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ins_lebenlesen
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Schleswig-Holstein

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Insgesamt 58 Bewertungen
Bewertung vom 03.01.2024
Die sieben Monde des Maali Almeida
Karunatilaka, Shehan

Die sieben Monde des Maali Almeida


ausgezeichnet

„Du hast gern Witze über den Tod gerissen, solange er Dir unwahrscheinlich vorkam, wie er uns allen vorkommt, bis wir eines Besseren belehrt werden.“ S.164

Seit langem hat kein Buch so ambivalente Gefühle in mir ausgelöst wie DIE SIEBE MONDE DES MAADI ALMEIDA des Sri-Lankers Shehan Karunatilaka. Ich schwebe mit den Geistern dieser Geschichte über dem Boden der Realität, durch die wie Skulpturen geformten Sätze und erarbeite mir gleichzeitig die Hintergründe des Bürgerkriegs in Sri Lanka, der von 1983 bis 2009 sämtliche Ethnien, Religionen, Weltmächte und sonstige Interessengruppen auf den Plan rief, um sich blutig mit einer Bilanz von wahrscheinlich 100.000 Toten zu bekämpfen.

Wir sind im Jahr 1990 und mittendrin in diesem Krieg. An Möglichkeiten zu sterben, mangelt es für jemanden wie Maali Almeida „[Kriegs]Fotograf, [Glücks]Spieler, [schwule]Schlampe“ nicht. Er ist verwirrt, als er in einer bürokratisch organisierten Zwischenwelt erwacht mit tausenden Halbtoten, die mit Verletzungen, verbrannten Kleidern und leeren Blicken den Ausgang ins ewige Licht suchen. Sieben Monde, sieben Nächte hat Maali Zeit, sich aus dieser Welt zu befreien, um ins Jenseits einzutreten. Doch er ist noch nicht bereit. Er muss die Frage klären, wie es so weit kommen konnte, dass er hier zerfetzt und blutverschmiert durch eine Vorhölle stolpert. Wer hat ihn getötet und warum?

Durch die Perspektive des Toten, der sich auf Winden der Erinnerung mit derbem Humor durch das Reich der Geister und der Lebenden bewegt und sich selbst als „Du“ seine Geschichte erzählt, bekommt dieser Roman eine ganz besondere Dichte. Karunatilaka schenkt nicht nur Maali mehrere Stimmen, sondern auch all den Toten, die dieser Krieg bereits gefordert hat. So ist es gleichermaßen ein Politthriller, eine Geistergeschichte, eine Gesellschaftssatire, aber auch eine tiefgründige philosophische Suche nach dem Sinn des Lebens und Sterbens.

„Wir sind ein Lichtflackern zwischen einem langen Schlaf und dem nächsten. Vergiss die Märchen von Göttern, Höllen und vergangen Geburten. Glaub an Chancen, Fairness und falsches Spiel mit Falschspielern, spiel deine Hand, so gut du kannst, solange du kannst. Man ließ dich glauben, der Tod bedeute süße Vergessenheit, und beides war falsch.“

Es ist aber auch eine Geschichte über Sri Lanka, über diesen erbitterten jahrzehntelangen Krieg, über Religion, aber auch über Freundschaft und Liebe und das Menschsein.
Neben aller Euphorie möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass es mich zeitweise angestrengt hat dranzubleiben. 500 Seiten voller Geschichte, von der ich keine Ahnung, voller Namen, die ich nie gehört hatte, voller Sätze, die mehrfach gelesen werden wollten. Es gab Momente, da wollte ich es in die Ecke schmeißen. Doch immer hat der Wunsch überwogen, zu erfahren wie es weitergeht. Immer bin ich doch wieder an einem Satz hängen geblieben, den ich ausschneiden und aufhängen mochte, bin ich doch wieder über eine Erkenntnis gestolpert, über einen guten Gedanken, den ich auf keinen Fall verpasst haben mochte. Und dann habe ich mir das Glossar, die Personenliste oder Google wieder vorgenommen, nachgeschlagen und weitergelesen. Und bin dankbar dafür. Mit dem Wissen von jetzt würde ich es am liebsten nochmal lesen und sicher noch sehr viel mehr entdecken.

Lange habe Shehan Karunatilaka keinen Verlag gefunden, der das Buch in Europa für machbar hielt. Es sei für den europäischen Markt intensiv überarbeitet worden. Der Erfolg gibt den Menschen, die daran glaubten, recht. 2022 erhielt es als erstes Buch aus Sri Lanka den @thebookerprizes.

Hannes Meyer, der auch DIE GESCHICHTE EINER KURZEN EHE von Anuk Arudpragasam übersetzt und hiermit für den Internationalen Literaturpreis nominiert war, hat mit der deutschen Übersetzung sicher ein kleines Wunder vollbracht.

Bewertung vom 10.12.2023
Lichtspiel
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


ausgezeichnet

Gustav Gründgens, Heinz Rühmann, Wilhelm Furtwängler - Geschichten der Stars der NS-Zeit wurden schon viele erzählt. Auf den ersten Blick scheint es, dass DANIEL KEHLMANN ihnen mit der des österreichischen Regisseurs G.W.Pabst eine weitere hinzufügt.

Doch was Daniel Kehlmann daraus macht, ist im wahrsten Sinne großes Kino. Bis zur Comicreife überzeichnete Charaktere, scharf- und doppelzüngige Schlagabtausche, Komik, bei der das Lachen schon unterhalb des Halses stecken bleibt, rasante Schnitte, schwindelerregende Perspektivwechsel. Ich hatte das Gefühl, mich in einem Kinosessel festschnallen zu müssen, aber nicht, um einem betulichen Unterhaltungs- oder Durchhaltefilm der nazideutschen Propagandamaschinerie zu folgen, sondern in einem Action-Abenteuer der 2000er Jahre.

Nun kann man sich fragen, ob das der Sache dient. Doch was ist eigentlich die Sache? Zunächst mal die vielleicht einzigartige und auch verstörende Geschichte des österreichischen Regisseurs G.W.Pabst zu erzählen. Pabst machte sich in Zeiten der Weimarer Republik unter dem Spitznamen „Der Rote Pabst“ mit pazifistischen linksorientierten Filmen einen Namen, war nach der Machtübernahme 1933 bereits in Amerika und Frankreich erfolgreich und ist durch eine Verkettung verschiedener Umstände 1939 nach Österreich zurückkehrt und geblieben. Und arbeitete. Drehte auf Wunsch und Geheiß von Joseph Goebbels persönlich Filme mit „subtilen Propagandatendenzen“ (Wikipedia).

Daniel Kehlmann lässt ihn sagen: „Die Zeiten sind immer seltsam. Kunst ist immer unpassend. Immer unnötig, wenn sie entsteht. Und später, wenn man zurückblickt, ist sie das Einzige, was wichtig war.“ S. 366

Warum? Warum, fragt man sich die ganze Zeit und auch Daniel Kehlmann sagt in einem Interview, dass, hätte er EINE Frage, die er G.W.Pabst noch stellen dürfe, es die nach dem Warum seiner Rückkehr wäre. Warum tut er sich und seiner Familie das an? Lässt seinen Sohn unter der Nazipropaganda groß, seine Frau fast verrückt vor Angst und Unwohlsein mit dem täglichen Arrangement werden?

Ein lupenreiner Opportunist? Wie weit ist Opportunismus – gerade in der Kunst - ENTschuldbar? Wie weit darf man gehen – für die Kunst? Wann beginnt Schuld? Wenn die Antwort auf diese Fragen so einfach wäre!

Diese Fragen ins Heute zu holen ist meiner Meinung nach die zweite wichtige Sache an diesem Roman. Wie versetzt man der historischen Kulisse einen Anstrich, mit dem uns das Spiel zwischen Macht und Manipulation vs. Anpassung und Duldung direkt vor die Füße fällt? Durch Fiktion, Überzeichnung, Witz, Slapstik, Magie, Illusion und Desillusion, Licht- und Schattenspiele! Das ist nichts zum Wohlfühlen, keine Geschichte, die einem das Herz öffnet. Das ist eine Geisterbahnfahrt durch die Abgründe der menschlichen Seele unter gruppendynamischen Zwängen – nicht nur in totalitären Systemen. Mitreißend erzählt. Fast 500 Seiten ohne einen Moment der Langeweile, selbst wenn das Personal am Set zuweilen etwas unübersichtlich wird und mir nicht jede Szene ihren Sinn erschließt. Wer Freude am Googlen und Faktencheck beim Lesen hat, wird hier auf seine Kosten kommen. Es geht aber auch ohne und wird zum Genuss, wenn man sich dem Sog dieses Spielfilms … äh … Romans überlässt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.11.2023
Die Zeit der Verluste
Schreiber, Daniel

Die Zeit der Verluste


ausgezeichnet

„Es gibt wenig menschlichere Regungen als die Traurigkeit der Trauer, doch sie zuzulassen, sie zu akzeptieren und sie zum Ausdruck zu bringen, erforderte an jenem Tag mehr Mut, als ich aufbringen konnte.“ S. 83

Im Gespräch, dem ich am Sonntag in Hamburg mit Daniel Schreiber lauschen durfte, sucht er auf die Frage, ob man Trauer trainieren könne wie einen Muskel nach einem anderen Bild. Er fühle da keinen Muskel, sondern er sähe unseren Körper als ein dehnbares Gefäß, das sich im Laufe des Lebens mit immer mehr Verlusten füllen und wachsen würde. Wie gern versuchen wir Trauer auszublenden, uns abzulenken, auszuweichen, so schnell wie möglich wieder zum Alltag überzugehen.

Doch Trauer ist nichts, das man irgendwann, nach Wochen, Monaten oder einem Jahr abschließen kann. Trauer wird uns immer wieder ergreifen. Jeder neue Verlust, sei es der eines geliebten Menschen – wie in seinem Fall der des Vaters -, eines Lebenstraums oder eines kollektiven Gutes, bringt uns wieder in Verbindung mit der Summe unserer Verluste. Bestenfalls lernen wir das zu akzeptieren.

„Trauer ist immer eine Erfahrung von Endgültigkeit. Vielleicht liegt darin neben dem Schmerz auch eine merkwürde Form von Trost: mit Tod und Vergänglichkeit lässt sich nicht verhandeln.“ S. 32

Daniel Schreiber wählt für seine Betrachtung die Form des Persönlichen Essays. Er verbindet autobiografische Erfahrungen und einen Tag im nebelverhangenen Venedig fließend mit wissenschaftlichen, philosophischen, psychologischen Erkenntnissen und Gedanken über Kunst und Malerei und schafft einen Resonanzkörper, der unweigerlich eigene Erinnerungen zum Schwingen bringt, eigenes Reflektieren in Gang setzt und einen Bogen schlägt zum kollektiven Umgang mit Verlusten von Sicherheiten und Gewissheiten.
Wir begleiten ihn auf einem Streifzug durch Venedig, durch die schon seit Jahrhunderten totgesagte Stadt, die es doch schafft, sich immer wieder zu erneuern, deren morsche Pfähle immer wieder ausgetauscht werden, die immer neue Wege findet, dem Untergang zu trotzen. Wir mäandern mit ihm über Brücken, Kanäle, durch Museen, über den alten evangelischen Friedhof, durch die Werke von Freud, Derrida, Didion, Barthes und vieler anderer, genießen die kulinarischen und kulturellen Köstlichkeiten der Stadt und bekommen der Trauer auch immer wieder Freude und Hoffnung entgegengesetzt.

„Ich kann nicht glauben, wie schön, wie unglaubliche schön diese Welt, in der wir leben, sein kann, und wünsche mir, wenigstens die Fähigkeit, das zu sehen, nie zu verlieren.“ S. 42
Ich könnte Daniel Schreiber ewig zuhören, sowohl seinem geschriebenen als auch seinem gesprochenen Wort. Wie er da mit einer wahnsinnig feinfühligen Präsenz auf der Bühne sitzt, mit seiner sanften Stimme, überlegte kluge und immer stimmige Worte aus sich herauswringt, ist es undenkbar, Autor und Werk zu trennen. Er verkörpert, was er schreibt, und schreibt, was er verkörpert, und bleibt gleichzeitig auf einer analytischen Metaebene. Seine Worte berühren und schwingen nach. Die Seiten meines Buches kleben voller Zettel, viele Zeilen tragen Unterstreichungen.

Ich könnte nicht anders enden als mit den Worten von Fatma Aydemir: „Wer ein Buch von Daniel Schreiber liest, blickt danach anders aufs eigene Leben.“

In wenigen Tagen wird übrigens auch das von ihm eingesprochene Hörbuch erscheinen, ich empfehle von Herzen ihm zuzuhören.

Bewertung vom 26.11.2023
Marschlande
Kubsova, Jarka

Marschlande


gut

Wenn ich könnte, würde ich 3,5 Sterne vergeben, zwischen gut und sehr gut:

Dieses Buch hat es mir nicht so einfach gemacht, wie ich dachte: Ochsenwerder, ein ländlicher Stadtteil in den Vier- und Marschlanden vor den Toren Hamburgs im ausgehenden Mittelalter ist Schauplatz der Geschichte von Abelke, einer Bäuerin, die den Hof der Eltern erfolgreich weiterführt, als Frau allein, unverheiratet, ohne den Schutz und die Unterstützung eines Mannes, einer Familie. Sie kämpft, hat ein feines Gespür für die Natur, die Menschen und Stimmungen, die sie umgeben, trifft die richtigen Entscheidungen, hat ihren eigenen Kopf, den sie durchsetzt und doch verliert sie nach der vernichtenden Allerheiligenflut von 1570 unter dem gebrochenen Elbdeich fast alles. Und wieder kämpft sie – vor allem mit den von Neid und Gier besessenen Männern, die in jener Zeit an der Macht sind. Am Ende stirbt sie als Hexe auf dem Scheiterhaufen.

Jarka Kubsova erzählt diese auf wahren Begebenheiten basierende Geschichte der Abelke Bleken sehr lebendig und bildgewaltig. Nach wenigen Seiten bin ich drin in der im Nebel liegenden weidenbestandenen Landschaft hinterm Deich, erlebe die Mühen der Landwirtschaft des Mittelalters, spüre die verschlossenen, durchs Leben gehärteten Figuren um mich. Die sehr gründlich recherchierten historischen Fakten finde ich geschickt in die fiktive Handlung integriert, die Geschichte interessiert und packt mich.

Doch Jarka Kubsova will keinen historischen Roman erzählen, sondern eine Brücke in die heutige Gesellschaft schlagen. Hierfür erschafft sie Britta, die sich knapp 500 Jahre später mit Anfang 40 plötzlich in einem Leben wiederfindet, das sie nie gewollt hat: in einem Vorort von Hamburg, mit einem Ehemann, der sie mit Haushalt und Kinderbetreuung allein lässt, dessen Traum vom Eigenheim auf dem Lande sich als ihr Albtraum entpuppt.

Mit einem Teilzeitjob, in dem sie nur einen Bruchteil ihres intellektuellen Potenzials entfalten kann, mit einer schrecklichen Schwiegermutter und einem jährlichen alkoholschwangeren Wellness-Wochenende mit der besten Freundin. Kubsova verwebt beide Geschichten miteinander, erzählt sie aus immer abwechselnden Perspektiven.
Und das ist mein Problem. Britta passte für mich so gar nicht zu der Geschichte von Abelke, ging mir nach kurzer Zeit auf die Nerven und hat meinen Lesefluss gestört. Vielleicht hat sie ein oder zwei Klischees zu viel aufgeladen bekommen, vielleicht hat sie ein oder zwei Mal zu viel über ihr furchtbares Schicksal gejammert, während Abelke parallel nicht nur um ihre Existenz, sondern auch um ihr Leben kämpfen musste. Um den Bogen zu unserer heutigen Gesellschaft zu schlagen und zu erkennen, wie viel sich verändert hat und doch auch wie wenig, hätte ICH Britta nicht gebraucht, denn das erzählt Abelkes Geschichte implizit auf sehr gewaltige Weise.
Eine gelungene und für mich versöhnliche Abrundung findet sich im Nachwort, das die Tatsachen und historischen Hintergründe des Lebens der Abelke Bleken und ihrer MitstreiterInnen vertieft. Sehr interessant dazu ist auch der Instagram-Auftritt von Jarka_Kubsova . Unter dem Stichwort Recherche Review erfährt man weitere interessante Details hierzu.

Für mich war die Begegnung mit Abelke unvergesslich. Und ich bin dankbar für den inneren und äußeren Austausch, den dieses Buch angeregt hat.

Bewertung vom 24.11.2023
Der Schlafwagendiener
Mayr, Suzette

Der Schlafwagendiener


ausgezeichnet

Baxter möchte Zahnarzt werden. Nichts mehr als das. Um das Geld für das Studium zusammenzusparen, arbeitet er bei einer kanadischen Eisenbahngesellschaft. Es ist 1929 und er ist Schwarz und Homosexuell. Und Schlafwagendiener. Die unterste Stufe der gesellschaftlichen Hierarchieleiter. Und so existiert er zwischen verwöhnten Reichen und Möchtegernberühmtheiten und ihren Koffern, Taschen, Kleidern und Schuhen, zwischen ihren Gerüchen, ungepflegten schiefen Zähnen, zwischen ihren verbalen Belanglosigkeiten oder Beleidigungen fast unbemerkt, mit dem Selbstverständnis eines Gebrauchsgegenstandes.

Er putzt Schuhe, Kojen und Toiletten, hält Leitern und Stufen, hievt Koffer rauf und runter, hat ein Ohr für diesen und eine Geschichte für jenen und nachts rennt er zwischen betrunkenen Fahrgästen, die ihr Bett, Schlaftrunkenen, die die Toilette suchen und den Abteilen schlafender Kollegen hin und her, während er selbst nur „mohnsamengroße“ Portionen Schlaf sammelt, mit bleiernen Augenlidern und immer mehr halluzinierend zwischen Wachen und Träumen dem nächsten Tag entgegenfährt. „In seinem Hirn surrt und qualmt das Räderwerk des Schlafs.“

Ich bin von dieser tragisch-komischen schlaksigen rastlosen Figur hingerissen. Erzählt wird dieses Gesellschaftspanorama aus Baxters Perspektive. Ohne selbst Grundbedürfnisse wie Essen und Schlaf befriedigen zu können, balanciert er auf dem Drahtseil heilloser Überforderung und perfekt organisierter Betriebsamkeit mit seinen übernächtigten wirren Gedanken durch die Geschichte. Über seinen Galgenhumor, mit dem er seine Umgebung kommentiert, mit dem er den Passagieren Namen wie Pappe und Papier, Mango, Spinne, je nach ihrem Äußeren gibt, Zähne analysiert, die bei den widerlichsten Menschen am ungepflegtesten sind, muss ich oft schmunzeln. Ich renne mich mit ihm müde und verzweifle ob der vermeintlichen Sinnlosigkeit seines Tuns, bange mit ihm um Strafpunkte, für die kleinsten Vergehen, an denen er keine Schuld trägt.
Und so rolle ich in diesem „Luxusgefängnis“ durch ein Panorama der menschlichen Gesellschaft, in der es die gibt, die oben sind und die Regeln bestimmen und die, die unten, um Unsichtbarkeit bemüht versuchen, ihren Tritten auszuweichen. Alles hat so seine Ordnung, solange der Zug rollt und niemand diese Ordnung in Frage stellt.

Unterhaltsam, humorvoll, tiefgründig, antirassistisch, antidiskriminierend, treibend, sprachlich originell, liebevoll, so vieles ist diese Reise durch Kanada mit Baxter. Suzette Mayr ist zu Recht für dieses Buch mit dem renommiertesten kanadischen Literaturpreis, dem Giller Prize ausgezeichnet worden. Auch Anne Emmert hätte für die Übersetzung dieses sprachlichen Feuerwerks einen Preis verdient. Ein Buch, das mir in Erinnerung bleiben wird.

Bewertung vom 21.11.2023
Entzwei
Gelsing, Sabine

Entzwei


ausgezeichnet

„Helene würde gerne das erzählen, was man immer wieder über getrennte Zwillinge hört, würde gerne von einem unsichtbaren Band berichten, das zwar zart, aber allgegenwärtig war, sodass sie sich ihr ganzes Leben lang unvollständig gefühlt hat. Sie würde es so gerne fühlen. Aber sie kann das nicht behaupten. Entzwei fühlt sie sich erst seit einigen Tagen.“ (S. 146)

1949 ein Dorf irgendwo in Deutschland. Gefallene Väter, vom Mund abgespartes kleines Glück, tradierte Werte, wenig Gesagtes, viel Verdrängtes. Franz führt den Hof seit dem Tod seines Vaters unter dem wachsamen Auge der Mutter. Sie wartet auf die richtige Frau für ihn, die vor allem aber auch IHREN Vorstellungen entsprechen soll. Das ist ganz bestimmt nicht Elisabeth, die in der Dorfkneipe bedient, ihren eigenen Kopf hat und von einer Zukunft als Künstlerin in der Stadt träumt. Franz liebt Elisabeth, doch auch für ihn bedeutet Liebe Heirat und ein gemeinsames Leben auf dem Hof. Als Elisabeth schwanger wird, treffen alle Drei Entscheidungen, die dem Leben der in Elisabeth heranwachsenden Zwillinge eine dramatische Wendung verleihen. Sie werden bei der Geburt getrennt, Helene bleibt in der Obhut der Familie, Alma wird in einem katholischen Kinderheim aufwachsen.

Fassungslos erleben wir ein dunkles Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte, die sogenannte „Fürsorge-Erziehung" in häufig von katholischen Nonnen geführten Kinderheimen. Vor allem „uneheliche“ Kinder „gefallener Mädchen“ werden hier mit Zucht und Ordnung und harter Arbeit für ihr Kindsein bestraft, jeglicher Würde und ihrer Rechte auf Entfaltung der Persönlichkeit beraubt. Wir erleben wie sie in dieser Kälte, Gewalt und Lieblosigkeit selbst verrohen und zu Täterinnen werden, obwohl sie sich eigentlich nur nach Liebe und Zuwendung sehnen.
Auf mehreren Zeitebenen über drei Generationen und aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven begibt sich Sabine Gelsing in ihrem Debüt auf Spurensuche und gräbt nach den Motiven der ProtagonistInnen. Auf nur 200 Seiten, in einer dichten Sprache und mit pointierten Dialogen bringt sie uns nah heran. Wie konnte es zu den Entscheidungen kommen? Und wie lebt es sich damit? Kann es irgendwann Versöhnung geben? Die Perspektivwechsel und eine sprachliche Leichtigkeit geben der spannenden feinfühlig erzählten Geschichte etwas Versöhnliches und lassen sie mich trotz des schweren Themas mit Spannung und Freude lesen.

Ich wäre gern noch weiter gegangen. Hätte gern verstanden, wie ein Teil der Gesellschaft so mit Kindern umgehen konnte, welche Wut, welche Ängste, welches Menschenbild dahintersteckten. In Deutschland begann sich erst in den 60er Jahren mit der Entwicklung der Reformpädagogik eine Diskussion um Kinderrechte und Kinderschutz zu entwickeln, die bis zum heutigen Tage nicht abgeschlossen ist.

Bewertung vom 15.11.2023
Mahtab
Djafari, Nassir

Mahtab


ausgezeichnet

Frankfurt, 1967. Nassir Djafari erzählt die Geschichte einer Familie aus dem Iran, die in den 50er Jahren nach Deutschland kommt und in deren Mittelpunkt Mahtab, die Frau von Amin und Mutter dreier Kinder steht. Das jüngste 10jährige Kind ist bereits in Deutschland geboren. Die älteste ist im Iran aufgewachsen und mittlerweile volljährig.

10 Jahre lang schien alles gut zu gehen, Mathab geht arbeiten und lernt Auto fahren, ihr Mann gewährt ihr Freiheiten, die sich in Deutschland die Frauenbewegung erst beginnt zu erkämpfen. Doch mit den politischen Unruhen der späten 60er Jahre, beginnen auch Mahtab die Dinge zu entgleiten und ihre trotz allem von traditionellen Werten geprägte Welt zu bröckeln. Die Tochter trägt plötzlich Mini, nimmt die Pille und scheint an Studentendemonstrationen gegen den Vietnamkrieg teilzunehmen. Die Jungs entziehen sich ihrer Erziehung. Amin, der selbstständig und souverän sein kleines Geschäft führt, scheint eine Affäre mit einer blonden jüngeren Kollegin zu haben, während Mahtab sich in langen Röcken, gesenktem Blick und Tschador am sichersten fühlt und den Avancen eines Kollegen aus dem Wege geht. Plötzlich scheint sie die Einzige zu sein, die sich den Traditionen ihrer Kultur verpflichtet fühlt, während der Rest der Familie dem westlichen Lebensstil verfällt und seinen neuen Idealen nacheifert.

Sie muss sich entscheiden, muss ihren Weg zwischen Tradition und Moderne, zwischen dem Iran und dem aufbrechenden Deutschland der 68er und vor allem Heimat in sich selbst finden.

Lange habe ich die die Essenz des Romans nicht gesehen, sondern bin einfach der gut erzählten wendungsreichen Geschichte gefolgt. Die Botschaft liegt eher in den Zwischentönen, den Widersprüchen, die sich in mir auch gegenüber Mahtab auftun. In der Zeit- und Raumlosigkeit, die ich immer mehr wahrnehme.

Es ist für mich ein typischer Roman der vom Verlag vertretenen „Luftwurzelliteratur“, die den „bereichernden Aspekt des Exils in den Vordergrund stellt. Nicht der wehmütige Blick in die Heimat und Klagen stehen im Fokus, sondern die persönliche Erfahrungsschilderung des Lebens in unterschiedlichen Kulturen. Luftwurzeln halten sich nicht an Grenzen, sondern wachsen über sie hinaus.“ (Verlags-Homepage)

Diese Philosophie des Sujet Verlags hat mich gefangen genommen und ich habe das Bedürfnis dem nachzugehen. Der Roman von Nassir Djafari ist ein exzellentes Beispiel dafür und eine große Empfehlung für alle, die sich mit dieser Literatur auseinandersetzen mögen.

Bewertung vom 12.11.2023
Kleine Kratzer
Campbell, Jane

Kleine Kratzer


ausgezeichnet

„Wenn Sie meinen, das Debüt einer Achtzigjährigen müsse milde und nostalgisch sein, irren Sie sich gewaltig“ (Blurb aus „Ophra Daily“)
Diese 13 Kurzgeschichten von Frauen jenseits der 70, geschrieben von einer 80jährigen haben mich umgehauen. Und wenn Ihr 25 seid, dann hört jetzt bitte nicht auf zu lesen! Denn das sind keine rührseligen bedächtigen Geschichten aus dem Schaukelstuhl, sondern rasante, aufregende weibliche Blicke aus dem Inneren von Heldinnen, die ihr Alter und die Diskriminierungen, die damit einhergehen nicht verleugnen (können), jedoch unverfroren einen Sche*ß darauf geben und das machen, was sie wollen. Es sind Geschichten über Sehnsüchte, Hoffnungen und Lust, die in der Präsenz der Vergänglichkeit umso dringlicher werden. Im Bewusstsein, Dinge vielleicht ein letztes Mal tun zu können, kann Freude eine doppelte sein, kann Begehren etwas Existenzielles bedeuten und Selbstbestimmung eine Notwendigkeit entwickeln.
Die Kurzgeschichten komprimierten ein langes Leben auf ein paar Seiten und oft staune ich, welche literarische Formel Jane Campbell für diese Dichte gefunden hat. Wie innerhalb weniger Minuten, manchmal Sekunden die Stimmung und der Ton kippen und ich mit einem überraschten „oh nein!!“ zurückbleibe und erstmal verdauen muss.
Jede Protagonistin erzählt von den Facetten des Lebens in einem anderen Ton, mal abgeklärt, mal bissig humorvoll, mal wehmütig und verträumt. Ihre Wirklichkeit ist von Verlusten, Unwägbarkeiten und Unzulänglichkeiten, aber auch von Lebenslust und Verlangen gefüllt. Männer und erwachsene Kinder, die den Frauen ihr Leben aus der Hand nehmen wollen, kommen nicht gut dabei weg.
Ich würde gern zitieren, spüre aber, dass man den Zauber einzelner Sätze ohne die Tiefe des Zusammenhangs nicht erzeugen kann.
Es wird Euch nichts anderes übrigbleiben, als dieses kleine Wunder selbst zu kosten. Ihr werdet es nicht bereuen!
Das Programm des @Kjona_Verlag überzeugt mich immer wieder. Mit ausgeprägtem Spürsinn für Talente, die den Zeitgeist inspirieren und die Vielfalt des Lebens vor uns ausbreiten gelingt es, mich immer wieder zu überraschen. Zudem erlebe ich, dass hier eine Vision gelebt wird, dass ich hochwertige und nachhaltige Produkte in der Hand halte, dass Equal Pay mit fairen Vergütungen der AutorInnen selbstverständlich ist und dass das Konzept authentisch und nahbar gelebt wird. Diese Werbung mache ich absolut freiwillig, ohne Bezahlung und aus reiner Lust und Freude.

3 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.11.2023
Ich bin Frida / Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe Bd.23
Bernard, Caroline

Ich bin Frida / Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe Bd.23


sehr gut

Dies ist meine erste intensive Begegnung mit Frida Kahlo. Doch wie oft schon hat mich Fridas durchdringender Blick unter der Monobraue, der gleichzeitig Stolz, Kraft, Selbstbewusstsein und Verletzlichkeit ausstrahlt, gefangen genommen? Was macht sie zu der Ikone, die überall auf der Welt in Ausstellungen, von Werbeflächen und Alltagsgegenständen in unsere Augen schaut? Ist es die Botschaft von der starken, eigenwilligen Frau, die ihren Weg geht und sich von nichts und niemandem aufhalten lässt, weder von ihren körperlichen Einschränkungen und ständigen Schmerzen noch von der emotionalen Abhängigkeit einer starken Liebe oder gesellschaftlichen Erwartungen?

Wir lernen Frida im Jahr 1938 kennen, als sie 31 und bereits 10 Jahre mit dem 20 Jahre älteren berühmten mexikanischen Maler Diego Rivera verheiratet ist. Ihre eigene Kunst lässt sie hinter dem Wohl des großen Genies zurück, erfüllt ihm seine Wünsche, kocht für ihn und lässt ihm zahlreiche Affären und Kränkungen durchgehen. Doch hat er ihr Herz fest in der Hand und als sie die Gelegenheit bekommt, ihr bis dahin noch überschaubares Werk in New York und dann in Paris auszustellen, entscheidet sie sich, endlich etwas für sich zu tun, ihre eigene Kunst in den Mittelpunkt ihres Lebens zu stellen und reist ohne Diego nach New York. Sehnsüchtig erwartet sie dort auch die Wiederbegegnung mit dem Fotografen Nick Muray, mit dem sie die Erinnerung an eine heimliche Liebelei verbindet. Ihre Beziehung mit Diego muss das nicht beeinflussen, sie schafft sich lediglich ein bisschen Freiraum für sich selbst. Vermeintlich, denn schnell steckt sie im nächsten Gefühlschaos und muss ein für alle Mal eine Wahl treffen. Kunst oder Liebe? Diego oder Marc oder keiner?
Klingt nach einer Romanze im Künstlermilieu? Ja, das ist es auf jeden Fall und doch auch einiges mehr. Für Frida-Einsteiger kann es auch eine Einführung in ihr Leben sein, denn nebenbei erfährt man eine Menge über sie, ihre Kunst und den Entstehungsprozess ihrer Gemälde. Besonders gut hat mir der Anfang gefallen, an den die Autorin eines der Hauptwerke Frida Kahlos „Was mir das Wasser gab“ stellt. Sehr lebendig lässt sie hier Fridas Wurzeln mit dem Gemälde verwachsen und erahnen, wie komplex Fridas Persönlichkeit und ihr Werk sind.
Lebhaft und farbenfroh breitet sich Fridas New-York- und Paris-Reise mit all den Schauplätzen, Menschen, Beziehungen und dem Glamour vor uns aus. Glaubhaft temperamentvoll und fiebrig prescht Frida auf einer Achterbahn der Gefühle durch die Seiten.

Auf diese Achterbahnfahrt konnte sie mich zwar nicht mitnehmen. Dafür bin ich aber auch einfach nicht die Zielgruppe, lag mir der Fokus zu sehr auf den blumigen Liebesgeschichten und fehlte mir etwas Tiefe in den Figuren und Beziehungen.

Für Liebhaber guter Unterhaltungsliteratur mit Freude an gefühlig erzählten Liebesgeschichten, die einen lebendigen und vermutlich authentischen Blick in Fridas Leben werfen möchten, ist es auf jeden Fall eine gute Wahl und all jenen empfehle ich es von Herzen.

Bewertung vom 05.11.2023
Unendlich ist die Nacht
Kadivar, Pedro

Unendlich ist die Nacht


ausgezeichnet

„Wie lange kann man vor sich selbst flüchten? Es ist nicht beliebig, nicht umsonst, was passiert. Es muss etwas bedeuten. Der Zufall ist nie zufällig.“ S.156

In EINER unendlichen Nacht breitet sich vor uns das gesamte Spektrum einer ebenso starken wir fragilen Beziehung zwischen zwei Männern aus, die nach über 30 Jahren von ihren Fluchtgeschichten aus dem Iran und der DDR eingeholt werden.

Fürs Schreiben ist schwierig, wenn ein Buch zu viel mit mir zu tun hat. Fürs Lesen ist es das Beste, was mir passieren kann. Genau wie einer der Protagonisten floh ich 1988, ein Jahr vor der Wende, mit meiner Familie aus der DDR. Genau wie er, habe ich den Mauerfall mit einer Mischung aus Freude, Distanz, Ungläubigkeit und emotionaler Leere betrachtet. Genau wie er, fühle ich mich auch mit meiner innerdeutschen Fluchtgeschichte als Migrantin, habe ich selbst die Sprache im Westen als anders, fremd und neu zu lernen empfunden.

„Ich musste dieselbe Sprache sprechen und manchmal eine andere heraushören, immer bei Details, die mich unerwartet verrieten.“ S. 45

Ebenso wie beide Protagonisten habe ich versucht, meine Herkunft abzuschütteln, mich möglichst gut anzupassen und habe darüber die Verbindung zu mir selbst verloren.

„Ich und mein Leben waren zwei getrennte Wesen, die sich kaum kannten, sich durch skurrile Umstände plötzlich begegneten.“ S.64

In Pedro Kadivars UNENDLICH IST DIE NACHT steht jedoch der Iraner im Zentrum, der ebenfalls 1988 floh. Nicht vor Revolution oder Krieg, sondern vor Verfolgung und Ächtung Homos*xueller. Die Scharia, das islamische Rechtssystem, verurteilt Homos*xualität noch heute als todeswürdiges „Verbrechen“. Kadivars namenlose Figur trägt autobiografische Züge, ging zunächst nach Paris, studierte Literatur und verlor den Glauben an die Literatur, kam nach Berlin und promovierte an der Humboldt-Universität über Proust. In Berlin sind sich beide Männer begegnet und durch ihre Fluchtgeschichten ebenso verbunden wie getrennt.

„… wir sind beide geflüchtet. Und haben unsere Länder nie wiedergesehen. Er, weil er nicht kann und will, ich, weil mein Land nicht mehr existiert.“ S. 24

Sie wechseln in dieser EINEN Nacht kein Wort miteinander und trotzdem spürt man ihre Verbindung und die Kraft ihrer Liebe. Sie erzählen leise und kraftvoll in sich abwechselnden Monologen ihre Geschichten und stellen sich ihren Fragen. Ist es möglich die Vergangenheit, die Traumata von Herkunft und Flucht, die Muttersprache zu vergraben und gleichzeitig ein freies selbstbestimmtes Leben zu führen? Was bedeutet es, eine Sprache anzunehmen, die nicht in uns verwurzelt ist?

Der Ton ist ruhig und melancholisch, der Text voller philosophischer und literarischer Bezüge, ohne aber irgendeine Form zu übertreiben oder langatmig zu werden. Durch die kurzen, sich in der Perspektive abwechselnden Kapitel bleibt Distanz, als bliebe ich genauso von diesen Männern abgetrennt wie sie von sich selbst.

Es ist ein Buch über die Mühsal von Grenzen – Länder-, Kultur-, Sprach- und zwischenmenschliche Grenzen - in einer nachweislich unendlichen Welt. In diesen gut 200 Seiten steckt ein ganzes Universum, das mich aufgewühlt und dankbar mit diesem literarischen Highlight zurücklässt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.