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Benutzername: 
Missmarie
Wohnort: 
Berlin

Bewertungen

Insgesamt 41 Bewertungen
Bewertung vom 02.04.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


ausgezeichnet

Debattenroman unserer Zeit

Was passiert mit den Kinderstars auf Social Media, wenn sie erwachsen sind? Dieser Frage geht Delphine de Vigan in ihrem dystopischen Roman auf beklemmende Weise auf den Grund.

Zum Inhalt:
Mélanies großer Traum, als Reality-Star Erfolg zu haben, erfüllt sich nicht. Nach ihren sprichwörtlichen fünf Minuten Ruhm scheidet sie aus der Fernsehshow aus. Doch zum Glück gewinnen Facebook, Instagram und YouTube in den kommenden Jahren an Bekanntheit und bieten Mélanie eine zweite Chance. Unter dem Titel "Happy Récré" (dt. glückliche Pause) zeigt Mélanie ihr Familienleben mit den Kindern Sammy und Kimmy. Jede Minute im Leben der Kleinen wird werbewirksam auf Social Media Plattformen veröffentlicht. Das beschert Mélanie nicht nur die gewünschte Bekanntheit (der Kanal zählt schnell zu den Beliebtesten in Frankreich), sondern auch einige Werbeeinnahmen. Doch dann verschwindet Kimmy plötzlich beim Versteckenspielen. Geht es um Erpressung? Ist ein Pädophiler auf das Kind aufmerksam geworden? Oder steckt doch etwas ganz anderes hinter dem Verschwinden des kleinen, blonden Mädchens?

Meine Meinung:
Delphine de Vigane legt den Finger in die Wunder der Familien-Influencer. Ihr Roman stößt eine Diskussion an, die im Moment noch viel zu selten und viel zu leise geführt wird: Wer schützt die Rechte von Kindern, die als Influencer arbeiten? Wer achtet auf ihre Gesundheit, ihre Persönlichkeitsrechte, wenn die gesamte Freizeit, die ganze Wohnung zum Drehort wird? Mich hat de Vigane damit zum Nachdenken bewegt. Mir gefällt daran besonders gut, dass die Autorin eine klare Meinung transportiert, ohne das Social Web insgesamt zu verteufeln. Diese schmale Gratwanderung gelingt vielen Medienpädagogen nicht. Obwohl der Leser Sammy und Kimmy nur durch die Videos (bzw. durch Protokolle von Videobeobachtung einer Polizistin, die immer wieder in den Fließtext eingebunden werden), habe ich große Empathie für das Schicksal der beiden entwickelt. Vor allem diese Nähe zu den Figuren half mir dabei, zwischen den vielen guten und schlechten Aspekten zu differenzieren. Dennoch bleibt es ein gelungener, spannender Roman - mit allen Zutaten für ein gutes Debattenbuch.

Bei aller Begeisterung für den Text sehe ich aber auch den ein oder anderen Kritikpunkt: Viele Ideen werden nur schwach ausgeführt, Potential verschenkt. So wächst die Polizistin bei Eltern auf, die sich gegen das Reality-TV stellen. Im weiteren Verlauf der Handlung spielt das aber kaum eine Rolle. Im hinteren Teil des Romans springen wir außerdem in die Zukunft. Was dann mit den verschiedenen Figuren passiert ist - quasi das Gedankenexperiment zu den Folgen von Social Media - hat mich ganz besonders interessiert. Dieser Teil ist aber eher kurz gehalten und die Ideen sind eher grob skizziert als ausgearbeitet.
Auch die dichte Sprache, die ich sonst von de Vigan kenne, ist hier etwas schwächer ausgeprägt.

Mein Fazit:
Ein tolles Buch mit dem Zeug zum Debattenroman. Unterhaltsam und spannend!

Bewertung vom 02.04.2022
Butter
Yuzuki, Asako

Butter


weniger gut

Wichtiges Thema, mittelmäßig umgesetzt

"Butter" war ein Überraschungserfolg in Japan. Für deutsche Leserinnen birgt es aber wenig Neues. Der Klappentext weckt teilweise falsche Erwartungen.

Zum Inhalt:
Rika kämpft um ein Interview mit Manako Kajii, einer Frau, die unter dem Verdacht, Serienmörderin zu sein, im Gefängnis sitzt. Kajii, Köchin und Foodbloggerin, soll ihre deutlich älteren Geliebten umgebracht haben. Der Skandal wird dadurch perfekt, dass Kajii mit allen Männern gleichzeitig in Beziehung stand und selbst gar nicht dem gängigen Schönheitsideal Japans entspricht. Sie ist zu dick.
Rika erhält tatsächlich die Gelegenheit, mit der Frau zu sprechen - allerdings nur über deren Kochleidenschaft. Rika, die eigentlich nur auf Anraten ihrer besten Freundin nach einem kulinarischen Interview gefragt hat, entdeckt dank Kajii das Kochen für sich und gerät auch darüberhinaus immer mehr in den Bann der Frau.

Meine Bewertung:
Der Klappentext und die Inhaltsangabe lesen sich sehr spannend. Ich hatte eine interessante Krimihandlung gepaart mit klugen Gedanken zum Feminismus erwartet. Tatsächlich war es aber eine zähe Lektüre und das hat gleich mehrere Gründe: Asako Yuzuki wählt die Holzhammermethode, um die patriarchale Gesellschaft Japans anzuprangern. Statt uns subtil die Machtstrukturen aufzuzeigen, werden die Leser direkt auf die Themen gestoßen. Und damit auch ja jeder versteht, was gemeint ist, wird das Problem zur Sicherheit bis zur Ermüdung wiederholt. Das mag für japanische Leser spannend sein, da die Probleme im Allgemeinen dort (noch) nicht deutlich genug angesprochen werden. Ich habe mich aber bevormundet gefühlt. Dem Vergleich mit Romanen wie "Die Vegetarierin", die der Klappentext aufwirft, kann "Butter" nicht standhalten. Zu wenig kunstvolles Sprachspiel, zu wenig versteckte Andeutungen und literarische Motive kommen in diesem Roman vor.

Leider wurden auch meine Erwartungen an die Kriminalhandlung nicht erfüllt. Die toten Männer spielen nur am Rande eine Rolle. Eine richtige Auflösung gibt es nicht (ist aber in der eher schwachen Entwicklung der Hauptfigur angelegt). Abgesehen von einem unerwarteten Twist gab es hier auch keine Überraschungen. Spannung kam nicht auf. Schade!

Lediglich die kulinarischen Erwartungen wurden voll und ganz erfüllt. Rezepte und Essen spielen eine große Rolle und ich habe beim Lesen sogar richtig Hunger bekommen. Mich hat die Butter, die an allen Ecken und Enden vorkommt, aber auch getriggert. Ich bin ein großer Fan des gelben Fettes und in mir zieht sich alles zusammen, wenn Rika ein Stück Butter pur isst.

Mein Fazit:
Leider kann das Buch nicht halten, was der Klappentext verspricht: Weder auf der Ebene der Krimihandlung noch bei der Behandlung des Hauptthemas Feminismus.

Bewertung vom 22.03.2022
New York und der Rest der Welt
Lebowitz, Fran

New York und der Rest der Welt


weniger gut

Überheblich statt witzig

Fran Lebowitz ist spätestens seit dem Netflix-Erfolg "Pretend it´s a City" ziemlich gehyped. In der Serie wird sie zurecht als grantig-liebenswürdige Wegbegleiterin vieler New Yorker Größen (z.B. Andy Warhol) verehrt. Auf dem Bildschirm zeichnet sie sich durch Schlagfertigkeit und Wortwitz aus. Auf dem Papier kommt das allerdings nur in Ansätzen rüber.

Mag sein, dass ein einwöchiger New York Besuch nicht ausreichend Hintergrundwissen für Lebowitz Kolumnen hergibt. Vielleicht ist es auch so, dass nun mehr fünfzig Jahre zwischen dem Verfassen der ersten Texte in "New York und der Rest der Welt" und ihrer Veröffentlichung in Deutschland liegen. Das neuerschienene Buch ist nämlich die Übersetzung von Kolumnen aus dem Englischen, die dort schon in den 70er-Jahren unter dem Titel "The Fran Lebowitz Reader" erschienen sind.

Woran auch immer es auch liegen mag, mich hat das Buch (anders als die Serie) so gar nicht gepackt. Vieles ist für mein Empfinden einfach nicht lustig gewesen. Nur ganz selten hat mich ein Satz zum Schmunzeln gebracht. Die meisten Kolumnen aber liegen zwischen gerunzelten Augenbrauen oder einem leichten Gefühl von Fremdscham.

Besonders störend empfand ich, dass Lebowitz ihre Weltsicht dauernd als absolut und richtig präsentiert. Das mag vielleicht bei einer fast achtzigjährigen, erfolgreichen New Yorkerin als Starallüren ausgelegt werden. Wenn man sich vor Augen hält, dass die Texte aber von einem fünfzig Jahre jüngeren Ich verfasst wurden, dann wird es unerträglich. Mit welchem Recht urteilt Lebowitz über das, was anderen Menschen lieb und teuer ist (ihre Haustiere, ihre Kinder, ihre Jobs)? Muss man sich wirklich so oft über Menschen der unteren Einkommensschichten auslassen, um seine Pointe zu machen und zu betonen, dass man selbst dieser Welt nicht (mehr) angehört? Fairer Weise muss man zugeben, dass sich Lebowitz im gleichen Zug auch die Upper Class vornimmt. Aber Witze auf Basis der Bedürftigkeit armer Menschen zu machen und sich gleichzeitig mit dem eigenen Nichtstun zu rühmen - das widerspricht meinem Moralempfinden.

Gehofft hatte ich auf intelligente und gerne auch bissige Texte über New York, denen man aber auch die Liebe für die Eigenheiten von Stadt und Bewohnern anmerkt. Bekommen habe ich ein Buch voller Überheblichkeit, die sich als Gesellschaftssatire verkaufen möchte. Schade - definitiv keine Empfehlung.

Bewertung vom 16.03.2022
Den Wölfen zum Fraß
McGuinness, Patrick

Den Wölfen zum Fraß


gut

Düster, melancholisch, literarisch

Ob das Buch ein Krimi ist, wie der Klappentext suggeriert, habe ich mich lange gefragt. Typische Plotelemente sind enthalten: Polizeiverhöre, eine tote, junge Frau, ein tatverdächtiger Lehrer. Doch irgendwie scheint es darum nicht so richtig zu gehen. Der Leser erfährt nur ganz am Rande vom Verbrechen selbst. Zwischen den Zeilen kann er sich irgendwann zusammenreimen, in welchem Fall die beiden Polizisten überhaupt ermitteln. Ohne den Klappentext hätte ich im ersten Viertel gar nicht recht gewusst, worum es gehen soll. Das Verbrechen selbst ist nur angedeutet. Die sonst zentrale Suche nach dem Täter ergibt sich von selbst. Denn der Tatverdächtige sitzt von Anfang an im Gefängnis.

Aber worum geht es dann? "Den Wölfen zum Fraß" erzählt eigentlich von Macht und Machtmissbrauch in all seinen Facetten. Es geht um Misshandlungen an Londoner Eliteinternaten in den 70er und 80er Jahren. Es geht um Vorverurteilungen durch die Medien und um die Käuflichkeit von Nachbarn und Bekannten. Hier kommt der Titel zum Tragen: Die Schüler, der Tatverdächtige, vermeintliche Iren und Ausländer, vielleicht sogar die Polizisten selbst werden "den Wölfen" - also Lehrern oder Medien - schutzlos vorgeworfen. Für mich steht die mit diesem Bild verbundene Grausamkeit im Vordergrund. Patrick McGuinness gelingt es auch sprachlich eine beklemmende Atmosphäre aufzubauen, die sich sehr gut mit den schrecklichen Inhalten deckt. Dennoch glaube ich, dass es dem Roman gut getan hätte, wenn die Handlung stärker fokussieren würde: Entweder auf den Fall oder auf die Internatsgeschichte. Die ständigen Sprünge liegen zwar in der Handlung begründet, nehmen aber den einzelnen Unterthemen ihre Sprengkraft. Die verschiedenen "Wölfe" stehen so gleichwertig nebeneinander und scheinen sich fast selbst zu relativieren.

Die Erzählstimme ist insgesamt melancholisch. Permanent scheint Ander - der erzählende Polizist - nach etwas zu suchen. Der Niederländer, der als Junge nach Großbritannien kam und mit jedem Wort Englisch zu einem anderen wurde, strahlt eine große Sehnsucht aus, die Patrick McGuinness in poetische Worte zu verpacken weiß. So entstehen viele kleine kunstvolle Passagen, in denen das Fehlen von Geschichte beschrieben wird. Die dazu verwendeten Metaphern haben mir gut gefallen. Darin liegt die große Stärke des Romans.

Obwohl ich durchaus Freude an den Sprachspielen, den Variationen des Fehlens und der Melancholie hatte, bleibt ein schaler Beigeschmack. Zu schwer fiel es mir, überhaupt in die Handlung einzusteigen. Erst nach gut 75 Seiten konnte ich einigermaßen folgen. Hätte ich das Buch nicht rezensieren wollen, hätte ich wahrscheinlich schon vorher aufgegeben.

Mein Fazit: Wer einen Krimi erwartet, sollte zu einem anderen Buch greifen. Poetische Sprache und überzeugende Metaphern dürften Literaturfans überzeugen. Der Lesegenuss wird jedoch durch die angedeutete Haupthandlung und die zu Beginn nicht vorhandene Leserführung erschwert.

Bewertung vom 08.03.2022
Vertrauen
Mishani, Dror

Vertrauen


gut

Ein solider Krimi mit Luft nach oben

Dass Mishani schon mehrer Krimis rund um den Kommissar Avraham Avraham veröffentlicht hat, wusste ich vor dem Lesen nicht. Mein fehlendes Vorwissen war aber kein großes Hindernis. In die Handlung kam ich problemlos hinein und der Krimi hat mich insgesamt gut unterhalten. Stellenweise wurde es richtig spannend, auf anderen Seiten hat der israelische Autor die zähe Polizeiarbeit nacherlebbar dargestellt. Dieses Mal wird in zwei Fällen ermittelt: Am selben Tag verschwindet ein Tourist aus seinem Hotel und ein Baby wird im Krankenhaus ausgesetzt. Beide Fälle führen schließlich nach Paris.

Die Baby-Teilhandlung hat mir besser gefallen. Das liegt vor allem daran, dass Mishani die vermeintliche Täterin in mehreren Kapiteln zu Wort kommen lässt und uns so zwei ganz unterschiedliche Varianten der Wirklichkeit präsentiert. Der Touristenfall hingegen entwickelt sich zu einer mutmaßlichen Geheimdienst- und Spionageerzählung. Hier waren für meinen Geschmack zu viele Theorien im Raum, die auseinanderzuhalten ab einem gewissen Punkt anstrengend wurde.

Insgesamt finden sich in dem Roman viele lose Fäden, die der Leser am Ende zusammenführen soll. Vielleicht hätte es dem Buch gut getan, wenn nur eine der beiden Handlungen verfolgt worden wäre und Motive wie Rassismus, Juden und Araber in Israel, Geheimdienstarbeit, Medien und Kindeswohl besser ausgeführt hätten werden können. Über den gesamten Roman hinweg scheinen mir die Verbindungen zwischen den beiden Fällen stark konstruiert. Der Twist im Epilog entfaltet leider nicht die erwünschte Wirkung, sondern wirkt ganz im Gegenteil wie eine nachträglich eingefügte Verbindung.

Dass so viele Themen zu kurz kamen, finde ich vor allem deshalb schade, weil Mishani immer wieder zeigt, was er eigentlich kann. Der Professor für Kriminalliteratur kann Agentengeschichten genauso großartig erzählen wie die kleinen Ermittlungsarbeiten - eigentlich. Auch die vielen Anspielungen auf literarische Ermittler von Mankells Wallender bis Christies Poirot haben mir gefallen.

Fazit: Hier wäre literarisch und gesellschaftskritisch mehr drin gewesen, wenn sich der Autor auf einen Handlungsstrang kritisiert hätte. Wer einen soliden Krimi sucht, sollte aber auf seine Kosten kommen.

Bewertung vom 20.02.2022
Die Feuer
Thomas, Claire

Die Feuer


ausgezeichnet

Ein Feuerwerk der Intertextualität

Beckett, australische Buschfeuer, Müllinsel im Pazifik, Rassismus, ein unerfüllter Kinderwunsch - diese auf den ersten Blick zusammenhangslosen Themen vereint Claire Thomas auf ganz großem literarischem Niveau. In ihrer Erzählung meint der Leser immer wieder etwas Bekanntes zu entdecken, nur um es im nächsten Satz in ganz ungewohnter Form neu zu sehen. Ein Kammerspiel, das im wahrsten Sinne des Wortes Perspektiven eröffnet.

Margot ist etwa 70 Jahre alt und Professorin. Ihr hat man just den Ruhestand nahegelegt. Sie solle sich bitte um ihre Nachfolge kümmern.

Summer, Anfang 20, Schauspielschülerin und Platzanweiserin in einem australischen Theater. Sie ist in Sorge, denn ihre Freundin April hat sich auf gemacht, die Eltern beim Kampf gegen das Buschfeuer zu unterstützen.

Ivy, Mutter und Philanthropin in den mittleren Jahren, gibt sich vollständig der Mutterliebe zu ihrem Sohn hin. Nichts ist bezaubernder, nichts erfüllender als seine unbeholfenen Schritte ins Leben.

Alle drei Figuren begleitet der Leser bei ihrem Theaterbesuch. Sie schauen alle dasselbe Stück - Glückliche Tage von Samuel Beckett - und nehmen die Bühnenhandlung zum Anlass, über ihre Sorgen und Probleme zu sinnieren. Kleine Requisiten wie eine Spieluhr oder ein Revolver bieten Anlass für Erinnerungen und Selbstbeschau. Ohne zu viel zu verraten, kann man festhalten, dass die Figuren jeweils eine tiefe Entwicklung durchlaufen, bevor der letzte Vorhang fällt.

Die herausragende literarische Qualität dieses Romans ergibt sich aber nicht nur aus dem Kammerstück im Kammerstück. Die Fülle an intertextuellen Bezügen ist unglaublich groß - stellenweise wünscht man sich ein Proseminar, in dem man gemeinsam allen Verweisen und Anspielungen nachspüren kann. Natürlich gibt es viele direkte Zitate aus Becketts Drama. Daneben spiegeln die Figuren aber auch andere Stücke wie Albers "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" Dabei werden Motive verändert, verdreht, auf Figuren aufgeteilt und modernisiert. Ergänzt werden diese "alten" Dramen um aktuelle Probleme wie Klimawandel und die Entscheidung zwischen Kind und Karriere. Nahezu auf jeder Seite findet man einen kleinen Motiv-Krumen, der zu einer Reise in die Literaturgeschichte und zu den Problemen der Gegenwart einlädt. Ein großer, literarischer Spaß!

Am Ende bleiben allerdings viele Fragen offen. Der Leser ist hier durchaus gefordert, diese für sich selbst zu beantworten. Auch für die Parallelen-Suche zu anderen Werken gibt es nur ganz vereinzelte Hinweise (Aprils Hund ist bspw. nach Virginia Woolf benannt). Wer herausfordernde Lektüren schätzt, wird Thomas Roman lieben. Wer lieber eine seichte Geschichte mit eindeutiger Handlung und wenig Offenheit sucht, greift lieber zu einem anderen Werk.

Bewertung vom 10.02.2022
Der Holländer / Liewe Cupido ermittelt Bd.1
Deen, Mathijs

Der Holländer / Liewe Cupido ermittelt Bd.1


ausgezeichnet

Spannender Krimi mit Liebe zum Watt

Zwei Männer, nachts, allein im Watt - aber sind sie wirklich allein? Ist das Licht dort hinten der Borkumer Leuchtturm oder die Lampe eines unbekannten Dritten? Der dunkle Streifen auf dem Boden - nur dunkler Sand oder ein Priel, der langsam mehr und mehr Wasser führt?

Mathijs Deen entführt den Leser in seinem literarischen Krimi "Der Holländer" in deutsch-niederländische Wattenmeer. Denn hier wird, direkt auf der umstrittenen Grenzlinie an der Osterems, ein Toter gefunden. Nun stellt sich nicht nur die Frage, wie der Extremwattwanderer dorthin kam, sondern auch, welches Land ermitteln soll. Während sich die Behörden noch um Kompetenzen streiten, wird Liebe Cupido, ein deutscher Bundespolizist mit niederländischer Familie, inkognito mit dem Fall beauftragt.

Obwohl es sich bei "Der Holländer" um einen Krimi handelt, steht das Verbrechen gar nicht so sehr im Vordergrund. Das soll nicht heißen, dass die Handlung langweilig wäre. Tatsächlich hat sich bei mir aber der Hälfte so viel Spannung aufgebaut, dass ich das Buch in einem Rutsch zu Ende gelesen habe. Alle Krimiqualitäten hat der Roman also. Der Schwerpunkt liegt jedoch eindeutig auf dem Wattenmeer und den Küstenbewohnern.

Gerade für Leser, die nicht aus Friesland stammen, dürfte es einiges Skurriles zu finden geben: Die Eigenart der Inselbewohner und ihre Ablehnung gegenüber den Sommertouristen. Die Faszination, die Watt und Schifffahrt auf nahezu alle Figuren vor Ort ausüben. Die wenigen Menschen auf dem platten Land - jeder scheint jeden zu kennen und man begegnet Figuren immer wieder. Und nicht zuletzt die Streitigkeiten mit einer ordentlichen Portion Lokalkolorit. Beim Lesen spürt man deutlich: Deen schwärmt für die Nordseeküste und gibt diese Liebe bildhaft und atmosphärisch dicht weiter.

Besonders gut hat mir gefallen, dass der Text immer wieder durch Twittermeldungen und Zeitungsartikel unterbrochen ist. Das ist auch nötig, um gerade am Anfang den Überblick bei all den Handlungssträngen zu behalten. Die Nachrichtenschnipsel fassen sorgsam zusammen, was der Stand der Dinge ist und welche Fakten als mehr oder weniger gesichert angesehen werden. Ein Kniff, der dem Leser entgegenkommt.

Tatsächlich ist der Text am Anfang ein wenig kompliziert, der Einstieg hat ein wenig gedauert. Denn ständig wechselt der Handlungsort, neue Personen tauchen auf und man muss sich erst einmal einfinden. Die kurzen Kapitel von oft nur drei Seiten erschweren den Einstieg. Das "Hineinarbeiten" lohnt sich aber.

Mein Fazit: Wer anfangs etwas Geduld und Mühe investiert bekommt einen Kriminalroman mit viel Liebe für die Küste und authentisch gezeichneten Figuren präsentiert!

Bewertung vom 06.02.2022
Gala und Dalí - Die Unzertrennlichen / Berühmte Paare - große Geschichten Bd.1
Frank, Sylvia

Gala und Dalí - Die Unzertrennlichen / Berühmte Paare - große Geschichten Bd.1


weniger gut

Habe mir mehr erhofft!

"Gala und Dalí" will keine Biographie des berühmten katalanischen Künstlers und seiner Frau sein, sondern ist laut Verlag eine sommerliche, bewegende Liebesgeschichte. Genau das ist es auch, was der Leser bekommt - nicht weniger, aber leider auch nicht mehr als eine romantische Erzählung, die sich zufällig um zwei bekannte Persönlichkeiten der Geschichte dreht.

Gala und der zehn Jahre jüngere Dalí lernen sich in Cadaqués kennen, einem kleinen katalanischen Küstendorf. Dort machen Gala und ihr Mann, Paul Éluard, sommerliche Arbeitsfreien. Doch die Ehe kriselt und als Gala erst den jungen Künstler kennenlernt und dann unverhofft einige Wochen alleine mit ihm unter der spanischen Sonne verbringen kann, entspinnt sich eine Beziehung zwischen den beiden. Dalí ist zu diesem Zeitpunkt noch recht unbekannt, sein Malstil noch in der Frühphase. Zum Ende der Romanhandlung fertigt er sein berühmtes Gemälde "Die Beständigkeit der Erinnerung". Der Leser begegnet hier also dem jungen Dalí.

Obwohl sich der Einstieg ins Buch wunderbar leicht gestaltet, mich Cover und Klappentext angesprochen haben, bin ich nach den gut 400 Seiten enttäuscht. So viel Potential hat das Autorenteam verschenkt, so viele Lücken gelassen und so oberflächlich erzählt. Stellenweise hatte ich den Eindruck, dass beide eine Liebesgeschichte schreiben wollten und noch irgendeinen Aufhänger gebraucht haben, mit dem sich das Buch besser verkauft. Enttäuscht hat mich zum einen die untergeordnete Rolle, die die Kunst in der Romanhandlung spielt. Obwohl an mehreren Stellen im Buch erwähnt wird, dass sich Dalí mit Gala intensiv über seine Kunst und die Methoden der Motivfindung unterhält, findet sich kein einziges (!) solches Gespräch im gesamten Roman. Auch werden gerade einmal vier Bildtitel genannt, zwei Bilder genauer beschrieben. Lediglich beim berühmten Uhrenbild geht es darüber hinaus auch um Dalís Inspirationen für seine Kunst. Ansonsten sucht man vergeblich nach tiefergehenden Kunstbezügen. Schade - zumal die Autorin mit einem Kunststudium wahrscheinlich in der Lage wäre, hier tiefer einzusteigen. (Mir ist übrigens durchaus bewusst, dass es sich um einen Roman, nicht um eine Biographie handelt, allerdings hätte ich mir bei dem Protagonisten doch mehr Tiefe in Bezug auf die Kunst gewünscht.)

Ähnlich oberflächlich bleiben leider auch die Figuren: Gala wirkt oft eingebildet, kühl, abweisend und eher am Erfolg ihre Geliebten als an dem Mann interessiert. Dalí hingegen schwankt zwischen verrücktem Genie und hilflosem Jugendlichen. Die Liebe zwischen beiden nehme ich den Figuren nicht ab. Das hängt wohl mit dem Schreibstil des Duos zusammen: Statt uns über Gesten, Blicke, Handlungen etc. etwas über die Gefühle der Figuren zu erzählen, wird dem Leser stets erklärt, wie sich die Figuren gerade fühlen und was sie denken. Dadurch habe ich mich eher wie ein distanzierter Zuschauer gefühlt. Außerdem werden so viele Klischees - vor allem in Bezug auf die russische Abstammung Galas - bedient, dass es für mich unglaubhaft wurde.

An einigen Stellen, vor allem gegen Ende, hat der Roman durchaus Szenen voller Potential - Beispielsweise dann, wenn die Surrealisten-Gruppe in Paris zusammentrifft. Leider haben die Autoren aber die Angelegenheit, genau dann in der Handlung zu springen, wenn sich entsprechende interessante Szenen anbahnen würden. Wie sieht es in dem Kino aus, das die Rechten überfallen haben? Wie verläuft die Genesung nach der Krankheit Galas? Immer dann, wenn etwas Interessantes erzählt werden könnte, entsteht leider eine große Lücke.

Zwei Sterne gibt es dennoch für die Landschafts- und Kulturbeschreibungen im ersten Teil des Romans. Diese Kapitel zu lesen, hat sich angefühlt, wie ein Kurzurlaub im Kopf. Dadurch habe ich Lust auf eine Reise in den Süden bekommen. Um ehrlich zu sein, hat mich auch weniger die Handlung, als der Ort und seine Beschreibung durch die ersten 200 Seiten gebracht. Leider wurden diese Schilderungen aber sc

Bewertung vom 23.01.2022
Zusammenkunft
Brown, Natasha

Zusammenkunft


ausgezeichnet

Unbedingt lesen!

Brauchen wir noch ein Buch über Diskriminierung, Frauenhass und Alltagsrassismus? Ja, unbedingt, wenn es sich dabei um ein solches Meisterwerk wie „Zusammenkunft“ der britischen Autorin Natasha Brown handelt. Der Roman handelt von einer jungen Frau, die es bis nach ganz oben in der britischen Finanzwelt geschafft hat. Ein paar Tage lang begleiten wir sie zu Werbeveranstaltungen, in die Chefetage und zum Besuch bei der Familie ihres Partners - alter, englischer Geldadel. Doch was ist dabei nun anders als in all den anderen Romanen zum selben Thema, die gerade den Buchmarkt fluten?

Zuerst ist da Natasha Browns Art, Rassismus und Misogynie zu thematisieren. Gerade in der ersten Hälfte des Buches scheint auf den ersten Blick alles „normal“ zu sein. Was ist daran verkehrt, wenn die Protagonistin den männlichen Kollegen Kaffe kocht, wenn die Empfangsdame weg ist? Ist es nicht enorm wichtig, bei einem Vortrag gut akzentuiert zu sprechen? Und wenn der Bauarbeiter von denen und uns spricht, dann ist das doch eher auf seine mangelnde Bildung als auf rassistische Absichten zurückzuführen - oder? Der*die Leser*in muss also ständig auf der Hut sein, Zusammenhänge zwischen selbst erkennen und sich so das eigentliche Thema erschließen. Die späteren streams of conscious bieten reichlich Verknüpfungsangebote. Grandios erzählt - nicht zuletzt auf Grund der treffenden Metaphern, die Kompliziertes und Unbeschreibbares greifbar machen. Besonders hervorzuheben sind hier auch die „Abbildungen“-Texte im hinteren Teil, auf die ich an dieser Stelle inhaltlich nicht genauer eingehen möchte, die aber enorm viel Unbehagen beim Lesen wecken.

Zum anderen stellt die Autorin durch ihre Protagonistin die richtigen Fragen: Über welchen Teil des Lebens bestimmen wir wirklich selbst, wenn sogar die Körper im Zuge der Ausbeutung angeeignet wurden? Ist es dann nur noch die Form des Todes, die uns eine Wahl lässt? Was bestimmt über unsere Identität - Geld, Herkunft, Kollektive Erinnerungen, Kulturelles Kapital, der Familienname? Dabei gelingt Brown das Kunststück, keine Platten Antworten zu liefern, sondern dem*der Leser*in die Antwort zu überlassen. So kommt es, dass sich das Buch stellenweise eher wie ein Essay als wie ein Roman liest.

Mein Fazit: Ich kann den Hype um das Buch in Großbritannien absolut nachvollziehen. Für mich eines der besten Bücher zum Thema - sowohl inhaltlich als auch sprachlich. Absolute Leseempfehlung

Bewertung vom 15.01.2022
Der letzte Sommer in der Stadt
Calligarich, Gianfranco

Der letzte Sommer in der Stadt


gut

Ein Hommage an das Rom der 70er-Jahre

Wer "Der letzte Sommer in der Stadt" liest und die ewige Stadt schon einmal gelesen hat, wird sich bald im Kopf durch die Straßen Roms flanieren sehen. Gemeinsam mit dem Protagonisten Leo trinkt man einen Caffé in einer der Frühstücksbars an der Piazza Navona oder nimmt abends Wein oder in Leos Fall eher ein Bier in der Nähe der spanischen Treppe zu sich. Obwohl das Buch 1973 geschrieben wurde, ist das Rom-Gefühl bis heute zwischen den Seiten spürbar und Gianfrano Calligarich gelingt es auf wunderbare Weise, den Leser selbst ein gutes Jahr in Rom leben zu lassen. Dieser kleine Italienurlaub im Kopf hat mir sehr gefallen.

Doch das Gefühl der dolce Vita steht im krassen Gegensatz zur eigentlichen Handlung. Denn Leo ist eine traurige, eine gescheiterte Figur. Obwohl die Stadt um ihn herum blüht und voller Verheißungen zu sein scheint, schafft er nicht, mit Fuß zu fassen. Er lebt mal im Hotel, mal in der Wohnung von Freunden und ist ständig pleite. Dass er mit seiner Situation eher sorglos bis verantwortungslos umgeht, hat mich das ein oder andere Mal fast wahnsinnig gemacht, so sehr habe ich mich über Leos Verhalten geärgert. Leider lag das auch an den Geschlechterbildern, die hier vermittelt werden.

Oft erkennt man dann doch, dass es sich bei "Der letzte Sommer in der Stadt" um eine Wiederentdeckung aus den 70er-Jahren handelt. Eine Zeit, in der Männer die Frauen vor allem auf ihr Aussehen reduzieren und die Frauen von ihren Männern ausgehalten werden wollen. Sie sind launisch, undurchschaubar und hangeln sich von einer Abendgesellschaft zur nächsten. Das mag in die Zeit passen, war für mich aber gewöhnungsbedürftig.

An diese Distanz lag es vermutlich auch, dass ich mit der Liebesgeschichte, die der Roman auch erzählt, nicht warm geworden bin. Sie wurde mir zu oberflächlich, zu wenig auf der emotionalen Ebene erzählt. Dabei wäre hier deutlich mehr drin gewesen.

Versöhnt haben mich schließlich Calligarichs poetische Sprache und seine feinen Beobachtungen. Nicht nur die Sätze über Rom, sondern auch die Passagen über das Lesen sind absolut lesenswert. Und so kann ich verstehen, dass der Roman zumindest in Italien immer wieder neu aufgelegt wurde und als Geheimtipp für Leserunde gilt.

Mein Fazit: Ein Roman, den man wegen des Lebensgefühl und für einen kurzen Italienurlaub im Lesesessel lesen sollt. Die Handlung tritt dahinter leider deutlich zurück.