Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
meany
Wohnort: 
Seligenstadt

Bewertungen

Insgesamt 148 Bewertungen
Bewertung vom 29.09.2024
Reise nach Laredo
Geiger, Arno

Reise nach Laredo


gut

Das Versäumnis des Lebens

Oje, hochgeschätzter Arno Geiger, was muten Sie Ihrer Ihnen jederzeit dermaßen gewogenen Leserschaft für einen harten Brocken zu, die diesen auch wieder im Nu in die Spiegel-Bestsellerliste katapultierte?

Noch den heiter-beschwingten Ton des "Glücklichen Geheimnisses" im Ohr, wandte ich mich voller Tatendrang diesem erneuten alten König im Exil zu, der aber dessen menschlich zugewandte Haltung total vermissen ließ. Karl V., habsburgischer Herrscher des Abendlands, Luthers wehrhafter Kontrahent, lässt sich siech und apathisch in die warme Brühe hieven, während alle mit ihm Befassten nur noch auf Erlösung hoffen.

Ein Dunst des Lebensüberdrusses verhängt die einleitende Szenerie, von Geiger in einer nüchternen, nichts beschönigenden Sprache dargelegt, die er mit Sentenzen und Metaphern spickt. Die Flucht aus dem Kloster führt ihn zusammen mit Geronimo, den er für seinen illegitimen Sohn hält und mit dem er ein Gespann wie Don Quijote und Sancho Pansa ergibt, durch düstere Landschaften im strömenden Regen, bis er einem gewaltsam schikanierten Cagot-Pärchen begegnet und mit ihnen die Reise fortsetzt. Dabei werden alle Sinne aufs Äußerste gereizt: optisch ohnehin, aber auch durch Gerüche und schrille Wagenräder.

Selten trifft er auch auf Fürsorge wie bei der Heilerin, die den gefolterten Honza in schlichter Mitmenschlichkeit aus ihrer Armut heraus wiederherstellt.

Ansonsten prägen Todesboten die Sphäre: Geier kreisen in der Luft, Staub überlagert alles. Am Galgen und am Friedhof vorbei überquert die kleine Gruppe einen Pass, um in die Tote Stadt zu gelangen, in der sie sich wochenlang bei aussetzendem Zeitgefühl in der Herberge eines niederträchtigen Wirts einquartieren. Und über dieser Passage breitet sich für mich lähmende Langeweile aus. Man kann es in allen Fasern seines Inneren nachvollziehen, wie sich dieser Monarch, der zeit seines Lebens mit Mächtigen und Künstlern verkehrte, in nie geahnte Niederungen der Gesellschaft hinabbegibt und ein wahrhaftes "de profundis" anstimmt. Aber möchte man das alles so ausdrücklich als Leser miterleiden? Manches kommt mir auch wie eine Fingerübung in Stilistik vor. Und dabei bringen mich dann wiederum gegenwärtig moderne Floskeln wie "dann hätten wir das also auch geklärt" beim Lesen aus dem Tritt.

Man sagt, vor dem Auge eines Sterbenden ziehe noch einmal sein Leben vorüber, aber dieses ist eher ein Komplementärleben, denn es sind Personen involviert, mit denen sich Karl niemals abgegeben hätte. Dramatische Geschehnisse voller Brutalität lassen mich relativ kalt, weil sie so absurd sind und menschlich nicht in mir verfangen.

In der Unterkunft hat Karl einige finale Kämpfe auszufechten, erlebt aber auch tanzend ungeahnte Freuden, bis er sich zur letzten Fahrt hin befreit. Die Frage nach der Schönheit, vielleicht vertreten durch den Greif, zieht sich wie ein Leitmotiv durch das ganze Buch.

Bewertung vom 28.09.2024
Das große Spiel
Powers, Richard

Das große Spiel


ausgezeichnet

Unter Wasser atmen

Richard Powers schätze ich seit langem als wortgewaltigen und sachkundigen Streiter für eine intakte Welt. Im vorliegenden Werk verknüpft er nun die aktuellen Auseinandersetzungen um die sich ausbreitende KI mit der Meeresforschung und veranschaulicht seine Überlegungen in zwei typografisch voneinander abgesetzten Handlungssträngen, die ich erst im nachhinein chronologisch einordnen konnte. Alles Leben entstammt dem Meer und ist ein unendliches Spiel - von wem, kann jeder nach seiner jeweiligen Glaubensauffassung entscheiden.

Zu zwei hochbegabten Schülern, völlig unterschiedlichen sozialen Klassen entstammend, gesellt sich später noch Ina von einer südpazifischen Insel, die die ohnehin unstete Dynamik zwischen den beiden zusätzlich aufrührt. Das verbindende Element zwischen den beiden sind komplexe Gesellschaftsspiele, wobei Schach bald von Go abgelöst wird. Rafi, ein Meister der Sprache, entzieht sich dem Ansinnen Todds, ihn für seine schnell expandierende IT-Firma einzuspannen. Powers lässt sich viel Zeit, die Akteure vorzustellen bis zur eigentlichen Konfrontation.

Dem Universum der IT setzt Powers das der Weltmeere entgegen, verkörpert durch Evelyne Beaulieu, der er die wahrhaft lyrischen Passagen des Romans widmet. Dabei entführt er uns in faszinierende Welten der Tiefsee, die in mir auch immer wieder Werke von Schätzing heraufbeschworen. Ein Genuss ist es schon allein, auf Seite 438 vom optischen Tintenfischkonzert zu lesen! Die entsprechenden Bilder schaute ich mir natürlich online an.

Die Genese der Männerfreundschaft schildert Todd aus seiner Sicht, aber wen spricht er denn da immer an? Noch nie hat mir jemand auf derartig interessante Weise die Entwicklung und dauernde Vervollkommnung der KI nahegebracht: wie die Muster, die sie in den abgegriffenen Daten erkennt, immer weiter füttert und eine Eigendynamik in Gang setzt, die man nicht mehr aufhalten kann. Und die Wurzel dessen ist das Spiel als solches, das die Zukunft auf Autopilot setzt. Viele Fachbegriffe (z.B. Singularität) musste ich nachschlagen, was mir weiteren Erkenntnisgewinn bescherte. Angesichts seiner fortschreitenden Demenzerkrankung diskutiert er durchaus die Licht- und Schattenseiten seiner Schöpfung: Meinungsfreiheit, Gefahren für die Demokratie. Dabei entsteht eine Metaphysik des Programmierens.

Die beiden Handlungsstränge fügen sich erst ganz spät zusammen. Dabei spielen die auf der Insel geplante Fabrik zum Bau von Modulen einer schwimmenden Stadt eine Rolle und ein Gerät namens Profunda, das an Alexa erinnert. Der überraschende Schluss rundet die verschlungenen Lebensläufe ab, indem er einen Hoffnungsschimmer für die gewaltigen globalen Probleme aufzeigt. Selbst wenn man damit nicht einverstanden ist, lohnt es sich, sich gedanklich damit auseinanderzusetzen.

Dieses hochgradig intellektuelle und ungemein bereichernde Buch, durch die gesamten Kapitel hindurch angenehm lesbar, hat meiner Ansicht nach mehr als eine Lektüre verdient, um alle seine Verdienste schätzen zu lernen.

Bewertung vom 19.09.2024
Sing, wilder Vogel, sing
O'Mahony, Jacqueline

Sing, wilder Vogel, sing


sehr gut

Die natürliche Ordnung der Dinge

Das Motiv des Unheil bringenden Rotkehlchens, das zu singen anfängt, empfinde ich als sehr bedeutungsvoll, denn es verheißt Hoffnung für die vom Schicksal schwer gebeutelte Honora/Nell, die unvorstellbare Qualen erleidet in Irlands Hungerjahren. Es ist historisch belegt, dass die geschwächte Bevölkerung ihres Dorfs sich mit letzter Kraft aufmacht zu dem gewissenlosen Landbesitzer, der sie schnöde abweist und in Eis und Schnee zurückschickt. Ein Wunder, dass Honora an ihrer Fehlgeburt nicht stirbt.

Auch die Flucht nach Amerika bringt sie sozusagen vom Regen in die Traufe. Mehrmals wird sie von Menschen, denen sie sich anvertraut, hintergangen. Unglaublich, welche Stärke sie immer wieder in ihrem innersten Zentrum sammelt, die Autorin hat da eine sehr eindrucksvolle Frauenfigur geschaffen. Besonders gelungen ist ihr dabei die Charakterzeichnung, die nicht nur schwarzweiß erscheint, sondern alle Graustufen durchmisst. Hierbei spielt auch die menschliche Sprache an sich durch den gesamten Roman hinweg eine interessante und wichtige Rolle.

Im Mittelpunkt von Honoras Streben steht jederzeit ihre persönliche Freiheit, nach der sie verzweifelt und lange vergeblich sucht und von der sie lediglich in der Prärie eine Ahnung verspürt. In der Begegnung mit dem Indianer Joseph findet sie zum ersten Mal jemanden, der sie aufgrund ähnlicher Erfahrungen von Unterdrückung und auch Hunger versteht. Die Geradlinigkeit der Protagonistin imponiert mir in hohem Maße, und der Einblick in die Schicksale der Immigrantinnen in die Vereinigten Staaten haben mein Bewusstsein für diese Materie geschärft.

Bewertung vom 15.09.2024
Die unendliche Reise der Aubry Tourvel
Westerbeke, Douglas

Die unendliche Reise der Aubry Tourvel


gut

Immer einen Schritt voraus

Das hätte mein neues Lieblingsbuch werden können - mit dieser Thematik: eine vom Zufall getriebene Weltreise mit unzähligen neuen Begegnungen und Abenteuern, dazwischen als Fixpunkt eine alles durchziehende Bibliothek. Pure Serendipity (mein Lieblingswort: eine überraschende Entdeckung von etwas ursprünglich nicht Gesuchten). Und das Cover spricht mich in seiner blaugoldenen Ästhetik ungemein an.

Die Ungestüme dreier Schwestern ereilt im Alter von 9 Jahren eine rätselhafte Krankheit, die immer ausbricht, wenn sie sich länger als zirka drei Tage an einem Ort aufhält oder einen solchen abermals aufsucht. Das Faust'sche "Verweile doch, du bist so schön." bleibt auch ihr gnadenlos verwehrt. Solange sie jedoch unterwegs ist, bleibt sie von allem möglichen gefeit. Manchmal findet sie adäquate Gefährten; da sie mit Lionel im Zug Russland durchfährt, kann die Beziehung einige Zeit andauern. Im Laufe der Reisen, in denen sie Mystisches erlebt und Einblick in allerlei Kulturen gewinnt, zum Ausdruck gebracht durch unübersetzte fremdsprachige Ausdrücke, macht sie eine Entwicklung und einen Alterungsprozess durch. Dabei bleibt die erzählte Zeit vage, Westerbeke erwähnt nur gelegentlich die neue Erfindung von Autos und Flugzeugen sowie die Errichtung des Eiffelturms. Die Bewegung erscheint als reiner Selbstzweck: "Man muss die Welt auf sich zukommen lassen.", und: "Darin liegt viel Schönes - im Wandern ohne Ziel."

Was mir bei all diesen zweifellos einfallsreichen Fantastereien und den Szenerien von hoher Symbolkraft abging, war schlicht und ergreifend der rote Faden. Da hätten mir schon ein paar Leitmotive und Bezüge zwischen den Episoden geholfen, so kam es mir wirr, konfus und willkürlich vor. Auf diese Weise dehnten sich die Seiten vor meinen Augen, bis ich tapfer durchhaltend auf Seite 400 ankam, von wo ab für mich eine Art Sinn durchschimmerte. Für meine wertvolle Lesezeit kann ich mir lohnendere Objekte vorstellen.

Bewertung vom 09.09.2024
VIEWS
Kling, Marc-Uwe

VIEWS


ausgezeichnet

Is this the real life?

Seit etlichen Jahren fiel mir Kling schon auf durch seine vielgefragten "Känguru-Chroniken", auch seine Kinderbücher landen immer wieder auf der Bestsellerliste.

Kann er jetzt sogar auch noch Krimi? Um das herauszufinden nahm ich mir das von ihm selbst gesprochene Hörbuch vor und wurde positiv überrascht.

Der Vermisstenfall einer 16jährigen ruft aufgrund eines im Netz verbreiteten Vergewaltigungsvideos mit dunkelhäutigen Tätern extreme politische Verwerfungen hervor. Um die Wogen in der Öffentlichkeit zu glätten, beauftragt das BKA mit Yasira Saad eine Kommissarin mit Migrationshintergrund, worauf die Rechtsradikalen erst recht die Trommeln ihrer Hetze rühren.

Eine haarsträubende Erkenntnis Yasiras stellt die gesamte Ermittlungsstrategie auf den Kopf, bringt sie aber auch persönlich in Gefahr.

Von Anfang an hat mich die Story gepackt, angefangen bei der toughen Protagonistin, die nebenbei noch Chopin spielen kann, in Vernehmungen einen akzeptablen Tonfall beherrscht und die Nöte und Ängste der alleinerziehenden Mutter einer Halbwüchsigen kennt. Die Vorgehensweise des BKA als einer von der Politik abhängigen Behörde stellt Kling nachvollziehbar dar. Besonders beeindruckt hat mich, wie er die Mechanismen des von der schon heute um sich greifenden KI geprägten Internet bis in letzte absurde Konsequenzen durchspielt. Dabei bezieht er weltanschaulich eindeutig Stellung ohne Dogmatismus. Ich würde die Lektüre deshalb ganz besonders für die Digital Natives empfehlen, die vielleicht ihre gesamten Aktivitäten nicht mehr ausreichend hinterfragen.

Den Kritikern des vermeintlich offenen Endes entgegne ich hiermit, dass nach dem Showdown eigentlich alles Wesentliche geklärt ist, wenn auch noch lose Fäden hängen bleiben, deren Auflösung jedoch das Buch wahrscheinlich "ausplätschern" ließen - so habe ich mir halt meinen eigenen Reim auf so manches gemacht.

Kann Marc-Uwe Kling auch Krimi? Zweifellos "ja", und außerdem kann er sein Werk auch ganz ausgezeichnet vorlesen, was ich keinesfalls von jedem Autor behaupten möchte.

Bewertung vom 04.09.2024
Lua Luftwurzel - Silberelfen fängt man nicht
Minnameier, Christoph

Lua Luftwurzel - Silberelfen fängt man nicht


ausgezeichnet

Schneckenschleim und Spinnenbeine

Dieses märchenhafte Kinderbuch habe ich mit großem Vergnügen gelesen, weil es rundherum stimmig ist - nicht nur für Kinder.

Weil sich die sympathische Waldelfe Lua um alle Tiere in Not kümmert, gerät sie in die Falle der Hexe Malicia. Die hat aber nicht mit der Schläue und Beherztheit ihres Opfers gerechnet, das sie aus schnöden Profitgründen in die Sklaverei zu verkaufen beabsichtigt. In filmreifen, temporeichen Szenen treibt der Autor die Handlung voran, in der es eben noch Bösere gibt als die Hexe und nur ein couragiertes füreinander Einstehen hilft aus der Bedrängnis. Detailverliebte Illustrationen des bekannten Zeichners Daniel Napp schmücken darüber hinaus die Seiten.

Das Buch hebt sich ab von der zahlreich vorhandenen Massenware an Fantasyliteratur durch überbordenden Einfallsreichtum, Sprachartistik und einer Moral ohne Holzhammer, die auf die Themen Schuld, Versöhnung und Läuterung in kindgemäßer Form setzt. Die Zaubersprüche komponiert Minnameier sauber in Reim und Rhythmus.

Dieses kleine Gesamtkunstwerk, dem hoffentlich noch Fortsetzungen beschieden sein werden, kann ich von Herzen empfehlen.

Bewertung vom 03.09.2024
Die Frauen von Maine
Sullivan, J. Courtney

Die Frauen von Maine


sehr gut

Ein Haus mit Charakter

Alte Häuser haben eine Persönlichkeit und ein Schicksal wie ein Mensch, deshalb bietet das Gebäude auf der Klippe in Maine mit einem Alter von mehreren Jahrhunderten den passenden Rahmen für Einblicke in die Geschichte der amerikanischen Ostküstenstaaten.

Zufällig, aber durch eine eigentümliche Neigung forciert, recherchiert die Archivarin Jane über die Historie der Liegenschaft. Verängstigt durch eine Geistererscheinung will die neue Besitzerin Genaueres wissen, deshalb konsulieren sie auch ein parapsychologisches Medium und einen Antiquitätenhändler. Spiritismus und wissenschaftliche Forschung gehen Hand in Hand, wobei man für die durchaus seriöse Darstellung letzterer ein bisschen Geduld aufbringen muss.

Schließlich treten als vergangene Bewohner die Ureinwohner, die Familie eines englischen Seemanns, eine junge Frau aus der Religionsgemeinschaft der Shaker, eine bildende Künstlerin und am Ende die Gattin eines reichen Industriellen in Erscheinung, deren jeweilige erschütternde Schicksale sie offenbaren und moralisch bewerten.

Parallel zu den Ermittlungen nimmt Janes Alkoholkrankheit ihren tragischen Verlauf.

Die Schicht um Schicht an die Oberfläche gelangenden Einblicke in die Dynamik der nordamerikanischen Historie haben mich sehr berührt und bereichert. Die Geistererscheinungen konnte ich akzeptieren als Anstoß für das Graben nach weiteren Informationen, aber für einen Mysteryroman sind sie zu wenig in sich begründet.

Bei einigen Längen liest sich das Buch flott und angenehm, ich habe es nur nicht so ganz aus einem Guss gefunden.

Bewertung vom 29.08.2024
Darwyne
Niel, Colin

Darwyne


ausgezeichnet

Am Fuße des Himmels

Darwyne ist in vielerlei Hinsicht beeinträchtigt: mit verkrüppelten Füßen und einem wenig ansprechenden Äußeren geboren in einem Slum an Rande des Dschungels bleibt er trotz der Bemühungen seiner durchaus tüchtigen und attraktiven Mutter ein Außenseiter der Gesellschaft. Trost findet er nur in der überbordenden Natur, mit der er regelrecht verschmilzt.

Bei seiner Mutter, die ihr Leben scheinbar im Griff hat, trügt jedoch der äußere Schein, denn zuhause setzt sie ihren zehnjährigen Sohn seelischen Misshandlungen aus. Zusätzlich stellen ihre wechselnden Liebhaber ein Problem dar.

Sehr nahe ging mir die parallele Geschichte der Sozialarbeiterin Mathurine, die Darwynes Leidenschaft für den Urwald teilt und dieses Kind nicht nur schätzt, sondern sogar fasziniert ist von dessen beinahe transzendentalen Fähigkeiten. Dass sie sich der unnatürlichen Technik der In-Vitro-Fertilisation bedient zur Erfüllung ihres drängenden Kinderwunschs, ergibt einen bemerkenswerten Kontrast.

Die Bezeichnung Thriller finde ich irreführend, auch wenn sich die destruktiven Entwicklungen zum Ende hin sehr beschleunigen, wodurch Spannung entsteht, die aber weitab von den üblichen kriminellen Geschehnissen gelagert ist. Ein treffendes Genre fällt mir stattdessen gar nicht ein, aber das Buch hat mich im Innersten erschüttert.

Bewertung vom 19.08.2024
Und dahinter das Meer
Spence-Ash, Laura

Und dahinter das Meer


ausgezeichnet

Freiheitsschule

Der Zweite Weltkrieg entwurzelte viele Kinder, die man zu ihrer Sicherheit in ein anderes Land schickte. Über die deutsch-jüdischen Kinder in Großbritannien schrieb W.G. Sebald in eindrucksvoller Weise. Weniger bekannt war mir, dass britische Kinder vor den deutschen Luftangriffen in die USA flüchteten. Anders als in den meistens gebrochenen Schicksalen findet Beatrix bei ihrer neuen Familie in Boston eine neue Heimat - erst die Rückkehr zu ihrer mittlerweile entfremdeten Mutter verursacht ihr Schwierigkeiten.

Dem Ansatz, allen Individuen gerecht zu werden, entspricht die Einteilung des Werks in mit Namen überschriebenen Kapiteln, die ein Puzzle ergeben und dennoch einen schlüssigen kontinuierlichen Verlauf. Nichts ist vorhersehbar und trotzdem überzeugend, neugierig habe ich mich darauf eingelassen, wobei nicht der einzige spannungsfördernde Faktor die Frage war: "Kriegen sie sich, und wenn ja, wer wen?"

Ein Leitmotiv ist der anhaltende Vergleich der Kriegssituation in Europa mit dem relativen Wohlstand in der Neuen Welt, in der Bea sich frei entfalten und entwickeln kann, während ihre Eltern alle gegebenen Einschränkungen erleiden. Die jeweiligen Schicksalswendungen erfordern einen Akt der Balance zwischen Mut und Verzagen, den nur die Liebe aufrecht erhält, in allen ihren Ausprägungen: "aber darüber schwebt der Schatten von Angst, Zweifel und Verlust". Zutiefst menschlich stellt Spencer-Ash alle Charaktere in ihren Stärken und Schwächen dar und entwirft die Psychogramme voller Sympathie und Respekt.

Dieser Roman bezeugt die Kraft der Liebe in stürmischen Zeiten.

Bewertung vom 11.08.2024
Juli, August, September
Grjasnowa, Olga

Juli, August, September


sehr gut

Die Staubkörnchen im Scheinwerferlicht

Man erlebt den Alltag einer jungen Familie: soweit alles ganz normal, und doch sind einige Faktoren besonders. Sergej ist als Konzertpianist einigermaßen erfolgreich, und trotzdem neuerdings von Zweifeln geplagt, die sich als lästiges Lampenfieber negativ auf seine Darbietungen auswirken. Lou geht mit wechselnder Begeisterung in ihrer Mutterrolle auf, bis die Umstände ihres Judentums, die bisher eine mindere Rolle für sie spielten, in Form eines Familientreffens über sie hereinbrechen.

Die Begegnung findet statt anlässlich eines neunzigsten Geburtstags auf Gran Canaria, aber die Reise führt sie schließlich wegen der neu aufgeworfenen Fragen bis nach Israel, wo sie zu den Wurzeln all der Verwicklungen vorzudringen versucht.

Auf einer zweiten Handlungsebene spürt sie aber auch, wie es im Gefüge ihrer Ehe knirrscht, und schließlich erkennt sie, welche Prioritäten sie setzen muss und will.

Das alles stellt Grjasnowa in schlüssig sich aus einander entwickelnden Situationen dar, die die Charakteristika der handelnden Personen darstellen und die Konflikte strukturieren, mitunter etwas überspitzt, aber jederzeit von Respekt getragen.

Die aktuellen Anfeindungen wabern nur vage im Untergrund, auch weil die Hauptfiguren die Religion nicht in orthodoxer Weise praktizieren. Trotzdem erhalten wir Einblick in eine bis in die Details von der Geschichte geprägten Lebensweise.