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Renas Wortwelt

Bewertungen

Insgesamt 144 Bewertungen
Bewertung vom 09.10.2024
Zwei Leben
Arenz, Ewald

Zwei Leben


gut

Es ist ganz sicher eine Binsenweisheit, dass ein Autor nicht immer gleich gut schreibt, dass Leser:innen nicht alle seine Werke gleich gut gefallen. Bei Ewald Arenz ist das für mich sehr ausgeprägt, haben mich doch vor allem zwei seiner bisherigen Romane sehr berührt und überzeugt, andere dagegen konnten mich nicht erreichen.
Nun also ein neuer Roman aus der Feder dieses fleißigen Autors, dessen „Alte Sorten“ oder insbesondere „Der große Sommer“ absolute Highlights waren und sind. Diesmal entführt er uns in ein Dorf in Süddeutschland, zu Beginn der 70er Jahre. Zwei Frauen stehen im Mittelpunkt der Handlung, aus ihren Perspektiven verfolgen wir die Ereignisse.
Da ist Roberta, Anfang 20, die für eine Schneiderlehre in der Stadt war, ein paar Jahre von zuhause fort. Sie hat in einer Fabrik gelernt und gearbeitet, war in einem ganz anderen Umfeld als sie es vom heimatlichen Dorf gewöhnt ist. Ihre Eltern betreiben einen Bauernhof, wo es ständig und immer viel zu tun gibt. Vater und Mutter sind wortkarg, es interessiert sie nur die zurückkehrende und schmerzhaft vermisste Arbeitskraft, ihr Interesse an Robertas Wünschen oder Gefühlen ist so gut wie nicht vorhanden.
Und da ist Gertrud, die Frau des Pfarrers. Seit Jahren lebt sie in dem Dorf, ist dort aber nie heimisch geworden. Solange ihr Sohn Wilhelm noch klein war und ihrer Obhut bedurfte, war sie beschäftigt. Doch inzwischen ist er erwachsen, leistet gerade seinen Zivildienst ab, und Gertrud fühlt sich mehr denn je fehl am Platz. Sie erstickt an Langeweile, vermisst das Leben in der Großstadt Hamburg, in der sie aufwuchs.
Dass sich zwischen Roberta und Wilhelm eine große und berührende Liebesgeschichte entwickelt, bekommt Gertrud, so verstrickt in ihr eigenes Selbstmitleid, nicht mit. Roberta, der selbst nicht wirklich bewusst ist, dass sie eigentlich lieber als Schneiderin arbeiten würde statt Bäuerin zu sein, sieht für sich aber keine Alternative, als einziges Kind ihrer Eltern. Für Roberta ist die Arbeit auf dem Hof mit allem was dazu gehört, selbstverständlich. Sie redet es sich schön, malt sich das Leben idyllischer als es ist.
So glaubt sie auch nicht an eine Zukunft mit Wilhelm, der irgendwann zum Studieren fortgehen wird, während sie ans Dorf gebunden ist. Ihre Beziehung halten die Beiden vor allen geheim, der Grund dafür hat sich mir bei der Lektüre nicht so ganz erschlossen. Derweil geht Gertrud auf eine zweimonatige Reise mit ihrem Bruder durch Europa, kommt zurück und empfindet die dörfliche Enge nun umso schlimmer.
Dann geschieht vieles auf einmal, bis es schließlich in einem Unglück kumuliert. Und am Ende sind alle da, wo sie am Anfang waren.
Wie immer schafft Ewald Arenz es, die genauen Strömungen, die Atmosphäre des Dorfes, der Landwirtschaft und des Pfarrhaushaltes exakt einzufangen. Er arbeitet viel mit allen Sinnen, schildert stets die Gerüche, die bei Roberta immer wieder bestimmte Erinnerungen und Assoziationen auslösen. Arenz widmet dabei viele Sätze, viele Worte diesen Beschreibungen. Doch leider empfand ich diesmal alles als zu süßlich, zu idyllisch.
Die Handlung nimmt an mancher Stelle schmonzettenhafte Züge an, alles wird ein bisschen zu dick aufgetragen. Nach etwa zwei Dritteln wird es geradezu groschenheftartig, wird es banal und kitschig. So gut der Autor Landschaft und Stimmung der Natur beschreiben kann, so wenig gelingt es ihm in diesem Roman, die Gefühle der Figuren in Worte zu fassen. Besonders störend das ständige Lächeln. Alle lächeln stets, auch an Stellen, an denen es völlig unpassend ist. Lächeln ist der einzige Gefühlsausdruck. Abgesehen von Robertas Umgang mit dem Unglücksfall, hier wiederum schafft es der Autor, ihre Gefühle sehr bildhaft und einfühlsam zu beschreiben.
Insgesamt ein etwas zu kitschiger Frauenroman um künstlich aufgebauschte Probleme. Nicht so überzeugend wie andere Bücher dieses guten Autors.
Ewald Arenz – Zwei Leben
DuMont, September 2024
Gebundene Ausgabe, 363 Seiten, 25,00 €

Bewertung vom 07.10.2024
Charly Broms Dilemma
Linder, Lukas

Charly Broms Dilemma


sehr gut

Charly Brom, Vater eines kleinen Sohnes, wird durch einen Anruf in seine Vergangenheit zurückgeworfen. Die liegt in seiner Heimat, wo er als Jugendlicher schwere Schuld auf sich geladen zu haben glaubt. Dieser Anruf wirft ihn völlig aus der Bahn, treibt ihn nach Hause, zu Mutter und Großmutter.
Diese beiden hausen seit Jahrzehnten unter einem Dach, seit Charlys Vater bei einem Fenstersturz ums Leben kam. Die beiden Frauen umkreisen sich, ärgern sich gegenseitig. Die Großmutter, rüstig für ihr Alter, tut, als wäre sie schwer krank. Die Mutter, neuerdings mit Männerbekanntschaft, hat ihr Faible für Antiquitäten entdeckt.
Charly trifft nun in seiner Heimat auch alte Bekannte wieder, wird immer wieder schmerzhaft an Ereignisse aus seiner Kindheit und Jugend erinnert und ist getrieben von der Sorge, sein damaliges Verbrechen könnte ans Licht kommen. Er ist hin und her gerissen zwischen Hoffen auf weiteres Verschweigen und dem Drang, alles zu gestehen. Darunter leidet seine Beziehung zu Nina, der Mutter seines Sohnes Emil.
Erst nach und nach dröselt sich die Geschichte auf, zeigt sich, was seine damalige anhimmelnde Verliebtheit in die Metzgersgattin mit den Geschehnissen zu tun hat, wie die anderen Protagonisten der seinerzeitigen Ereignisse darin verstrickt sind.
All das wird sehr humorvoll erzählt, mit viel Augenzwinkern, mit liebevoller Ironie und stark überzogenen Charakteren. Besonders Charlys Mutter und Großmutter sind großartig gezeichnet, herrlich skurril, absolut verschroben und wunderbar liebenswert. Charly selbst ist arg verpeilt, völlig unorganisiert, hat nach und nach den Überblick über sein Leben gänzlich verloren und torkelt sozusagen durch das Geschehen.
Aber auch all die anderen Einwohner bekommen den Spiegel, eigentlich einen Zerrspiegel, vorgehalten. Alles wird leicht überhöht beschrieben, voller freundlichem Spott, aber doch auch so nah an den Figuren, dass sie bei aller Überzeichnung dennoch authentisch wirken.
Am Ende allerdings fragt man sich doch, was der Roman uns schließlich eigentlich erzählen, was der Autor uns sagen will. Abgesehen von der vergangenen Schuld Charlys fehlt ein roter Faden, fehlt eine stringente Handlung. Es gibt ständig Rückblicke auf die damaligen Ereignisse, die jedoch weder systematisch noch chronologisch eingefügt sind. Vielmehr wechselt das Erzählen meist urplötzlich von der aktuellen Handlung in den Rückblick, was man manchmal erst nach einer ganzen Weile erkennen kann, da die Übergänge nahtlos aneinander gefügt sind.
Ein stilistisch außergewöhnlicher, sehr skurriler Roman mit interessantem Personal und witziger Ausgangssituation, bei dem aber doch nicht alles hundertprozentig überzeugt.
Lukas Linder – Charly Broms Dilemma
Kein & Aber, September 2024
Gebundene Ausgabe, 286 Seiten, 23,00 €

Bewertung vom 04.10.2024
Nachbarinnen
Danz, Ella

Nachbarinnen


gut

Im Ansatz eine interessante Geschichte, mit dem Stil, in welchem sie umgesetzt wurde, wurde ich allerdings nicht warm. Vier Frauen, Nachbarinnen in einem Mehrfamilienhaus in Berlin, hadern auf die eine oder andere Weise mit ihrem derzeitigen Leben. Dabei hat die eine mehr, die andere eher weniger Grund dazu.
Und es geht schon wieder um Mütter – offensichtlich ein derzeit sehr populäres Thema in der Bücherwelt. Die vier Protagonistinnen, aus deren jeweiliger Perspektive der Roman erzählt, sind Vera, Frederike, Tanja und Jenny.
Vera ist bei weiten die Älteste, eine Kriminalschriftstellerin (wie die Autorin des Romans selbst auch). Ihre Tochter ist längst erwachsen und lebt in New York. Doch auch Vera mutiert in gewisser Weise wieder zu einer Mutter mit einem zu betreuenden Kind, denn ihr Mann ist, seitdem ein Aneurysma in seinem Gehirn platzte, behindert, wenn auch noch kein wirklicher Pflegefall.
Tanja ist Mutter dreier Kinder, alleinerziehend, unkompliziert, stets gut gelaunt. Sie arbeitet als Kellnerin und liebt Dylan, einen irischen Musiker, der allerdings mehr durch Abwesenheit glänzt.
Frederike lebt seit kurzer Zeit zusammen mit Thomas, der schon länger in diesem Haus wohnte. Sie haben einen kleinen Sohn, Frederick, der ständig krank ist, Krampfanfälle hat. Sie hält sich für die Einzige, die weiß, was ihm guttut. Außerdem hat sie Angst vor ihren Eltern, besonders vor ihrem Vater, die immer wieder ihren Besuch ankündigen.
Und Jenny schließlich hat nichts anderes im Kopf als unbedingt und sofort schwanger zu werden. Alles dreht sich für sie um dieses Thema, sie ist wie besessen davon, spricht von nichts anderem, quält ihren Freund zu den fruchtbaren Tagen mit ihr zu schlafen und glaubt stets bereits am nächsten Tag zu spüren, dass es diesmal geklappt hat.
Vera ist diejenige, die immer wieder versucht, mit ihren Nachbarinnen in Kontakt zu treten. Sie lädt sie ein, sie spricht mit ihnen. Während Jenny und Tanja darauf eingehen, zieht sich Frederike eher zurück, bleibt ablehnend, verschlossen.
Immer wieder wechseln die Perspektiven, werden die Ereignisse mal aus der Sicht der einen, mal aus der einer der anderen Frauen erzählt. Dies in Ich-Form und so nah in der jeweiligen Figur, dass man quasi mit ihr gemeinsam erlebt, was geschieht. Man folgt ihren aktuellen Gedanken, als wäre man in ihr drin. Bei Frederike wird so getan, als schreibe sie Tagebuch, bei den anderen ist man direkt in ihren Köpfen.
Das irritiert, das ist gewöhnungsbedürftig. Es fiel mir schwer, damit warm zu werden, zumal dort, wo ich die Gefühle der Figur nicht nachvollziehen konnte, wo sie mich teils eher abstießen, wie z.B. die Besessenheit von Jenny. So hat das Thema des Romans durchaus Potenzial, wenn auch vieles abgedroschen ist und thematisch zu oft auserzählt wurde. Aber die Umsetzung konnte mich nicht überzeugen, statt, wie sicher beabsichtigt, mich näher an die Figuren heranzuführen, stieß sie mich eher von ihnen ab. Warm wurde ich mit keiner der Protagonistinnen, außer vielleicht Tanja, die von allen die natürlichste, authentischste war. Und diejenige, die wirklich reichlich Probleme hatte und dennoch am wenigsten jammerte.
Ein Roman, der durchaus Spannungsmomente hat (auch wenn man vieles bald ahnt), der aber wenig Neues erzählt.
Ella Danz – Nachbarinnen
gmeiner, September 2024
Taschenbuch, 313 Seiten, 18,00 €

Bewertung vom 02.10.2024
On the Road to Dingsbums
Peters, Joachim H.

On the Road to Dingsbums


gut

Dieser Roman um eine versehentlich entführte Gruppe von Seniorenheimbewohner:innen liest sich flott, man fliegt durch die Seiten und fühlt sich am Ende gut unterhalten. Dabei bleibt das Ganze allerdings auch recht seicht.
Der spielsüchtige junge Mischa muss vor seinen gewalttätigen Gläubigern fliehen und kapert dabei einen etwas altersschwachen Bus. Zu spät bemerkt er, dass darin ein Grüppchen Seniorinnen und Senioren sitzt, begleitet von ihrer jugendlichen Betreuerin Alina.
Mischa, im Grunde kein schlechter Kerl, aber gefangen in seinen immer mehr ausgeschmückten Lügenmärchen, tut zuerst so, als wäre er ein Ersatzfahrer und folgt den Anweisungen des bereits programmierten Navis im Bus. So dauert es, bis Alina misstrauisch wird. Sie durchschaut auch nicht gleich, dass die angebliche Fahrt in ein Wellnesshotel in Wahrheit die Abschiebung der Heimbewohner nach Polen werden soll. Denn der Heimbetreiber ist pleite.
Im Bus befinden sich sechs Senioren, darunter ein ehemaliger Richter, eine ehemalige Schauspielerin mit fortschreitender Demenz, ein pingeliger Finanzbeamter und weitere.
Natürlich erleben die Reisenden unterwegs einige Missgeschicke, lernen sich untereinander besser kennen und verstehen und die Leserin erfährt in ausgedehnten Rückblicken die Geschichten der alten Menschen. Diese sind entweder grundsätzlich einsam oder mit ihren Familien, sprich Nachkommen zerstritten oder haben andere Probleme. Die, natürlich, im Laufe der Geschichte alle wunderbar gelöst werden und am Ende sinken sich alle glücklich in die Arme (außer den Geldeintreibern, deren Geschichte eher nicht so gut ausgeht).
Zwischen die aktuelle Handlung eingeschoben sind, teils viel zu lange, Berichte über die Geschichte der einzelnen Figuren, detailliert, mit vielen nur hier einmal auftretenden Nebenfiguren. Dabei werden zwar die Hintergründe einiger, aber merkwürdigerweise nicht aller mitreisenden Senioren ausführlich beleuchtet, da wird die gesamte Geschichte der Familie des türkischen Automechanikers erzählt, aber über die Geschichte von Mischa oder Alina erfährt man da hingegen eher wenig.
So nett die gesamte Geschichte in diesem Roman ist, so sympathisch die Figuren und so turbulent die Handlung, so vorhersehbar ist sie dann leider auch. Und leider auch voller Klischees, ja man kann fast sagen, die gesamte Geschichte ist ein einziges Klischee.
Da haben wir den kleinen Gauner Mischa mit dem guten Herzen, die gutaussehende junge Betreuerin, den türkischen Autoschlosser, der den Bus repariert, die üblichen Streitereien der Alten mit ihren Kindern, die prügelnden russischen Geldeintreiber, den betrügerischen Heimleiter, die demente Schauspielerin (die allerdings für einige witzige Szenen sorgt) und so fort.
Das alles zu lesen, macht sehr viel Spaß, man wird durch die Geschichte getrieben, will wissen, was noch alles geschieht. Es ist nett und locker-flockig geschrieben, die Dialoge sind lebendig und manche Szenen bringen einen wirklich zum Lachen. Dennoch, am Ende hatte es dann doch ein bisschen wenig Tiefgang.
Joachim H. Peters - On the road to Dingsbums
KBV, August 2024
Taschenbuch, 312 Seiten, 15,00 €

Bewertung vom 30.09.2024
Die Unmöglichkeit des Lebens
Haig, Matt

Die Unmöglichkeit des Lebens


gut

Es gibt Bücher dieses Autors, die ich wirklich liebte, die mich berührten und in Traumwelten entführten. Auch dieser neue Roman um die pensionierte Mathematiklehrerin Grace ist voller Magie, voller unerklärlicher Phänomene.
Grace, tief in ihrer Trauer über den Verlust ihres verstorbenen Mannes steckend, hat auch den frühen Tod ihres Sohnes vor vielen Jahren bis heute nicht verwunden. Sie verkriecht sich in ihrem Haus, versinkt in ihrer Einsamkeit und Trauer. Da erbt sie überraschend ein Haus auf Ibiza, von einer ehemaligen kurzzeitigen Kollegin, mit der sie seit Jahrzehnten keinen Kontakt hatte.
Allein das ist schon erstaunlich, noch viel mehr ist sie selbst davon überrascht, dass sie tatsächlich beschließt, auf die Insel zu fliegen. Zuerst natürlich nur, um das Haus in Besitz zu nehmen und für einen eiligen Verkauf vorzubereiten. Doch auf Ibiza und in dem Haus erwarten sie noch viel mehr Überraschungen, Dinge, die sie nicht versteht, die sie zuerst erschrecken, dann wütend machen und schließlich in ihren Bann ziehen.
Eine große Rolle spielt dabei die Verstorbene selbst, die Grace nicht nur das Haus, sondern auch einen Brief hinterließ. Darin die Anweisung, mit wem sie in Kontakt treten, worauf sie sich einlassen soll. Grace, die bislang wenig Kontakt zu anderen Menschen hatte, öffnet sich immer mehr diesen wundersamen Dingen, die um sie herum und mit ihr geschehen. Dabei steht insbesondere ein Mann im Mittelpunkt, der sie an die magischen und mystischen Ereignisse heranführt. So wird aus der einsamen Grace eine sich auf der Insel immer mehr zuhause fühlende Frau.
Was ihr so alles geschieht, ist mir manchmal ein wenig zu absonderlich. Dank der Macht einer (außerirdischen?) Spezies kann Grace plötzlich die Gedanken von anderen Menschen und sogar von Tieren lesen, nur mit der Kraft ihres Willens Türen öffnen, beim Roulette gewinnen und vieles mehr. Ab diesem Zeitpunkt wurde es mir zu kurios, zu absurd.
Dabei hat dieser Roman sowohl gute wie auch weniger gute Seiten. Wie Matt Haig die Gefühle der Protagonistin, ihre Einsamkeit, ihre Trauer schildert, das geht zu Herzen, das ist eindrücklich und eindringlich. Auch ihre Veränderung, ihre Entwicklung kann er nachvollziehbar beschreiben. Der Autor findet für solche Empfindungen immer die richtigen Bilder, die passenden Worte, wenn auch manches etwas zu überbetont wird. So nervt irgendwann die ständig sich wiederholende Bemerkung von Grace über ihr Alter, immer wieder erwähnt sie das.
Diesmal jedoch war mir der Plot, die merkwürdige Handlung zu verschroben, um mich zu überzeugen, um mich in die Geschichte hinein zu ziehen.
Erzählt wird der Roman in Form eines Briefs, den Grace an einen ehemaligen Schüler schreibt, dem sie all diese Ereignisse detailliert und akribisch schildert. Daran erinnert wird man immer wieder durch eingeschobene Zwischenkapitel, in welchen die Ich-Erzählerin Grace diesen Ex-Schüler direkt anspricht und sich auch auf seine eigenen Probleme bezieht, dabei sehr – um nicht zu sagen zu - philosophisch wird. Ein interessanter Kunstgriff des Autors, dessen Sinn allerdings ein wenig im Dunkeln bleibt.
Insgesamt ein mir etwas zu fantastischer, zu absurder Roman, der stilistisch überzeugt, inhaltlich hingegen weniger.
Matt Haig - Die Unmöglichkeit des Lebens
aus dem Englischen von Sabine Hübner, Bernhard Kleinschmidt und Thomas Mohr
Droemer, August 2024
Gebundene Ausgabe, 412 Seiten, 24,00 €

Bewertung vom 25.09.2024
Frau Morgenstern und das Vermächtnis
Huwyler, Marcel

Frau Morgenstern und das Vermächtnis


ausgezeichnet

Dass ich glühender Fan sowohl von Marcel Huwyler wie vor allem auch von Violetta Morgenstern bin, ist schon kein Geheimnis mehr. Da musste der sechste Band dieser wunderbaren Krimireihe natürlich bei mir einziehen – und wurde sofort verschlungen.
Violetta hat inzwischen einiges durchgemacht, vom angeblichen Tod ihres liebsten Freundes, von der Verfolgung durch ihren einstigen Arbeitgeber, der dubiosen Organisation TELL, bis hin zur Trennung von ihrem Partner und Vertrauten Miguel.
Nun sitzt sie auf einer Insel, genießt sowas ähnliches wie den Ruhestand und lebt zusammen mit dem totgeglaubten Mann ihrer Träume. Da ereilt sie der dringende Ruf vom Chef von TELL, Miguel brauche ihre sofortige und umfassende Hilfe.
Denn dieser sitzt in Haft wegen Mordes, schweigt aber stur über Motiv, Hintergründe und eventuelle Auftraggeber. Auch Violetta, seiner engsten Vertrauten verrät er, als sie ihn aufsucht, nichts. Die Zeit drängt, denn TELL eliminiert seine Mitarbeiter in der Regel, wenn die Gefahr besteht, dass sie Interna verraten. Bevor dies geschehen kann, muss Violetta also unbedingt herausfinden, warum Miguel einen Mordversuch an einem eher zweitklassigen Musiker beging, bei dem stattdessen dessen Leibwächter getötet wurde.
Zuerst verfängt sich Violetta in vielen falschen Spuren, sie verzweifelt an dem hartnäckigen Schweigen Miguels. Auf der Suche nach seinen Gründen dringt sie auch tiefer in seine verwickelte Familiengeschichte ein. Doch erst nach etlichen Sackgassen kommt sie schließlich dahinter, was Miguel zu seiner Tat veranlasste. Die Zeit wird nun immer knapper, in der sie ihn noch retten kann.
Wie immer ist auch dieser Band hochspannend, zumal man über die vergangenen fünf Bücher eine nahe Beziehung zu den Figuren aufbauen konnte. So fiebert man mit ihnen, bangt um Miguels Leben und drückt Violetta die Daumen bei ihren Ermittlungen. Immer ist man nahe an den Figuren, erlebt mit, wie Violetta, die nicht mehr die Jüngste ist, unter Alterswehwehchen zu leiden hat – hier besonders schön der running gag um ihre Hörgeräte, die natürlich später noch eine größere Bedeutung erlangen.
Auch wie immer steckt in dem Roman sehr viel Humor, ist Huwyler Schreibstil leichtfüßig ohne leichtgewichtig zu werden. Die Dialoge sind herrlich, besonders wenn die Menschen stets aneinander vorbei reden oder sich missverstehen. Dazu Violettas sie sehr verwirrende Liebesnöte, trifft sie doch den Mann wieder, der ihr Herz bereits im letzten Band zum Schwingen brachte. Was ihr ein schlechtes Gewissen einbringt gegenüber dem Mann, mit dem sie nun zusammenlebt. Und schließlich will sie auch noch ihr altes Haus zurück, in welches jetzt eine Familie eingezogen ist.
Bei all der Freude an Handlung und Stil ist diesmal aber wohl der Wortspielbazillus, das Alliterationsvirus bei Huwyler ausgebrochen. Diesmal übertreibt er es damit ein bisschen, verfängt sich in seinen eigenen Späßchen an Formulierungen, reiht zu viele, wenn auch durchaus witzige, erfundene Synonyme aneinander. Am Anfang ist das sehr extrem, später lässt es nach, stört aber zuweilen, weil es nicht immer zur aktuellen Stimmung an dieser Stelle im Roman passt.
Davon unbenommen bin ich natürlich uneingeschränkt begeistert von diesem und allen Morgenstern-Romanen und hoffe inständig, dass die Reihe noch eine Weile fortgesetzt wird.
Marcel Huwyler - Frau Morgenstern und das Vermächtnis
grafit, September 2024
Taschenbuch, 282 Seiten, 16,00 €

Bewertung vom 23.09.2024
Gratulieren müsst ihr mir nicht
Polansky, Lilli

Gratulieren müsst ihr mir nicht


sehr gut

Wenn die Protagonistin den Namen der Autorin trägt, handelt es sich dann dennoch um Fiktion oder erzählt der Roman die Geschichte seiner Verfasserin? Diese Frage bleibt leider unbeantwortet.
Allenfalls die Danksagung, in welcher sich Lilly Polansky unter anderem bei Ärzten und Schwestern eines Krankenhauses bedankt, lässt hier Rückschlüsse zu, die aber Vermutung bleiben müssen.
Worum geht es: Lilly ist gerade 20, als ihr ein Herzschrittmacher eingesetzt werden muss. Begonnen hatte es mit ständiger Müdigkeit, schnellem Schlappmachen bei größerer Anstrengung. Es dauert, bis Ärzte herausfinden, was die Ursache ist, zu ungewöhnlich ist dies für einen Menschen in so jungen Jahren.
Das ist auch der Kommentar, den Lilly ständig zu hören bekommt, im Krankenhaus, bei Ärzten, in der Schule, an der Uni, in ihrem gesamten Umfeld. Ein Kommentar, der sie ebenso nervt wie all die anderen, in ihren Augen dummen Sprüche, die man halt so sagt, wenn man nicht weiß, was man sagen soll.
Von ihrer Operation, ihren Krankenhausaufenthalten, den Nachwirkungen, all ihren Schmerzen, Krämpfen, ihrer psychischen Belastung erzählt Lilly in diesem Roman in Ich-Form (was noch mehr das Gefühl verstärkt, eine Biografie zu lesen). Von ihren inneren Kämpfen, der Verzweiflung, von ihrem fast nicht mehr vorhandenen Selbstwertgefühl, von den Selbstmordgedanken. Dabei scheint durch die Worte und Sätze, durch die Bilder immer ein starker Galgenhumor hervor, ein, wenn manchmal auch schwacher, Überlebenswille.
Wenn sie von ihrem Zimmernachbarinnen im Krankhaus berichtet, wenn sie die Arztbesuche schildert, dann zeigt Lilly Polanski ein großes Schreibtalent. Ohne die Menschen zu verurteilen, zeigt sie geschickt die Absurditäten, die Absonderlichkeiten, die oft gerade unter ungewohnten Umständen wie in einer Klinik zutage treten. Sie zeigt die Unfähigkeit vieler Menschen, mit Krankheiten umgehen zu können, die Unbeholfenheit.
Und sie zeigt die Liebe der Menschen, die sich um die Kranke sorgen. Ihre Mutter, die sich zerreißt, um die kranke Tochter gut versorgt zu sehen, die von ihren Sorgen fast aufgefressen wird. Wenn Lilly zuhause fast verblutet, weil sie trotz großer Schmerzen nicht zurück ins Krankenhaus wollte.
Einzig die Abschnitte, die erst sehr spät im Roman plötzlich auftauchen, in welchen sie mit ihrer gescheiterten Beziehung spricht, in Du-Form ihm von dem Gefühl erzählt, von ihm gerade in der schlimmsten Zeit verlassen worden zu sein, einzig diese Abschnitte konnten mich nicht überzeugen, nicht erreichen. Sie sind anders, in anderem Stil geschrieben, völlig ohne den oben erwähnten Humor. Sie wirken fast störend innerhalb der eigentlichen Geschichte.
Insgesamt ein sehr berührender Roman – sofern er denn einer ist. Für mich ist es ein Manko, dass dies nicht aufgeklärt wird, weder im Nachwort noch im Klappentext. Als Debütroman einer sehr jungen Autorin wirklich gelungen, mit einigen Abstrichen.
Lilly Polansky - Gratulieren müsst ihr mir nicht
Schöffling & Co., August 2024
Gebundene Ausgabe, 271 Seiten, 22,00 €

Bewertung vom 13.09.2024
Geheimnisse - Hamburg-Krimi
Huesmann, Anette

Geheimnisse - Hamburg-Krimi


sehr gut

Die Autorin ist selbst Dozentin für Kreatives Schreiben, versteht also ihr Handwerk. Der vorliegende, gerade erschienene Kriminalroman mit einer ungewöhnlichen Ermittlerin im Mittelpunkt, ist auch nicht das erste Buch von Anette Huesmann.
Der Begriff forensische Linguistin war mir bislang nicht geläufig und so geht es sicher vielen Leser:innen diese Krimis. Maggie Kofler, so ihr Name, wird zu einem Mordfall nach Hamburg abgeordnet, in ihrer Begleitung Cem Bayrak, Praktikant in Vertretung ihres eigentlichen, aber erkrankten Kollegen.
Der Tote ist Inhaber einer Reederei und wurde erschossen an seinem Schreibtisch aufgefunden, vor ihm auf dem Tisch ein Drohbrief. An sich schon ein merkwürdiges Szenario, denn wer schreibt einen Drohbrief an einen Toten? Maggies Aufgabe nun ist es, anhand der Sprache und der sprachlichen Eigenheiten des Drohbriefs Rückschlüsse auf den Verfasser bzw. die Verfasserin des Schreibens zu ziehen.
Einige Dinge fallen ihr sofort ins Auge, jedoch verlieren sich diese Spuren vorerst, so dass die Mordkommission, der sie zugeteilt ist, zu Beginn wenig Vertrauen in Maggies Vorgehensweise hat. Geleitet wird die Mordkommission von Luise Becker, die, wie sich schnell herausstellt, die Ex von Maggie ist. Vor dreizehn Jahren hat man sich getrennt, Luise ist inzwischen verheiratet mit Katharina und hat zwei Kinder. Dass sich diese Konstellation erschwerend auf die Ermittlungen auswirkt, ist vorhersehbar.
Cem Bayrak, mit Humor und viel Geduld gesegneter Praktikant, der sich vor allem der psychologischen Aspekte eines Falles annimmt, ist ein guter Beobachter, der auch schon mal auf eigene Faust ermittelt und so den Fall durchaus voranbringt.
Wer Täter oder Täterin war, ist lange nicht klar, dennoch kristallisiert sich nach und nach immerhin ein Motiv heraus, so dass man schon ein wenig vor der Auflösung die Lösung ahnt.
Der Roman ist aus wechselnden Perspektiven geschrieben, mal folgt man Maggies Sicht, mal Cems und mal der von Luise. Die Perspektivwechsel geschehen meist unvermittelt, manchmal mitten in einer Szene, so dass man davon zu überrascht wird und sich erst zurecht finden muss.
Der Schreibstil ist konventionell, die Spannung steigt zwar, aber sie macht den Roman nicht zu einem Pageturner, dafür entwickelt sich die Geschichte zu langsam. Die Konzentration liegt gänzlich auf der Polizeiarbeit, es gibt – was in meinen Augen ein großer Vorteil ist – keine Szene aus Sicht des Täters oder der Täterin.
Störend war für mich der immer wieder in den Vordergrund drängende private Teil der Geschichte, die gescheiterte Beziehung zwischen Maggie und Luise. Dass es heutiger Zeitgeschmack ist, eine gleichgeschlechtliche Beziehung in einem Roman zu schildern, sei akzeptiert, aber hier nahm mir die Beziehung an sich zu viel Raum ein. Ständig grübelt Maggie über die Trennung, reagiert Luise gereizt auf alles, was Maggie sagt oder tut. Das ist mir zu dick aufgetragen, nach dreizehn Jahren auch ein wenig unrealistisch. Am Ende erklärt sich zwar, woran Maggie wirklich leidet, aber das hätte man früher erzählen können, damit man sich eher einfindet in die Nöte der Protagonistin.
Die Figuren insgesamt waren etwas hölzern, in der Gruppe der Ermittler gab es zu viele, so dass man immer mal verloren war zwischen den wechselnden Namen. Die Dialoge hingegen wirken authentisch und lebendig.
Insgesamt ein gut lesbarer Roman, der einen interessanten und neuen Aspekt der Polizeiarbeit beleuchtet, mit für meinen Geschmack ein bisschen zu viel Privatleben der Ermittlerinnen.
Anette Huesmann – Geheimnisse
BoD, Juni 2024
Taschenbuch, 259 Seiten, 11,99 €

Bewertung vom 11.09.2024
Nur nachts ist es hell
Taschler, Judith W.

Nur nachts ist es hell


gut

Mit großen Erwartungen sehnte ich die Fortsetzung von „Über Carl reden wir morgen“ herbei, einem Familienroman, der mir absolut gefiel, der mich fesselte, bei dem ich voll und ganz in die Geschichte eintauchen konnte.
So ist es aber oft, je größer die Erwartungen, desto größer die Enttäuschung. Die jetzt vorliegende Fortsetzung konnte mich nicht überzeugen, mich nicht erreichen.
Geschrieben ist der Roman aus der Sicht von Elisabeth, der Tochter der Familie Brugger, die im Mittelpunkt des Vorgängerbandes stand. Elisabeth ist geboren kurz vor der Jahrhundertwende. Sie erzählt in Ich-Form ihre eigene Geschichte einer anderen Person, ihrer Großnichte, der Enkelin eines ihrer Brüder. (Hier hilft der am Ende des Buchs gezeigte Stammbaum der Familie Brugger beim Verständnis).
Doch nicht nur diese Erzählweise, sondern auch der sehr spröde Erzählstil macht es schwer, in den Roman hineinzufinden. Sehr distanziert, sehr kühl, emotionslos verfolgt man das Leben Elisabeths und ihrer Brüder. Sie möchte Ärztin werden, zu ihrer Zeit für eine Frau ein nahezu unerreichbares Ziel. Doch sie setzt sich durch, entgegen allen Widrigkeiten. Sie heiratet, bekommt Kinder, schließt Freundschaften, arbeitet in ihrem Beruf und hält vor allem die sehr enge Beziehung zu ihrem Bruder Eugen wach. So ist es auch seine Geschichte, die sie erzählt, aber auch die sehr spröde, sehr gefühlsarm.
Elisabeth erzählt vom ersten und vom zweiten Weltkrieg, der Zeit dazwischen, von ihrem Studium, ihrer Ehe, von anderen Menschen, all das aber so, als beträfe es sie selbst nicht.
Das macht es schwer, für diese Figur, diese Frau etwas zu empfinden, mitzufühlen. Dazu kommen viele, oft spontane Zeitsprünge vor und zurück, die aus dem Handlungslauf herausreißen, es erschweren, der Handlung zu folgen.
Dabei ist das Hintergrundthema, neben der Familiengeschichte die Geschichte der weiblichen Ärzte, der Steine, die man ihnen in den Weg legte und der Errungenschaften, die sie für die Medizin auch bedeuteten, durchaus interessant. Doch nichts an diesem Roman konnte mich wirklich fesseln, ich konnte nicht eintauchen, nicht miterleben, wie es Elisabeth erging. Dazu diese Erzählweise, dass sie immer wieder die Person anspricht, der sie von ihrem Leben erzählt, die mich zusätzlich immer wieder irritierte. Auf diese Art war der Roman ein sehr nüchterner Lebensbericht ohne Chronologie.
So hat mich der neue Roman von Judith W. Taschler, für deren Bücher ich sonst schwärme, nicht überzeugen können. Weder Figur noch Inhalt konnten mich erreichen. Schade
Judith W. Taschler - Nur nachts ist es hell
Zsolnay, August 2024
Gebundene Ausgabe, 319 Seiten, 24,00 €

Bewertung vom 09.09.2024
Februar 33
Wittstock, Uwe

Februar 33


ausgezeichnet

Von seinem kürzlich erschienenen Buch „Marseille 1940“ war ich absolut begeistert und eingenommen. Eine Lesung des Autors daraus mit hochinteressanten Berichten aus seiner Recherche und spannenden Informationen über den Buchinhalt hinaus hat mich dazu bewogen, auch dieses Buch, das jetzt neu als Taschenbuch herauskam, zu lesen.
Und auch davon bin ich begeistert. Am Tag, als es bei mir ankam, nahm ich es sofort zu Hand und konnte es nicht mehr weglegen, bis ich es ausgelesen hatte. Spannender und fesselnder kann auch ein hochkarätiger Thriller nicht sein. Und die erschreckenden Parallelen zu aktuellen Geschehnissen drängen sich geradezu auf.
In Tagebuchform beginnend kurz vor dem Tag der Machtergreifung am 30. Januar 1933, erzählt Uwe Wittstock von den dramatischen und rasanten Entwicklungen, die sich vor allem für die Künstler und Schriftstellerinnen, für Journalisten und Politikerinnen ergaben. Menschen, die plötzlich Verfolgte waren, deren Bücher nicht mehr gelesen, deren Meinung nicht mehr gehört werden durfte.
Heinrich Mann, die Kinder seines Bruders Thomas, Klaus und Erika, Bertold Brecht, Hermann Kesten, Erich Kästner, Erich Maria Remarque, die Liste ist lang, die Liste der Namen derer, die sich plötzlich mit der alles entscheidenden Frage konfrontiert sahen: Gehen oder bleiben.
Else Lasker-Schüler oder Käthe Kollwitz, Alfred Döblin und Walter Mehring, Egon Erwin Kisch, sie alle mussten Verfolgung und schlimmeres befürchten. Und dann gab es noch die, die meinten, so schlimm werde es ja nicht werden, man solle doch abwarten. Und dann diejenigen, die sich in den neuen Umständen etablierten, sich dem Druck beugten oder sich gar gemein machten mit den neuen Machthabern.
Wie so manche in der Akademie der Künste, in der Sektion der Literatur, die von dem neuen kommissarischen Kultusminister zum Ausschluss so berühmter Mitglieder wie Heinrich Mann gezwungen wird. Nur wenige der Mitglieder protestieren, wollen sich dagegen wehren, doch auch sie verstummen schließlich.
Doch es trifft nicht nur Kulturschaffende, auch Politiker werden verfolgt, verprügelt, eingesperrt, gefoltert, alles ohne Handhabe, ohne Kontrolle, verschwinden in Gefängnissen und Lagern. Es geht rasend schnell, es dauert nur wenige Wochen, es braucht nur wenige Gesetze, die Hindenburg willfährig unterzeichnet. Und jede freie Meinungsäußerung, jede Kritik am Regime, alles wird plötzlich lebensgefährlich.
Uwe Wittstock schafft es, durch die Tagebuchform eine enorme Spannung zu erzeugen, man fiebert mit den Betroffenen, hofft wider besseres Wissen, ist entsetzt über die Geschwindigkeit, mit der jede demokratische Ordnung außer Kraft gesetzt wird. Am Ende jedes Tages, den er aufzeichnet, sind, im Stil von Polizeimeldungen, kurze Notizen angefügt über die an jenem Tag in Deutschland getöteten und verletzten Menschen, bei Demonstrationen, bei Protesten, bei Schlägereien der SA und der SS.
Das Buch nimmt einem fast den Atem und die Gefahren, die einer Demokratie, die sich nicht rechtzeitig wehrt, drohen, die Gefahr, dass sich ähnliches wiederholt, sind leider so real, so gegenwärtig. So ist dieses Buch beklemmend, erschreckend und doch so ungemein wichtig, dass man sich wünscht, es würde Pflichtlektüre in den Schulen, besonders in manchen Regionen Deutschlands.
Uwe Wittstock – Februar 33: Der Winter der Literatur
C.H. Beck, April 2024
Taschenbuch, 288 Seiten, 16,00 €