Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Betty Literatur

Bewertungen

Insgesamt 66 Bewertungen
Bewertung vom 11.08.2023
Spargel-Geheimnis im Allertal
Reimann, Bettina

Spargel-Geheimnis im Allertal


sehr gut

Bettina Reimann hat ihren zweiten Niedersachsen-Krimi veröffentlicht und er ist ihr außerordentlich gut gelungen.
Henry Baumert, der Amerikaner, ist auf der Suche nach den Spuren seiner Familie und begibt sich in das kleine Dorf Eickeloh in Niedersachsen, idyllisch gelegen, Bauernland, Spargelregion.
Es ist das Frühjahr 2020, der Beginn der Corona-Pandemie.
Harry und seine Zwillingsschwester haben den Hof, auf dem sie bei Großeltern und Onkel mit der alleinerziehenden Mutter lebten,1960 verlassen müssen. Harry möchte die Geheimnisse seiner Kindheit ergründen, er ist auf der Suche nach seinem Vater und der Erklärung, warum er mit Mutter und Schwester so plötzlich das Dorf verlassen musste.
Außerdem gibt es nach dem Tod des Onkels Streit um das Erbe, den mittlerweile verlassenen Hof.
Harry kommt bei der Familie Kamphusen in deren Hotel unter und eines Tages liegt er erschlagen in einem Spargelfeld.
Das ist natürlich ein Fall für das selbsternannte, neugierige Ermittlertrio, den pensionierten Kommissar Carsten Blume, seiner Tochter Anna Blume-Kamphusen und seiner Enkelin Klara. Sie schnüffeln im Dorf und in dem verlassenen Hof herum, Klara gerät in Gefahr, aber es gelingt ihnen auch entscheidendes Material zu finden
In Rückblenden wird erzählt, wie sich Harry auf dem verfallenen Hof versteckt, um dort in Ruhe alle Unterlagen zu sichten.
Parallel ermitteln die „Hobbydetektive“ auf eigene Faust, sie sind einfach zu neugierig und mit der Polizei arbeiten sie nur widerwillig zusammen.
Am Ende tun sich menschliche Abgründe auf, die Machtstrukturen auf dem Dorf, die immer schon funktioniert haben, werden enttarnt.
Ich bin eigentlich kein Krimi-Fan, weil sie mir oft zu grausam und blutrünstig sind. Dieses Buch zeigt die Selbstverständlichkeiten von Macht und Gewalt, von Bestechung, von Männerbünden und vor allem den verächtlichen Umgang mit Frauen. Die Rückblenden in die Lebenssituation auf dem Dorf der 50er Jahre sind sehr gelungen. Ein spannendes, unterhaltsames Buch mit Tiefgang und mit viel Lokalkolorit.

Bewertung vom 06.08.2023
Bei euch ist es immer so unheimlich still
Schröder, Alena

Bei euch ist es immer so unheimlich still


ausgezeichnet

Nach „Junge Frau am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ ist nun der 2. Roman von Alena Schröder erschienen und er setzt das Mutter-Tochter-Thema fort.

„Ich bin wie sie“, dachte Evelyn. „Ich bin genau wie meine Mutter“.
Evelyn, deren Mutter Senta sie in den 20er Jahren verlassen hat, weil sie die Enge des Familienlebens nicht ertrug, hat ihre Tochter von der Tante großziehen lassen.
Zu ihrer eigenen Tochter Silvia hat sie ein sehr distanziertes, kühles Verhältnis. Die Tochter hat das Elternhaus schon sehr früh verlassen und den Kontakt zur Familie abgebrochen.
Nun steht Silvia plötzlich bei der Mutter vor der Tür.
Sie hat mit ihrer neugeborenen Tochter Hannah Berlin verlassen und ist nach Süddeutschland in ihr Elternhaus gefahren.

In Parallelen aus den 50er/60er/70er-Jahren und der aktuellen Erzählzeit 1989 wird die Mutter-Tochter-Geschichte erzählt und am Ende werden einige der zwischen den beiden Frauen stehenden Geheimnisse gelüftet.

Als Evelyn in den 50er Jahren Karl heiratet, sind sie beide Ärzte. Die Welt in dem kleinen Ort in Süddeutschland scheint in Ordnung zu sein, nun warten alle auf eine baldige Schwangerschaft.
Karls Familie genießt hohes Ansehen, man achtet darauf, nicht aufzufallen, es ist wichtig, nicht zum Gerede der Leute beizutragen.
Nachdem der langgehegte Kinderwunsch erfüllt wird, ändert sich Evelyns Leben vollständig und sie hadert mit diesem Leben, das Kochen gelingt nicht, der Haushalt füllt sie nicht aus, das Kind scheint nicht zufrieden zu sein, Evelyn möchte lieber wieder arbeiten. Die Stille im Haus ist so bedrückend.
Silvia ist ein schweigsames, schüchternes Kind, von Mitschüler:innen unbeachtet, sogar gehänselt. Sie spürt, dass die Mutter enttäuscht über sie ist, da sie deren Erwartungen nicht erfüllt. Und sie spürt auch, dass sie der Grund für das Unglück der Mutter ist. Die Eltern beschließen, Evelyn in ein Internat zu schicken.
Sie findet Unterstützung durch ihre Tante Betti, die unverheiratet und sehr frei lebt.
Nach einem Unglück, an dem Evelyn sich die Schuld gibt, verlässt sie den schwäbischen Ort, probiert alternative Lebensmodelle aus und bereist die Welt.

Evelyns Härte im Umgang mit ihrer Tochter ist eine Fortsetzung der Lieblosigkeit, die sie selber durch ihre Mutter erfahren hat. Es dauert lange, bis sie das versteht. Dieses traurige Erbe wird durch ihre eigene Tochter durchbrochen, die eine große, intensive Liebe zu ihrer kleinen Tochter Hannah lebt. Es gelingt Hannah auch das Herz ihrer Großmutter zu erobern und den Kontakt zwischen Evelyn und Silvia zu unterstützen.

Die Geschichte um die Frauen dieser Familie ist sehr berührend, sehr authentisch. Es wird deutlich, wie stark die eigene Sozialisation uns prägt, wie schwer es für Frauen jeder Generation (immer noch) ist, Kinderwunsch und Berufstätigkeit miteinander zu vereinen.

Bewertung vom 04.08.2023
Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid
Schröder, Alena

Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid


ausgezeichnet

Bevor ich den neuen Roman „Bei euch ist es immer so unheimlich still“ von Alena Schröder rezensiere, habe ich mir nochmal ihren ersten Roman „Junge Frau am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ vorgenommen, der mich bereits beim ersten Lesen vor 2 Jahren so beeindruckt hat.
Es ist die Geschichte mehrerer Generationen von Frauen, ihrer Entscheidungen und den Schwierigkeiten von Mutter-Tochter-Beziehungen.
Evelyn, die Großmutter, ehemalige Ärztin, stur, streng, böse und verbittert, lebt in einem Seniorenheim und verdrängt die Erinnerungen an die Vergangenheit am liebsten. Sie möchte oder kann ihre Gefühle nicht zulassen.
Hannah, ihre Enkelin, studiert Germanistik in Berlin, ist unglücklich in ihrem Professor verliebt und weiß eigentlich nicht so recht, wie ihre Zukunft aussehen soll. Sie entdeckt beim Besuch der Großmutter im Seniorenheim einen Brief aus Israel, in dem es um Restitution für die Familie geht. Aber Hannah ist sich sicher, dass sie keinerlei jüdische Abstammung hat.
Stück um Stück wird nun die geheimnisvolle Geschichte entschlüsselt. Senta, Evelyns Mutter, eine kluge und lebensfrohe junge Frau plant 1922 mit ihrer Freundin Lotte Rostock zu verlassen und nach Berlin zu gehen und dort frei und unabhängig zu leben.
Doch dann wird Senta schwanger von Ulrich. Sie heiraten, aber Senta spürt die Einschränkungen der Ehe, der familiären Verpflichtungen und auch der Fürsorge für ihre Tochter als so große, unerträgliche Last, dass sie ihren Mann und ihre Tochter verlässt und nach Berlin zu Lotte geht. Ulrich entscheidet, dass seine Schwester Trude sich um das kleine Mädchen kümmern soll.
Trude hat im Krieg als Krankenschwester gearbeitet und betrachtet das Leben als harte Aufgabe. Und nun widmet sie sich der Erziehung ihrer Nichte.
Evelyn lernt in Berlin einen Journalisten jüdischer Abstammung kennen, Julius Goldmann, dessen Eltern eine Galerie betreiben. Evelyn und Julius genießen das kulturelle Leben in Berlin, beide sind journalistisch tätig. Senta versucht, den Kontakt zu Evelyn aufrecht zu erhalten, sie finden jedoch emotional nicht zueinander. Und Trude tut alles, um Evelyn für sich allein zu behalten.
Das Leben der Familie Goldmann ändert sich mit dem Nationalsozialismus, Julius emigriert, seine Eltern werden deportiert. Als eine der letzten Handlungen hat Senta den Schwiegervater unterstützt, eine Aufstellung seiner wertvollen Kunstschätze anzufertigen, bevor sie in die Hände der Nazis fallen. Ein berühmtes Bild, vermutlich von dem Niederländer Vermeer, das dem Roman den Titel gegeben hat, übergibt er ihr, damit sie und ihr Mann abgesichert sind.
Hannah erfährt bei ihren Recherchen Unterstützung durch einem Kommilitonen, Experte für Nationalsozialismus und einer Ermittlerin, die für das israelische Büro arbeitet. Stück für Stück kann sie ihre Familiengeschichte entschlüsseln.
Die Geschichte ihrer eigenen Mutter, die bereits verstorben ist, wird nur kurz erwähnt. Silvia, die alternative Kreuzbergerin, symbolisiert ein anderes Mutterbild als ihre Mutter und Großmutter.
Dieser Roman ist so unfassbar faszinierend, so intensiv, so berührend, so authentisch. Die Stärke und Härte dieser Frauen, ihr Aufbegehren gegen gesellschaftliche Erwartungen und Rollen, ihre Sprachlosigkeit, die fehlende Liebe, das Schweigen, die Grauen des Krieges, die Unmenschlichkeit der Nationalsozialisten.
Die Charaktere sind spannend und überzeugend, wunderbar auch die Beschreibung der Nebenfiguren wie der skurrilen Ermittlerin Marietta Lankvitz.

Bewertung vom 31.07.2023
Mittsommertage
Woelk, Ulrich

Mittsommertage


gut

In seinem neuen Roman „Mittsommertage“ zeigt Ulrich Woelk die dramatischen Verwicklungen einer Frau, die von ihrer Vergangenheit eingeholt wird.
Innerhalb einer Woche kommen in Berlin 2022 in einem furchtbar heißen Sommer einige Ereignisse zusammen, die das Leben der Protagonistin verändern.
Ruth Lember, die renommierte Ethikprofessorin, soll in den Ethikrat berufen werden.
Ihr Mann ist erfolgreicher Architekt in Berlin und gewinnt einen wichtigen Architekturwettbewerb.
Ruth ist allerdings mit der Beziehung nicht zufrieden, aber beide haben beruflich viel zu viel zu tun in dieser Woche und keine Zeit miteinander zu reden.
Bei einer Joggingrunde wird Ruth von einem Hund gebissen.
Sie begegnet einem Mann aus ihrer Studierendenzeit wieder, mit dem sie auch eine Beziehung verband.
Er hat von ihrer Berufung gelesen und erinnert sie an eine Straftat, die sie als Umweltaktivistin in den 80er Jahren begangen hat. Die Unterlagen (Bekennerbriefe und Fotos) hinterlässt er ihr mit dem Hinweis, dass sie selber entscheiden soll, ob sie es vernichtet oder veröffentlicht.
Bei der Übergabe der Unterlagen erleidet Ruth einen körperlichen Zusammenbruch, der psychische Druck ist sehr groß, aber auch das Antibiotikum wegen des Hundebisses und die Sommerhitze setzten ihr zu.
Sie entscheidet sich, ihren Mann über den dunklen Fleck in ihrer Vergangenheit zu erzählen und auch die 20-jährige Tochter Jenny, die Umweltaktivistin ist, wird eingebunden.
Und dann kommt ihre Geschichte doch an die Öffentlichkeit.
Die Moralfrage ist sicher relevant: Ist es legitim, unter bestimmten Umständen, Widerstand oder Sabotage zu leisten? Diese Entscheidung hat Ruth in den 80er Jahren für getroffen, aber wie geht sie heute damit um?
In gemächlichem Erzählton, in personaler Erzählperspektive, will der Autor uns den Konflikt der Protagonistin näherbringen. Ulrich Woelk hat in einem Interview gesagt, er finde es reizvoller die Entwicklung einer Frau zu verfolgen, weil sie in den letzten Jahrzehnten eine größere Veränderung ihrer gesellschaftlichen Rolle erleben konnten.
Und so wird diese Biografie nun auch mit allem vollgestopft, was die letzten Jahrzehnte zu bieten haben (Sozialisation von Mädchen, freie Liebe, offene Beziehungen, Kinderwunsch, Verhütung, Kind oder Karriere, Selbstbestimmung, Feminismus und Rollenmodelle). Ich unterstelle dem Autoren mal freundliche Absichten, aber das können die Frauen besser selber schreiben. Vieles wirkt extrem konstruiert und aufgesetzt.
Auch die Klischees einer Krise in der Paarbeziehung liefern nichts Neues. Die Dialoge, die Eifersüchteleien sind anstrengend.
Das gipfelt dann noch in der Beschreibung der Lebenskonstruktion dieses tollen Paares. Das gut bürgerliche intellektuelle Milieu wirkt in seiner Beschreibung wie eine Karikatur (Sushi-Rituale und Exkurse über Wein).
Der Versuch, aktuelle gesellschaftliche Strömungen, den Corona-Alltag, den Krieg in der Ukraine, Tierwohl, Datenschutz, Genderfrage, Selbstbestimmung Klimaschutz, Klimaaktivisten und Klimakleber, Energiepolitik, Vegetarismus und Veganismus, E-Autos, Altern in dieser Gesellschaft, die Rolle des Staates, Einfluss der Social Media, einschließlich Hate-Speech einfließen zu lassen, macht den Roman völlig überladen, und lenkt vom wichtigen Thema ab. Vieles klingt „belehrend“.
Die Haltung der jetzigen Generation gegenüber wirkt bisweilen überheblich, als wären sie nicht ganz ernst zu nehmen. Das finde ich als Vertreterin der „älteren“ Generation“ richtig peinlich.

Ich habe mich über das Buch geärgert. Das Thema ist wichtig, aber alles bleibt verhalten, vorsichtig ausbalancierend, fast banal. Schade.

Bewertung vom 29.07.2023
Welche Farbe hat mein Tag
Lendl, Carina

Welche Farbe hat mein Tag


ausgezeichnet

Ein Buch voller Farben und Abenteuer

Die österreichische Autorin Carina Lendl hat mit ihrem ersten Buch einen „Kinderkrimi“ veröffentlicht.
Die 12-kährige Paula ist ein kluges und phantasievolles Mädchen. Sie verbringt die Sommerferien zu Hause, beobachtet die Natur und rettet mit Hilfe ihres Vaters einen Wellensittich, den sie zu Hause versorgt.
Leider soll sie in den Ferien auch Mathematik mit ihrer unbeliebten, aber klugen Tante üben. Doch es kommt zu einem großen Streit zwischen den Beiden und als es dann noch einen Brandanschlag auf das Haus der Tante gibt, wird es plötzlich sehr spannend, denn Paula gehört zu den Verdächtigen.

Die phantasievollen Farbbezeichnungen als Kapitelüberschriften stimmen wunderbar zur Atmosphäre der jeweiligen Kapitel, besonders gefallen mir die Farben „Klatschrot“. Und „Gruselgrau“. Auch die phantasievollen sprachlichen Bilder, die humorvolle Beschreibung von Personen haben mich überzeugt sowie der Sprachwitz der Autorin.
„Es ist eng geworden in der Küche. Und fremd. Scharfes Polizeirasierwasser hat den Erdbeerduft verjagt. Die Ordnungshüter lassen sich in der Unordnung nieder.“
Die ermittelnden Polizeibeamten erweisen sich als tollpatschig und unsensibel gegenüber dem jungen Mädchen und ihrer Familie.
Die Dorfidylle, die vorher auch schon keine war, denn klatschhafte Frauen und spießige Nachbarn gehen der umweltbewussten Familie Wurm auf die Nerven, gerät weiter ins Wanken.
Sehr gelungen ist die Darstellung der fiesen Tante Viola.
Als der Fall dann endlich dank Unterstützung von Paulas Familie und einiger guter Freunde geklärt ist, bleibt die Freundschaft dieser Menschen bestehen. Die Häkeldecke aus Patchwork-Teilen, die sie gemeinsam anfertigen und dabei Geschichten aus ihrem Leben erzählen, ist ein wunderbares Symbol der Freundschaft zwischen Jung und Alt.
Das Buch zeigt auch eine große Liebe zu Natur und Umwelt.

Ich teile die Altersempfehlung ab 9 Jahren nicht, die vielen Andeutungen und Wortspiele sollen ja verstanden werden. Auch die Seitenzahl von über 400 Seiten muss bewältigt werden.
Dieses Buch ist in meinen Augen eher für jugendliche Leser:innen (ab 11/12 Jahren) gedacht, aber ich kann es auch jedem/jeder Erwachsenen empfehlen. Vielleicht ein Roman für die ganze Familie. Ich habe oft geschmunzelt bei dieser wunderschönen Geschichte, den skurrilen Charakteren, der Situationskomik, dem österreichischen Sprachkolorit.
Dieses Buch ist so vielschichtig, so phantasievoll, so poetisch, so sensibel und so farbenfroh. Ich habe es voller Freude gelesen.

Bewertung vom 26.07.2023
Schönwald
Oehmke, Philipp

Schönwald


ausgezeichnet

Schönwald

Philipp Oehmke hat einen wunderbarer Roman über eine komplizierte Familie und ihre fehlende Kommunikation geschrieben.
Die Familie Schönwald hütet Geheimnisse.
Chris, der liberale Linguistik-Professor, in den USA erfolgreich, erhält eine Kündigung der Uni und wechselt ins rechte politische Lager der Trump-Anhänger, die selbst ein Jahr nach der „gestohlenen“ Wahl weiterhin ihre Mythen pflegen und an dem Sieg der nächsten Wahl arbeiten.
Seine Schwester eröffnet in Berlin einen queeren Buchladen. Bei der Eröffnung des Buchladens kommt es zu Angriffen junger Internet-Aktivist:innen, die die Herkunft des Startkapitals für den Buchladen hinterfragen. Ist das Geld des Großvaters „Nazi-Geld“?
Karolins sexuelle Orientierung scheint etwas „unklar“ in der Familie zu sein. Aber es fragt auch niemand nach.
Der Bruder Ben lebt mit Frau (die auch an ihren eigenen Kindheitstraumata als Tochter eines Milliardärs, der sie nicht beachtet hat) und Kindern in Brandenburg. Der hochintelligente Mann, der die Studiengänge Mathematik und Jura gleichzeitig erfolgreich absolviert hat, leidet unter Zwangsstörungen
Die Eltern Ruth und ihr Ehemann Harry haben sich auch nicht mehr viel zu sagen. Ruth blickt auf eine gescheiterte Karriere als Germanistin-Professorin zurück, auf die sie wegen der Kinder verzichtet hat. Sie möchte den Schein einer perfekten Familie wahren und findet nicht, dass man nicht über alles reden muss. Harry möchte gern ergründen, ob sein Leben glücklich verlaufen ist und besucht heimlich eine Therapeutin.
Bei einem Zusammentreffen der Familie anlässlich der Eröffnung des Buchladens in Berlin kommt es zu zahlreichen Komplikationen und einige Geheimnisse werden gelüftet.
Die Charaktere dieses Romans sind unglaublich gut dargestellt, ebenso die aktuellen gesellschaftlichen Strömungen.
Thomas Mann spielt sowohl im wissenschaftlichen Schaffen der Mutter als auch in dem Roman immer wieder eine Rolle, aber auch andere Anspielungen auf Literatur und Kunst zeigen, dass der Autor ein großer Kenner der Literatur- und Kunstszene sowohl in Deutschland als auch in den USA ist. Ich bin ein wenig neidisch auf seine Freundschaft zu Campino von den Toten Hosen.
Die gesellschaftspolitische Zeit der Generationen wird spannend abgebildet (Boomer Generation - Generation X - Millennial Emos) und weckt Erinnerungen an meine eigene Zeit zwischen Boomern und Generation X.
Die personale Erzählperspektive bleibt durchgängig bei allen Familienmitgliedern erhalten und so lernen wir sie alle in ihrer Sichtweise ihrer kleinen, eigenen Sicht der Welt kennen. Hier ist sicher auch der Unterschied zur auktorialen Erzählperspektive eines Thomas Mann zu sehen, es gibt keine Erklärungen oder Belehrungen eines außenstehenden Beobachters, die Zerrissenheit dieser Familie, ihre Sprachlosigkeit werden nicht kommentiert. Da haben die großartigen aktuellen amerikanischen Autoren ihren Einfluss hinterlassen. Und das ist gut so.
Die grandiose Erzählkunst des Autors zeigt sich auch in der detailgenauen Beschreibung zum Beispiel der brandenburgischen Hipster-Bauernhöfe samt ihrer Bewohner (unglaublich satirisch) oder in dem Kapitel „Peshawar“, in dem es über Bennis Versuch der Überquerung des Khyber Passes geht (unglaublich traurig).
Ich bin dankbar für dieses Buch und habe es voller Germanisten-Freude gelesen.

Bewertung vom 18.07.2023
Erzähl's nicht deinem Bruder
Shalev, Meir

Erzähl's nicht deinem Bruder


sehr gut

Erzähl‘s nicht deinem Bruder
aus dem Hebräischen von Ruth Achlama

Die beiden Brüder Boas und Itamar treffen sich einmal im Jahr in Israel. Itamar, ein sehr gutaussehender Mann, lebt schon lange in den USA. Bei ihren „Brudernächten“ erinnern sie sich an die Zeit mit ihren Eltern und ihre Begegnungen mit Frauen. Mittlerweile sind beide über 60.
Itamar erzählt seinem Bruder von einer Begegnung mit einer Frau, Scharon, mit der er vor 20 Jahren in Israel bei einem seiner Besuche eine aufregende Begegnung hatte. Scharon bringt ihn in ein abgelegenes Haus. Seine Kurzsichtigkeit wird ihm dabei zum Verhängnis, denn sie versteckt seine Brille, damit er die Nacht bei ihr bleibt. Im Laufe des Abends gibt es spannende Entwicklungen.
Das Erzählen der Geschichte dieser Begegnung wird immer wieder durch witzige Dialoge unterbrochen, weil Boas Rückfragen stellt oder Bemerkungen einfließen lässt.
Michal, die frühere Geliebte Itamars spielt ebenfalls eine wichtige Rolle in dem Gespräch.
Die dauernden Unterbrechungen, so unterhaltsam sie auch sind, führen leider dazu, dass die Dramaturgie der eigentlichen Geschichte leidet.
Was aber deutlich wird, ist die große Nähe der Brüder zueinander, die sich am Ende doch alles erzählen, was sie als Geheimnisse mit sich herumgetragen haben.
Shalev ist ein zweifellos ein großartiger Erzähler, die Beschreibung der Kindheit, die Rolle der Eltern, die Spiele, die sie spielen und in die sie ihre Söhne einbinden, sind sehr lesenswert und amüsant.
Ich kann gar nicht genau sagen, warum mich dieser Roman nicht so begeistert. Vielleicht ist es Boas belehrender Ton, der mich stört, seine Eifersucht auf seinen Bruder. Auch Michals Rolle, die so entscheidend für Itamars Leben ist, bleibt mir zu wenig ausgearbeitet.
Trotz allem ein lesenswerter Roman.

Bewertung vom 06.07.2023
Der Liebende
Ehrenhauser, Martin

Der Liebende


ausgezeichnet

Ein poetisches, leises, sinnliches Buch.
Ein Mann und eine Frau begegnen sich und finden Interesse aneinander. Das ist zunächst nicht ungewöhnlich.
Für den Seelsorger im Ruhestand Monsieur Haslinger gerät jedoch seine ordentliche, strukturierte Welt ein wenig ins Wanken, als die lebensfrohe Nachbarin Madame Janssen im Nachbarhaus einzieht. Er, der bisher zölibatär gelebt hat, spürt sich zu Madame Janssen hingezogen und lässt sich vorsichtig auf die Nähe zu ihr ein.
Beide verbindet die Freude an Pflanzen. Und diese Pflanzen sind ein wunderbares Symbol für das Leben und die Vergänglichkeit des Lebens.
Ich habe mich ein wenig in Monsieur verliebt. Seine feinfühlige Art und seine Bereitschaft, sich auf ein kleines Abenteuer einzulassen.
In der Er-Erzählperspektive erleben wir die Welt mit den Augen des Monsieur Haslinger. Es ist außergewöhnlich berührend, wie dieser Mann eine Frau bewundert, die Nähe zu ihr und körperliche Berührung zum ersten Mal erlebt.
Madame überredet ihn, nackt zu baden und in der Beschreibung dieses Moments liegt all seine Zerrissenheit. „Er musste ihr einen schnellen Blick zuwerfen. Vorsichtig schaute er an ihr vorbei, gerade so, dass er sie noch sah (…). Er erspähte ihre weiblichen Rundungen, die ihre Unterwäsche straff ausfüllten. Aufregend schön war der Anblick.“
Die beiden werden ein Liebespaar. Doch das Glück währt nur eine kurze Zeit.

Für mich ist es eine der schönsten Liebesgeschichten, die ich bisher gelesen habe. Inhaltlich und sprachlich perfekt.

Bewertung vom 05.07.2023
Vom Ende der Nacht
Daverley, Claire

Vom Ende der Nacht


ausgezeichnet

Rosie und Will begegnen sich als Teenager bei einem Lagerfeuer und seitdem kreisen ihre Gedanken umeinander, auch wenn sie eigentlich in ihrer Unterschiedlichkeit nicht zueinander passen.
Rosie, brav und angepasst, fleißig in der Schule, musikbegeistert und kreativ, leidet unter dem Erwartungsdruck ihrer Mutter und einigen Zwangsstörungen.
Will ist von seiner Mutter verlassen worden und wächst mit seiner jüngeren Schwester bei den Großeltern auf. Er ist eher ein „bad boy“, fällt in der Schule negativ auf, sucht Herausforderungen beim Motorradfahren und hat immer wieder Probleme mit Alkohol. Er träumt davon, die Eintönigkeit des Kleinstadtlebens zu verlassen und die Welt zu erkunden.
Rosie und Will kommen überhaupt nicht dazu, ihre erste Liebe auszuprobieren, denn ein furchtbares Unglück, umwoben mit einem Geheimnis, belastet sie beide so sehr, dass sie auf getrennten Wegen ersuchen, ihre Leben zu gestalten.
Sie begegnen sich immer wieder, müssen weitere Schicksalsschläge gemeinsam meistern.
In dieser besonderen Liebesgeschichte geht es um zwei Menschen, die sich wollen, aber es nicht mitteilen oder umsetzen können, weil die Umstände nicht passen.
Zwei traurige Menschen, die parallel zu einander versuchen, ihre Leben zu leben.
„Sie denken nicht aneinander. Nicht oft. Wirklich nicht.“
Die Er-/Sie Erzählperspektive ermöglicht es, das Leben, die Gedanken und Gefühle beider Protagonisten zu erleben. Die Autorin schafft es, in eindringlicher Sprache, in kurzen, präzisen Sätzen, den Alltag, aber auch die Zerrissenheit der Menschen abzubilden. Rosie und Will kämpfen beide um die Bewältigung der Gespenster ihrer Vergangenheit, sie brauchen einander und lassen doch immer wieder voneinander los. Sie fühlen Nähe, können aber ihre Gefühle nicht aussprechen, sie haben Sehnsucht nacheinander, aber können es sich nicht mitteilen.
Beide arbeiten an sich, versuchen ohne einander zu leben.
Die Geschichte hat eine große Anziehungskraft. Nichts ist, wie es ist, das Leben ist traurig, Menschen sterben. Die Liebe ist da und so nah und doch so kompliziert. Und nirgendwo ist Kitsch, auch nicht, wenn der Himmel in unterschiedlichen Farben erscheint.
Meine Sorge, in eine Young-Adult-Liebesgeschichte hineingeraten zu sein, hat sich nicht bewahrheitet. Es ist vielmehr ein großartiger Entwicklungsroman, zweier junger Menschen, die ihre Ängste überwinden müssen, um zu verstehen, was ihnen im Leben wichtig ist und dann Entscheidungen treffen zu können.
Ein faszinierender Roman, den ich sehr gerne gelesen habe.
aus dem Englischen von Margarita Ruppel

Bewertung vom 05.07.2023
Nachts erzähle ich dir alles
Landsteiner, Anika

Nachts erzähle ich dir alles


sehr gut

„Der Welt bist du egal“ schreibt die 16-jährige Alice in ihr Tagebuch.
Anika Landsteiner, Autorin und Podcasterin hat einen neuen Roman veröffentlicht, der mich sehr beeindruckt hat.
Léa fährt nach Südfrankreich in das Haus ihrer Familie. Sie braucht Abstand zu ihrem bisherigen Leben und der Arbeit in ihrem Café.
Im Garten ihres Hauses begegnet ihr am späten Abend eine Teenagerin namens Alice aus der Nachbarschaft. Am nächsten Tagen erfährt Léa, dass diese junge Frau in der Nacht erstorben ist. Sie ist vermutlich die Letzte, die sie gesehen hat.
Léas Bruder Émile versucht mit ihr gemeinsam die letzten Stunden seiner Schwester zu rekonstruieren. Émile ist ein sehr bekannter Podcaster und beschäftigt sich mit gesellschaftlichen und philosophischen Themen. Er sucht Trost in dem Gespräch mit Léa und gemeinsam versuchen sie die Hintergründe des Todes seiner Schwester herauszufinden.
Zwischen Léa und Émile entwickelt sich eine vertrauensvolle Atmosphäre und
Lea muss sich eingestehen, dass sie, die eine lange Beziehung zu einer Frau hatte, den 10 Jahre jüngeren Mann anziehend findet. Aber passen ihre Leben zueinander?
Parallel schreibt Claire, eine Freundin von Léas Mutter in Frankreich, die sich um das Haus und auch um Léa kümmert, in einem Monolog an Léa, wie sie selber die Zeit als Teenager und die Zeit mit ihrer Mutter erlebt hat.

Dieser Roman ist ein großes Buch über die Liebe. Die Vielfalt der Liebe.
Liebe kann großartig sein. Sie ist viel mehr als die Liebe eines Paares. Liebe fordert keine Gegenliebe, sie ist ein Geschenk.
Aber es ist auch ein politisches Buch über Schwangerschaft und die Entscheidungsfreiheit von Frauen. „Das Private bleibt politisch“, wie die Autorin in ihrem Nachwort betont.

Nebenbei macht das Buch Lust auf Frankreich, der Duft französischen Gebäcks, frittierter Zucchiniblüten, gebratenem Fisch und marinierten Erdbeeren liegt in der Luft.