigenwilligen, liebevollen Mutter, der aus Ungarn zugereisten Großmutter und die Suche nach einem Vater. Eine Coming of Age -Geschichte, ein Roadtrip, aber vor allem eine Mutter-Tochter-Liebesgeschichte. |
||
Bewertung vom 28.07.2023 | ||
Bereits das Buchcover mit der offenen, ausgestreckten Hand lässt offen, ob es eine fordernde, eine bettelnde oder gebende Hand ist. Emma Clines neuer Roman hat wieder ein Frauenleben im Visier. Alex, eine junge Frau hat befristete Verhältnisse. Sie erfasst intuitiv die Bedürfnisse der Männer, passt sich bis zur Selbstauflösung an, spielt ihre Rolle. Alex ist unauffällig auffällig. Sie flirtet wie ein naiv unschuldiges Mädchen und hinterlässt Verwüstungen. Ihre Liaison mit Simon, einem grauhaarigen, reichen Sugardaddy findet ein jähes Ende mit einem Rausschmiss. Ihre gesamte Habe passt in eine Strandtasche und sie will wieder zurück in die Welt der Reichen. Sie ist wie Treibsand, unstet und ohne echte Bindung. Ihr Kapital ist ihr Körper, ihre potentielle sexuelle Bereitschaft, ihre Anpassungsfähigkeit und doch sind die Tauschgeschäfte nicht gleichberechtigt. Alex verliert ihren befristeten Platz als Geliebte, ist austauschbar und der weiße reiche Mann investiert ein wenig von seinem Geld und findet wieder eine willfährige schöne junge Frau. Alex ist weder gut, noch böse - sie ist beides in ihrer Überlebensstrategie von Angebot und Nachfrage, von Macht und Abhängigkeit. Alex ist nur Gast in den Hamptons, willkommen, wenn sie ihren körperlichen Eintrittspreis entrichtet. "Da war es, das Aufflackern von Empfänglichkeit, der kaum merkliche Blick auf ihre Brüste" (Seite 129). Emma Cline hat mit Alex eine Figur lebendig gemacht, die dem Opfer-Täter-Klischee facettenreich begegnet und mit sezierender Genauigkeit die soziologischen, psychosozialen Unterschiede der Klassenzugehörigkeit der Romanfiguren in eine spannende Geschichte gepackt. Leider ist der Schluss sehr abrupt und lässt viele Interpretationen zu. Aber ansonsten meine absolute Leseempfehlung. |
||
Bewertung vom 22.07.2023 | ||
Elisabeth Sandmann hat hier einen dicken Familienwälzer verfasst. Es geht um eine verworrene Familienchronik und dem Aufspüren von Geheimnissen der Vergangenheit. Gwen, eine in London lebende Übersetzerin erhält einen Anruf und damit beginnt ein etappenweiser Rückblick durch das gesamte letzte Jahrhundert. Immer wieder kurz in der Gegenwart der Hauptprotagonistin Gwen hüpft die Autorin geschickt in fast filmreife Kurzgeschichten. Zwei Weltkriege, Flucht, Vertreibung, Judenverfolgung, Kunstraub, persönliche Tragödien und schillernde Figuren - ja, da ist so einiges hineingewoben worden. Leider sind die vielen Personen manchmal schwer auseinander zu halten, bzw. ihre Verbindungen zu erkennen. Die Geschichte ist wie wie eine Häkeldecke mit einigen Knoten, aber auch Lücken. Immer, wenn die Spannung droht zu versanden, wird wieder eine Kiste, ein Koffer oder ein Familienalbum herausgezaubert, aus dem dann kleine Überraschungen springen und dann letztendlich doch ein Gesamtbild ergeben. Ein dicker, etwas verworrener Schmöker, der sich für eine mehrteilige Verfilmung anbietet. Kann man, muss man aber nicht lesen. |
||
Bewertung vom 26.06.2023 | ||
Philipp Oehmke hat einen äußerst facettenreichen Familiengeschichte geschrieben. Mit über 540 Seiten gibt er der Familie Schönwald eine Geschichte. Ruth und Hans-Harald (Harry) als Eltern der inzwischen erwachsenen Kinder Chris, Karolin und Benny kommen in Berlin zusammen, um die Eröffnung eines queren Buchladens zu feiern. Aber was als gut gemeintes Projekt starten soll, gerät sofort in eine Konfrontation mit Vorwürfen, dass der Laden mit Nazigold finanziert wäre. Soweit der Einstieg in ein Familienportrait, das zunehmend die einzelnen Beteiligten individuell vorstellt und dabei sehr geschickt, Rückblicke in einschneidende Ereignisse einfädelt. Das Verschweigen, das Heimliche, die jeweils erlebten persönlichen Dramen und Geschichten werden aufgedeckt und die Familienfassade erhält Risse. Das Dogma der Eltern 'man muss nicht alles offenlegen' wird entlarvt, indem es das daraus resultierende Unglücklichsein der Kinder zeigt. Der entlassene Uniprofessor Chris verkauft sich an die Liga der Trump-Unterstützer, Karolin hat eine gescheiterte Ehe und Benny verkriecht sich hinter seiner schwerreichen Gattin in der ländlichen Uckermark. Philipp Oehmke gibt allen Familienmitgliedern eine aufdeckende Geschichte, durchbricht somit das Schweigegelübde und zeichnet ganz nebenher eine aktuelle gesellschaftliche Wirklichkeit und ist politisch brisant. Eine Portion Humor verhindert belehrendes Besserwissen. Es wurde ein dickes Buch, weil auch viel hineingepackt wurde und ich kann es absolut empfehlen. |
||
Bewertung vom 23.05.2023 | ||
Zwischen Himmel und Erde - ein vielversprechender Titel und ein dicker, aber vor allem schwerer Roman. Da treffen zwei junge Frauen in einer Wohngemeinschaft in London aufeinander; Catarina, neu aus Brasilien eingereist und Melissa, in London aufgewachsen mit brasilianischen Wurzeln. Beide Protagonistinnen bleiben emotionslos, irgendwie auch fremd, die meisten Verbindungen sind politische und feministische Treffen. Spannender wird der Roman, wenn die beiden Frauen von ihren Herkunftsfamilien erzählen. Das ist auch der lesenswerteste Teil, weil hier viel von der unruhigen Geschichte Brasiliens einfließt, von Diktatur und deren Ende, von Revolution und Verfolgung. Was jedoch den Lesefluss ungemein schwierig macht, sind die stilistisch eingestreuten lyrischen Sprenkel, mal sind es Gedichte, meist jedoch nur konstruierte Wortwiederholungen. Oder von Seite 262 bis Seite 265 werden alphabetisch Namen aneinander gereiht (Nachfahren von afrikanischen Sklaven) und ich habe in diesem Buch vieles nur noch quer gelesen oder teilweise übersprungen. Man mag es unkonventionellen Stil nennen, wenn sich mir aber insgesamt kein tieferer Sinn erschließt, hinterlässt die eigentlich interessante Frauenbegegnung eher Ratlosigkeit. Ein Roman voll mit literarischen Stolpersteinen. |
||
Bewertung vom 16.05.2023 | ||
Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe) T. C. Boyle bleibt sich selbst treu und beschert uns einen Roman mit einer erschreckenden Zukunftsvision, die anhand einer Familie in drei Episoden beschrieben wird und die Geschichte ist alles andere als klimaneutral. Wie lebt und überlebt der Mensch, wenn das Klima bereits kollabiert ist? Die Eltern Frank und Ottilie leben in Kalifornien, wo kein Tropfen Regen fällt und die großen Feuer die Bewohner angreifen. Doch Mutter Ottilie bringt umweltbewusst statt Fleisch Insekten auf den Tisch, spart Wasser glaubt an ihren reduzierten Ökoabdruck. Die Tochter Cat lebt in Florida, das langsam immer stärker im Dauerregen ertrinkt. Naiv, gelangweilt und wenig vorausschauend kauft sie sich spontan einen Tigerpython, will damit als Influencer ihre Follower beeindrucken und die Abwesenheit ihres Partners Todd kompensieren, der als Bacardivertreter durch die Welt jettet. Ihr Bruder Cooper ist Insektenforscher und will das große Sterben aufhalten und kann der ökologischen Untergangsspirale nur wenig entgegensetzen. Diese vier Hauptprotagonisten stellt uns Boyle in einer zunehmend zerstörten Umwelt vor; sie agieren jeweils schlüssig und T. C. Boyle gelingt es, sie ohne vorwurfsvolle Bewertung in ihren Lebenswirklichkeiten zu beschreiben. Wenn das Klima unaufhaltsam gekippt ist, wenn Sturm, Dauerregen, Dürre, Artensterben, Nahrungsknappheit und der Klimakollaps Wirklichkeit sind, sind sie die Zutaten für einen gesellschaftskritischen Roman, der ohne erhobenen Zeigefinger den Blick auf eine apokalyptische Zukunft lenkt. Erschreckend realistisch und spannend und wieder ein echter, engagierter T. C, Boyle. |
||