Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Bücherfreundin

Bewertungen

Insgesamt 256 Bewertungen
Bewertung vom 22.03.2024
White Zero
Falk, Thilo

White Zero


gut

Leider nicht so spannend wie erwartet
"White Zero", das neue Buch von Thilo Falk, ist ein Klimathriller. Das auffallend schön gestaltete Cover und der vielversprechende Klappentext weckten mein Interesse, aber so richtig glücklich bin ich mit meinem ersten Klimathriller nicht geworden.
 
Die Geschichte beginnt spannend. Die Menschen in Deutschland erleben eine neue Eiszeit. Obwohl der März bereits begonnen hat, ist es immer noch eiskalt, es herrschen Temperaturen von -28 Grad. Die Straßen sind vereist, die Bevölkerung kann sich die hohen Energiepreise kaum noch leisten. Menschen erfrieren, die Versorgung mit Lebensmitteln ist gefährdet, Lieferdienste stellen ihren Betrieb ein. Niemand kennt die Ursache für diese nun bereits seit Monaten anhaltenden Tiefsttemperaturen.
 
Die wichtigsten Figuren des Buches sind die Geophysikerin Dr. Jana Hollmer, ihr Freund Clemens Bach und Titus van Dijk. Jana ist stellvertretende Leiterin des Bundeswehr-Forschungszentrums für Geophysik, Clemens betreibt einen Verlag für Grußkarten, und Titus leitet eine Reederei in den Niederlanden. Um die Ursache für die neue Eiszeit herauszufinden und eine Lösung der Probleme herbeizuführen, wird ein Krisenstab gebildet, dem neben Jana weitere Wissenschaftler, Politiker und Unternehmer angehören. 

Der Klimathriller ist in angenehmem Stil geschrieben und liest sich flüssig. Die interessanten Charaktere sind sehr gut skizziert, neben den drei wichtigsten Figuren lernen wir in weiteren Erzählsträngen zahlreiche weitere Personen aus Kiel, Freiburg, Peking, Amsterdam und Tschad kennen. Die Personen und die Schauplätze wechseln ständig, die Kapitel sind eher kurz gehalten, daher ist schon eine gewisse Konzentration erforderlich. Es dauert einige Zeit, bis sich alle Puzzleteile zu einem Ganzen fügen und die Zusammenhänge erkennbar sind. 

Leider fand ich das Buch nicht sehr spannend, es hatte zwar durchaus spannende Momente, vor allem zu Beginn, aber der Spannungsbogen konnte nicht hoch gehalten werden, flachte immer wieder schnell ab. Die Kürze der einzelnen Erzählstränge und der ständige Wechsel störten meinen Lesefluss. Sehr gut gefallen haben mir die Zeitungsartikel und Beiträge aus den Nachrichten, die der Autor immer wieder in seine Geschichte hat einfließen lassen. Was mich zunehmend genervt hat, war neben den Gendersternchen die ständige Anwesenheit von Janas Hündin. Es gibt kaum eine Szene um Jana, in der der Beagle nicht dabei ist.

Es ist so schade, aber trotz der interessanten Thematik konnte das Buch mich leider nicht so fesseln, wie ich es erwartet hatte.

Bewertung vom 22.03.2024
Schneesturm
Walsh, Tríona

Schneesturm


gut

Thriller mit Längen
Ich liebe Thriller, die vor eisiger Kulisse spielen und habe mich daher sehr auf "Schneesturm" der irischen Autorin Tríona Walsh gefreut, die den Leser auf die kleine irische Insel Inishmore entführt. 
 
Im Mittelpunkt der Geschichte steht die junge Cara. Die 34-Jährige ist als einzige Polizistin auf Inishmore für 900 Bewohner zuständig. Da sie nicht auf der Insel geboren ist und kein Gälisch spricht, begegnen ihr die Inselbewohner mit Vorsicht und Skepsis. Cara lebt mit ihren beiden Kindern bei ihrer Großmutter, einer Einheimischen. Kurz vor Silvester trifft sie sich mit ihren fünf Freunden. Sie alle waren seit Kindertagen eine verschworene Gemeinschaft, die nach einer schrecklichen Tragödie auseinanderbrach. Drei Freunde sind nicht auf der Insel geblieben. Nun sind 10 Jahre vergangen, und die Gruppe, die aus 3 Männern und drei Frauen besteht, will gemeinsam den Jahrestag des tragischen Ereignisses begehen. Bald schon tobt ein heftiger Schneesturm auf der Insel und schneidet sie völlig von der Außenwelt ab, es gibt keinen Strom, kein Telefonnetz, keinen Fährverkehr. Als eine Leiche aufgefunden wird, wachsen Angst und Misstrauen innerhalb der Gruppe. 
 
Der Thriller ist in angenehmer Sprache erzählt und liest sich sehr flüssig. Nach und nach lernen wir Cara und ihre Freunde näher kennen. Außer Cara leben noch Daithi, der Wirt des Pubs, sowie die Lehrerin Maura auf der Insel. Seamus lebt als Drehbuchautor im Hollywood, während Ferdy und Sorcha, die miteinander verheiratet sind, nach London gezogen sind und sich dort eine Existenz aufgebaut haben. Schnell ist zu erkennen, dass die Gruppe sich fremd geworden ist, die alte Vertrautheit nur noch in Teilen vorhanden ist. Vor dem Hintergrund des Verbrechens müssen die Freunde sich nun fragen, ob sich der Mörder unter ihnen befindet. 
Wir begleiten die von der Ermittlungsarbeit völlig überforderte Cara, es werden Geheimnisse aufgedeckt, Konflikte brechen auf, Lügen kommen ans Tageslicht. Cara verhält sich mehrmals nicht gerade professionell, ihre Handlungsweisen sind nicht immer logisch und nachvollziehbar. 
 
Leider war mir der Thriller nicht durchgängig spannend genug, er hatte einige Längen, auf die Anwesenheit des Filmteams und das etwas kitschige Ende hätte ich gut verzichten können. Faszinierend fand ich dagegen die Beschreibung der Insel und ihrer teilweise recht abergläubischen Bewohner, die unter extremen Wetterbedingungen leben und den Naturgewalten ausgesetzt sind. 

Bewertung vom 11.03.2024
Eine Fingerkuppe Freiheit
Zwerina, Thomas

Eine Fingerkuppe Freiheit


ausgezeichnet

Wunderbare Hommage an Louis Braille, den Erfinder der Blindenschrift
In seinem Debütroman "Eine Fingerkuppe Freiheit" widmet sich Thomas Zwerina, der 2018 sein Augenlicht vollständig verloren hat, dem Leben von Louis Braille, dem Erfinder der Blindenschrift.

Louis Braille wird 1809 in dem kleinen französischen Ort Coupray als Sohn eines Sattlers geboren. Als er drei Jahre alt ist, verletzt er sich in der Werkstatt seines Vaters mit einer Ahle am rechten Auge so schwer, dass er erblindet. Infolge von Entzündungen verliert er Monate später auch auf dem gesunden Auge seine Sehkraft. Als Louis sieben Jahre alt ist, nimmt der Priester des Orts die überdurchschnittliche Intelligenz des Jungen zum Anlass, den Dorfschullehrer zu überreden, ihn in seine Schule aufzunehmen. Louis ist ein wissbegieriger Schüler mit hervorragendem Gedächtnis und wird mit 10 Jahren in ein Blindeninternat in Paris aufgenommen. Die "Nachtschrift", eine neuartige Schreibmethode, die der ehemalige Offizier Charles Barbier für Kinder entwickelt hat, dient ihm als Grundlage für seine Blindenschrift, die aus nur 6 erhabenen Punkten besteht.

Der Autor erzählt Louis' Geschichte in einer sehr besonderen, anspruchsvollen und wunderschönen Sprache, die mich sofort begeistert hat. Es war spannend, die Entwicklung des jungen Louis zu verfolgen, der es durch seine Intelligenz, Ehrgeiz und Hartnäckigkeit schaffte, eine leicht lesbare Schrift für Blinde zu entwickeln. Es hat mich sehr beeindruckt, mit welcher Leidenschaft Louis an seiner Blindenschrift tüftelte und sie mit nur 16 Jahren fertigstellte - was für eine Leistung! 

Nicht nur Louis als Hauptperson, auch die Nebenfiguren sind sehr bildhaft und authentisch gezeichnet. Ich mochte so viele von ihnen, neben dem liebenswerten und bescheidenen Louis ganz besonders seine Eltern, die immer für ihn kämpften, denen seine Schulbildung wichtig war und die ihn vor einem Leben als Bettler bewahren wollten. Ich mochte auch den Priester und den Lehrer in Coupray sowie die beiden Pariser Freunde Hippolyte und Gabriel. Die Beschreibung des Lebens blinder Kinder im 19. Jahrhundert ist Thomas Zwerina sehr eindrucksvoll gelungen, hochinteressant fand ich auch den Einblick in die damals für Blinde übliche Technik der Reliefdrucke und die Probleme, die die Kinder damit hatten.

Der warmherzig erzählte Roman, der einen Zeitraum von 43 Jahren umfasst, hat mir sehr gut gefallen. Ich habe mitgelitten, als Louis sein Augenlicht verlor, habe mich gefreut, dass er neben seinen liebevollen Eltern auch engagierte Förderer hatte, und ich habe mitgefiebert, als er unermüdlich an seiner 6-Punkte-Schrift arbeitete, die allen blinden Menschen den Zugang zur Literatur ermöglichen sollte. 

Absolute Leseempfehlung und wohlverdiente 5 Sterne für dieses großartige Buch, das mich beeindruckt, gefesselt und zutiefst berührt hat!

Bewertung vom 08.03.2024
Der Ausflug - Nur einer kehrt zurück
Kvensler, Ulf

Der Ausflug - Nur einer kehrt zurück


ausgezeichnet

Atmosphärischer und spannender Thriller
Der Thriller "Der Ausflug - nur einer kehrt zurück" des schwedischen Autors Ulf Kvensler ist bereits 2022 unter dem Titel "Sarek"  in Schweden erschienen, wurde dort sofort zum Bestseller und ist mit dem Swedish Crime Writers Award ausgezeichnet worden.
 
Wie in jedem Jahr planen die Juristin Anna, ihr Verlobter Henrik und Annas Freundin Melina eine Wanderung in Nordschweden, um neue Energie zu tanken. Doch diesmal fragt Milena ihre Freunde, ob ihr neuer Freund Jacob dabei sein darf. Anna und Henrik sind zwar wenig davon begeistert, mit einer ihnen vollkommen fremden Person zu reisen, möchten Milenas Bitte jedoch nicht ablehnen. Am Reisetag findet die erste Begegnung mit Jacob statt, der ein erfahrener Bergwanderer ist und gleich eine Änderung der Wanderroute vorschlägt. Die neue Route birgt viele Gefahren und wird bald zur Herausforderung für die Gruppe. 
 
Die Geschichte wird auf unterschiedlichen Zeitebenen erzählt. Rückblicke auf die gemeinsame Wanderung werden unterbrochen durch Polizeiprotokolle über Zeugenbefragungen. Darüber hinaus gibt es immer wieder Rückblicke in die weiter zurückliegende Vergangenheit. Obwohl vier Personen unterwegs sind, steht doch Anna als Ich-Erzählerin deutlich im Fokus. Wir erleben die Wanderung daher vorrangig aus Annas Sicht auf die Ereignisse. 

Das Buch ist in schönem Sprachstil geschrieben und liest sich sehr flüssig. Wir lernen die vier Wanderer kennen, die sehr unterschiedlich sind: die ehrgeizige Anna, den konditionsschwachen Henrik, die sanfte Milena und den bestimmenden Jacob. Ihre Charaktere sind perfekt gezeichnet, nach und nach erfahren wir mehr über sie und ihre Vergangenheit. 

Bereits die erste Seite ist spannend, die Spannung steigert sich immer weiter und bleibt bis zum Ende auf hohem Niveau. Wir erleben, wie aus der Wanderung ein Horrortrip wird, der alle an ihre Grenzen bringt. Die Paare sind den Naturgewalten ausgesetzt, bei eisiger Kälte entsteht ein Kampf ums Überleben. Mit zunehmender Erschöpfung und Entkräftung werden falsche Entscheidungen getroffen, es kommt innerhalb der Gruppe zu Unstimmigkeiten und heftigen Auseinandersetzungen, und bald fragt sich jeder, wem er überhaupt noch vertrauen kann. Im letzten Teil des Buches kommt es zu einer vollkommen unerwarteten Wendung mit einem überraschenden Ende.

Der perfekt inszenierte Thriller mit seinen atemberaubenden Szenen hat mich vom Anfang bis zum Ende gefesselt, die Beschreibungen der rauen Bergwelt und der unberührten Natur waren faszinierend und trugen zur Spannung bei. Es gab raffinierte Wendungen, und mehrmals lockte mich der Autor auf falsche Fährten. Das Buch aus der Hand zu legen, fiel mir schwer, ich habe mitgefiebert und fühlte mich bis zum unvorhersehbaren Ende bestens unterhalten. 

Absolute Leseempfehlung für diesen atmosphärischen und spannenden Thriller! 

Bewertung vom 07.03.2024
Leute von früher
Höller, Kristin

Leute von früher


gut

Ruhig erzählte Inselgeschichte
Im Mittelpunkt von "Leute von früher", dem neuen Buch von Kristin Höller, steht Marlene. Sie ist Ende Dreißig, hat fast 9 Jahre lang Medienpraxis studiert und bisher keinen passenden Job gefunden. Daher nimmt sie für 6 Monate eine Tätigkeit auf der kleinen nordfriesischen Insel Strand an. Gekleidet wie vor 100 Jahren arbeitet sie nun vor historischer Kulisse als Verkäuferin in einem Erlebnisdorf für Touristen. Bald schon begegnet sie der Fischverkäuferin Janne, in die sie sich sofort verliebt. Janne, die auf Strand aufgewachsen ist, umgibt ein Geheimnis, und auch die Insel scheint eine mysteriöse Vergangenheit zu haben, um die nur ihre Bewohner wissen. 
 
Das Buch mit dem wunderschönen Cover ist in klarer Sprache geschrieben und liest sich sehr flüssig. Es ist eine ruhig erzählte Geschichte, langsam und behutsam entwickelt sich die Liebesbeziehung zwischen Marlene und Janne. Nach und nach wird Jannes Geheimnis, das mit der versunkenen Stadt Rungholt zusammenhängt, enthüllt. Die Autorin beschreibt neben Marlenes Alltag im Erlebnisdorf auch den weiterer Saisonkräfte, die in sehr einfachen Unterkünften untergebracht sind. Sie zeigt ihre Probleme auf und ihre streng geregelten Arbeitsbedingungen, wozu auch der Kostümzwang zählt. 
 
Der atmosphärische Roman hat mir gut gefallen, ich mochte die schönen Naturbeschreibungen und die Mystery-Elemente. Sehr interessant fand ich den Teil der Geschichte, in dem es um die versunkene Stadt Rungholt geht. Die unterschiedlichen Charaktere sind gut beschrieben, und das emotionale Ende war für mich stimmig, dennoch vollkommen überraschend.   

Bewertung vom 03.03.2024
Austrian Psycho Jack Unterweger
Herwig, Malte

Austrian Psycho Jack Unterweger


sehr gut

Spannendes Sachbuch über einen Serienmörder
Im neuen Buch "Austrian Psycho" des Hamburger Journalisten und Autors Malte Herwig geht es um den österreichischen Serienmörder Jack Unterweger, dem es gelang, die Wiener Kulturszene für sich einzunehmen und für seine Zwecke auszunutzen.
 
Jack Unterweger wird 1976 wegen Mordes an einer jungen Frau zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt. In der Haft holt er seinen Hauptschulabschluss nach und beginnt mit dem Schreiben. 1983 veröffentlicht er seinen autobiografischen Roman "Fegefeuer oder Die Reise ins Zuchthaus". Er wird als "Häfenpoet" bekannt, die österreichische Literaturszene interessiert sich für ihn und erreicht durch zahlreiche Petitionen namhafter Intellektueller, dass Unterweger 1990 ohne jegliche Auflagen auf Bewährung entlassen wird. Sechs Monate später beginnt eine Mordserie an Prostituierten ...
 
Auf nur 128 Seiten wird in drei Kapiteln Jack Unterwegers Leben aufgeblättert. In "Fegefeuer", dem ersten und umfangreichsten Kapitel, geht es neben Unterwegers Kindheit und Jugend um die Jahre im Gefängnis, das zweite Kapitel, "Paradies", beschäftigt sich mit der Zeit nach seiner Entlassung, und im dritten Kapitel, "Inferno", geht es um die kurze Zeitspanne nach seiner Verhaftung. 
 
Das Buch ist packend geschrieben, und die Erzählweise des Autors ist genial: er beauftragt einen nicht näher benannten fiktiven Ich-Erzähler, einen Bericht über Unterweger zu schreiben, und versorgt ihn dafür mit zahlreichen Dokumenten. Das ermöglicht dem Autor, den Serienmörder aus unterschiedlichen Sichtweisen darzustellen. Er zeichnet ein genaues Bild Unterwegers, und wir erfahren, dass dieser nicht nur eine starke Anziehungskraft auf Frauen ausübte, sondern auch ein Lügner und Plagiator war, der durch seine charmante und sanfte Art zahlreiche Menschen für sich einnahm, sie manipulierte und für seine Zwecke ausnutzte.
 
Malte Herwig deckt dank intensiver Recherchen neue und entlarvende Fakten über Jack Unterweger auf und legt dabei den Schwerpunkt seines spannenden und fesselnden Buches auf dessen Tätigkeit als Schriftsteller.

Leseempfehlung für dieses interessante Buch!

Bewertung vom 01.03.2024
Ein falsches Wort
Hjorth, Vigdis

Ein falsches Wort


sehr gut

Beklemmende Familiengeschichte
Nachdem ich im letzten Jahr das Buch "Die Wahrheiten meiner Mutter" von Vigdis Hjorth gelesen hatte, das auf der Longlist für den International Booker Prize stand, freute ich mich sehr auf ihr neues Werk "Ein falsches Wort". Es handelt sich hierbei um eine korrigierte Übersetzung ihres Romans "Arv og miljø", der bereits 2016 in Norwegen erschienen ist. 
 
Wie in "Die Wahrheiten meiner Mutter" geht es auch in diesem Roman um eine dysfunktionale Familie, diesmal mit umgekehrter Problematik. Während in "Die Wahrheiten meiner Mutter" die Protagonistin verzweifelt versucht, wieder mit ihrer Mutter in Kontakt zu treten, so ist es in diesem Buch genau umgekehrt. Sie versucht krampfhaft, jeglichen Kontakt mit ihren Eltern und den zwei Schwestern zu vermeiden.
 
Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Theaterkritikerin Berglijot, die als älteste Tochter wohlhabender Eltern gemeinsam mit ihrem Bruder Bård und ihren Schwestern Astrid und Åsa aufgewachsen ist. Mittlerweile ist Berglijot Ende Fünfzig, hat drei erwachsene Kinder und ist geschieden. Die Eltern sind inzwischen 80 und 85 Jahre alt. Berglijot hat ihre Familie seit 23 Jahren nicht mehr gesehen, nachdem sie diese damit konfrontiert hat, dass ihr Vater sie als kleines Mädchen sexuell missbraucht hat. Statt sie um Verzeihung zu bitten, streitet er alles ab. Die Familie glaubt ihm. 
Es kommt zu einem erbitterten Streit, als die Eltern die beiden Strandhäuser, die von allen Familienmitgliedern über Jahrzehnte gern genutzt wurden, Astrid und Åsa überschreiben. Das ruft den enttäuschten Bård auf den Plan, der eine gerechtere Verteilung des Erbes fordert. Er erhofft sich Unterstützung durch Berglijot, die sich von der Familie distanziert hatte.
 
Das fesselnde Buch ist in schöner und intelligenter Sprache geschrieben und liest sich sehr flüssig. Längere und kurze Kapitel, die bisweilen nur wenige Sätze umfassen, wechseln sich ab, und nach und nach enthüllt sich Berglijots Vergangenheit: ihre Kindheit, ihre berufliche Entwicklung, die Zeit ihrer Ehe, ihre drei Kinder und die Trennung von ihrem Mann. Sie leidet unter ihrem Kindheitstrauma, das ihr in seinem Ausmaß erst bewusst wird, als sie erwachsen ist. Selbst eine längere Psychotherapie vermag ihren Schmerz nicht zu mildern, die Wunden sitzen zu tief. Astrid sieht sich als Vermittlerin und versucht immer wieder, durch zahlreiche Telefonate und Emails ihre Schwester dazu zu bewegen, sich mit der Familie zu versöhnen.
 
Die Charaktere sind authentisch und bildhaft gezeichnet. Vigdis Hjorth ermöglicht es dem Leser, intensiv in Berglijots Gefühls- und Gedankenwelt zu blicken und dabei ihren Schmerz und ihre Verzweiflung zu erleben. Die Geschichte ist vollkommen unsentimental erzählt, es geht neben Familienstreitigkeiten und erlittenen Traumata auch um Schuld, Schweigen und häusliche Gewalt.
 
Ich empfand den Roman zwar als bewegend, aber auch als sehr bedrückend, da es sich immer wieder mit großer Intensität um Berglijots Probleme drehte, ihre Wut und Verzweiflung. Zusammen mit den vielen Wiederholungen, die den Stil der Autorin ausmachen, fand ich die Lektüre etwas ermüdend. 

Bewertung vom 26.02.2024
Zeit der Schuldigen
Thiele, Markus

Zeit der Schuldigen


ausgezeichnet

Aufrüttelnder Roman über Recht und Gerechtigkeit
"Zeit der Schuldigen", der neue Roman von Markus Thiele, basiert auf einem wahren Kriminalfall, der sich 1981 im Landkreis Celle ereignete.

November 1981: Die 17-jährige Schülerin Nina Markowski ist abends nach der Chorprobe auf dem Weg nach Hause. Sie verpasst den Bus und stellt sich als Anhalterin an die Straße. Zuhause kommt sie nie an, vier Tage später wird ihre Leiche in einem Waldstück aufgefunden. Die Obduktion ergibt, dass Nina einem brutalen Sexualverbrechen zum Opfer gefallen ist. Bald wird die Polizei auf Volker März aufmerksam, Reifenspuren seines Autos am Tatort und Stofffasern an Ninas Kleidung belasten ihn schwer.
Vor Gericht bestreitet der Angeklagte die Tat, wird aber aufgrund von Indizien zunächst schuldig gesprochen. Einige Monate später hebt der Bundesgerichtshof das Urteil auf, im anschließenden Prozess wird März freigesprochen. Als Jahre später neue Beweise vorliegen, erhebt Hans Larsen, der Vater des Opfers, Zivilklage gegen März und startet danach eine Petition mit dem Ziel einer Gesetzesänderung.

November 2022: Die knapp 50-jährige Polizistin Anne Paulsen versucht aufgrund persönlicher Motive im Alleingang, Volker März zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei überschreitet sie jedoch Grenzen.

Die spannende Geschichte ist in sehr schöner, klarer Sprache auf unterschiedlichen Zeitebenen erzählt und liest sich sehr flüssig. Im Hier und Jetzt begleiten wir Anne Paulsen, in Rückblenden werden Ninas Vergangenheit und die ihres Vaters aufgeblättert. Neben der Polizistin Anne Paulsen lernen wir auch Kriminalhauptkommissar Klaus Margraf kennen, der in der Mordsache ermittelt und noch nach seiner Pensionierung darunter leidet, dass er den Fall nicht aufklären konnte.

Die Charaktere sind sehr bildhaft und authentisch beschrieben. Ich mochte das lebensfrohe Mädchen Nina, das dann so brutal aus dem Leben gerissen wurde, und ich hatte großes Mitgefühl für ihren trauernden und verzweifelten Vater, der über Jahrzehnte gegen die Mühlen der Justiz ankämpfte.

Markus Thiele, der hauptberuflich Rechtsanwalt ist, beschreibt neben den Verfahrensabläufen die damalige und heutige Gesetzeslage präzise und für Laien sehr gut verständlich. Er erklärt, dass Recht und Gerechtigkeit manchmal weit auseinander liegen, und was es bedeutet, den Rechtsfrieden herzustellen. Es ist für mich unfassbar und absolut nicht nachvollziehbar, dass es nicht möglich ist, beim Vorliegen neuer Beweise einen Strafprozess wiederaufleben zu lassen. Ich hoffe sehr, dass es hier doch noch zu einer Gesetzesänderung kommt.

In seinem Nachwort geht der Autor auf den Fall Frederike von Möhlmann ein, der ihn zu diesem Buch inspiriert hat. Er schildert den damaligen Verfahrensablauf und lässt uns wissen, was in seinem Roman frei erfunden ist.

Mir hat das aufwühlende Buch, in dem es neben Recht und Gerechtigkeit auch um Selbstjustiz und Loyalität, Freundschaft und erlittene Traumata geht, sehr gut gefallen. Es hat mich nicht nur betroffen, sondern auch wütend gemacht.

Absolute Leseempfehlung für diesen großartigen Roman, der mich noch lange beschäftigen wird!

Bewertung vom 23.02.2024
Hallo, du Schöne
Napolitano, Ann

Hallo, du Schöne


ausgezeichnet

Emotionale Familiengeschichte
In ihrem neuen Roman "Hallo, du Schöne", der seit seinem Erscheinen im März 2023 auf der Bestsellerliste der New-York-Times steht und von Oprah sowie Barack Obama empfohlen wird, erzählt die amerikanische Autorin Ann Napolitano die Geschichte einer italo- amerikanischen Familie. 

Kurz nach William Waters Geburt erlebt seine Familie eine schreckliche Tragödie, unter deren Folgen William und seine unglücklichen Eltern für den Rest ihres Lebens leiden werden. Sie versorgen ihn, aber darüber hinaus haben sie kaum Interesse für ihren Sohn und behandeln ihn lieblos. Seine einzige Freude ist das Basketballspielen, anfangs allein, später mit anderen Kindern. Er verbessert ständig sein Spiel, wird ein begehrter Mitspieler und verlässt dank eines Stipendiums bald sein Elternhaus.

Am College in Chicago lernt William die ehrgeizige Julia Padavano kennen. Sie ist die älteste von vier Schwestern, die eine enge Beziehung zueinander haben. Julias Eltern Rose und Charlie begegnen William herzlich, und wenige Jahre später heiratet das junge Paar. William, der den Kontakt mit seinen Eltern abgebrochen hat, ist nun Teil der lebhaften und liebevollen Familie Padavano. Julia wünscht sich bald ein Kind und träumt davon, dass William eine Professur anstrebt. Doch William ist nicht glücklich, seine Stärken und Interessen liegen auf einem anderen Gebiet. Als er von den Dämonen seiner Vergangenheit eingeholt wird, gerät das Familiengefüge ins Wanken.

Die emotionale Geschichte, die im Februar 1960 mit Williams Geburt beginnt und im November 2008 endet, hat mich zutiefst berührt und begeistert. Sie ist in wunderschönem und ruhigem Sprachstil erzählt und liest sich sehr flüssig. Der Roman wechselt zwischen den Perspektiven von William, Julia, Sylvia und Alice. Ich konnte eintauchen in das Leben der Familienmitglieder und habe dabei ihre Höhen und Tiefen, ihr Glück, ihre Konflikte und ihre Tragödien erlebt. Neben dem einsamen William und der strebsamen Julia lernen wir die romantische Sylvie kennen, die leidenschaftlich gern liest, sowie die kreative Künstlerin Cecelia und die fürsorgliche Emeline. Die Autorin beschreibt die Charaktere mit all ihren Stärken und Schwächen sehr liebevoll und dabei vollkommen authentisch.
Meine Lieblingsfigur war neben William und seinem Schwiegervater Charlie Sylvie, die es mutig wagt, ihren Weg zu gehen. Die Familiendynamik und das innige Verhältnis der Schwestern zueinander werden mit viel Empathie beschrieben. Sie alle halten an ihren Überzeugungen fest und leben ihr Leben nach ihren eigenen Regeln. Dabei treffen sie Entscheidungen, die von ihrer dominanten Mutter Rose nicht immer akzeptiert werden.

Mir hat das Buch, in dem es nicht nur um Familie, Liebe und Sehnsucht geht, sondern auch um Verlust und Trauer, Depressionen und Kameradschaft, sehr gut gefallen. Es ist tiefgründig und eindringlich, dabei vollkommen kitschfrei, und es hat mich gefesselt und zutiefst berührt.

5 Sterne und absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 19.02.2024
Lil
Gasser, Markus

Lil


ausgezeichnet

Brillant erzählte Geschichte über eine emanzipierte Frau
Im Mittelpunkt des neuen Romans "Lil" des österreichischen Autors Markus Gasser steht die erfolgreiche Unternehmerin Lillian Cutting, die es im New York der 1880er Jahre wagt, entgegen aller gesellschaftlichen Konventionen ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Auf einer zweiten Erzählebene folgen wir im Hier und Jetzt der 40jährigen Journalistin Sarah, einer Nachfahrin Lils. Sie hat gerade eine anstrengende Krebsbehandlung hinter sich, als sie die Nachricht erhält, dass von Bauarbeitern ein Brief gefunden wurde. Dieser Brief wurde im April 1880 an die Rechtsanwältin Colby Sandberg adressiert, ist aber nie abgeschickt worden. Er ermöglicht es Sarah, nun endlich Lils Geschichte niederzuschreiben.

Lil ist gerade 18 Jahre alt, als sie auf einer Zugfahrt den 22 Jahre älteren Augenarzt Chev Cutting kennen- und liebenlernt. Ein Jahr später heiraten die beiden, kurze Zeit darauf übernimmt Lil das Eisenbahnunternehmen ihres Vaters, da dieser schwer erkrankt ist. Sie ist als Unternehmerin sehr erfolgreich und mehrt das Vermögen. Der gemeinsame Sohn Robert ist weniger erfolgreich als seine Mutter, immer wieder muss Chev ihn finanziell unterstützen. Als Lil Anfang Fünfzig ist, stirbt Chev infolge zweier Schlaganfälle, und sie fällt in ein tiefes Loch. Diesen nun schon drei Jahre andauernden Zustand nutzt ihr Sohn während einer Wohltätigkeitsveranstaltung aus, um sie mit einer List in der Nervenklinik von Dr. Fairwell unterzubringen. Der Vater hatte sein Vermögen einzig Lil vererbt, und Robert sieht nun eine Chance, an sehr viel Geld zu kommen ...

Die fesselnde Geschichte ist ganz hinreißend in brillanter Sprache erzählt, sie ist unterhaltsam und teilweise auch humorvoll. Der Autor führt uns in eine Zeit, als es noch keine Gleichberechtigung gab und Frauen für das Wohl ihres Gatten und ihre Kinder zuständig waren. Gelang es einer selbstbewussten Frau, im Geschäftsleben eine erfolgreiche Rolle zu spielen, begegnete man ihr mit Skepsis und Neid, manchmal auch mit Hass. Das bekam auch Lil seitens der "Erlauchten 400" , der New Yorker High Society, zu spüren.

Schonungslos und offen beschreibt der Autor Lils Behandlung und Untersuchungen durch Dr. Fairwell, den Leiter der Nervenklinik. Die Schilderung einer missbräuchlichen Untersuchung war für mich sehr schwer zu ertragen. Als ein Highlight des Buches empfand ich neben Lils Rachefeldzug die zuvor stattfindende Gerichtsverhandlung, in der Stamford Brook, der weise Richter, über Lils Schicksal zu entscheiden hatte.

Nicht nur Lil und Sarah als Hauptfiguren, auch die zahlreichen Nebencharaktere, wie Chev, Libby und Cheng, Colby und Eve sowie Dr. Fairwell, Cora und Robert hat der Autor ganz großartig und bildhaft skizziert. Die beiden Erzählebenen sind gekonnt verwoben, dank Sarahs Hündin Miss Brontë war ein Wechsel immer sofort gut erkennbar, wobei ich allerdings die "Unterhaltungen" zwischen Sarah und ihrem Dobermann recht gewöhnungsbedürftig fand.

Das literarisch anspruchsvolle Buch, in dem es auch um Rassismus, Heimtücke und Dekadenz geht, hat mir sehr gut gefallen.

Absolute Leseempfehlung!