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⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

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Insgesamt 735 Bewertungen
Bewertung vom 25.08.2023
Der Freund der Toten
Kidd, Jess

Der Freund der Toten


ausgezeichnet

Seine Kindheit in einem Dubliner Waisenhaus hat der Tunichtgut Mahoney schon einige Jahre hinter sich gelassen. Mit Witz und Charme mogelt er sich nun durchs Leben und ist auch dem gelegentlichen Diebstahl nicht abgeneigt. Doch seine Überzeugung, seine Mutter habe ihn aus mangelnder Liebe verstoßen, gerät jäh ins Wanken, als er einen Brief erhält, der eine viel grausamere Erklärung andeutet. Was ist damals mit seiner Mutter geschehen?

Kurz entschlossen reist er ins irische Städtchen Mulderrig, wo sie einst lebte. Dort findet er eine Verbündete in der alten Mrs Cauley, die überzeugt ist, Mahoneys Mutter sei ermordet worden. Andere Bewohner begegnen ihm mit Misstrauen und Ablehnung, denn sie sehen in seinen Zügen den Schatten einer Vergangenheit, die sie schon lange begraben wähnten … Doch Mahoney besitzt eine ungewöhnliche Gabe: Er kann Geister sehen, die ihn auf ihre eigene Weise unterstützen oder beeinflussen.

Die Handlung sprüht vor Einfallsreichtum; Jess Kidd verwebt Krimi, Urban Fantasy, Schelmen- und Entwicklungsroman zu einer stimmigen Mischung, gewürzt mit Humor und irischem Flair. Ich bin beeindruckt von ihrer literarischen Bandbreite: Drama und Tragik, Unterhaltsamkeit und Spannung, Liebe und feiner Witz, sie porträtiert alles mit der gleichen Leichtigkeit, ohne je ins Banale abzugleiten.

Ihre Sprache tanzt nur so durch die Geschichte, mit poetischen Worten, bildgewaltigen Beschreibungen und viel Charme und Ambiente. Sie schreckt allerdings auch vor dem Makabren nicht zurück.

Die Spannung baut sich schnell auf, und die Kombination aus Geheimnissen, ungelösten Rätseln und übernatürlichen Elementen sorgt für eine ganz eigene Note. Man sollte ja meinen, dass Geister der Logik und Schlüssigkeit abträglich wären! Tatsächlich fügen sie sich jedoch organisch in die Geschichte ein und tragen sogar zur Enthüllung der Geheimnisse bei.

Die Charaktere sind komplex und vielschichtig, gut ausgearbeitet und lebendig. Sie haben alle ihre Schrullen und Schwächen, und gerade das macht sie einnehmend und überzeugend.

Ich hatte viel Freude an diesem rundum außergewöhnlichen Roman.

Bewertung vom 19.08.2023
Idol in Flammen
Usami, Rin

Idol in Flammen


ausgezeichnet

Das ganze Leben der 17-jährigen Akari dreht sich um Masaki, Mitglied einer beliebten J-Pop-Gruppe. Die Schülerin arbeitet Überstunden, nur um all ihr Geld für Tickets und Merchandise auszugeben. Noten sind unwichtig. Ihre Familie ist unwichtig. Ihre Zukunft ist unwichtig. Alles ist unwichtig, nur nicht Masaki. Doch eines Morgens wacht sie in einer Welt auf, die aus den Fugen geraten ist: Masaki soll einen weiblichen Fan geschlagen haben, und so stürzt das Idol vom Himmel, der Sonne zu nah gekommen. Doch so viele Anhänger:innen sich jetzt auch von ihm abwenden, Akari kann und will sich von ihrer emotionalen Abhängigkeit nicht lösen.

Ist das nicht ihre Chance, sich als wahrer Fan zu beweisen? Wenn ihr Idol in Flammen steht, sollte sie dann nicht ebenfalls brennen?

Akari erscheint nur wenig verwurzelt in ihrer eigenen Gefühlswelt. Dennoch entwickelt die Handlung eine emotionale Intensität, die sich aus ihrer bedingungslosen Obsession speist. Die Schülerin reduziert sich vollkommen auf ihre Rolle als Masakis treusten Fan und wird dadurch zum perfekten Sinnbild für eine problematische Fankultur, die die Individualität ihrer Anhänger:innen erstickt.

Ihre Persönlichkeit verbirgt sich im Ungesagten, im Unterdrückten — in dem, was sie ihrem Idol opfert, ohne dass Masaki auch nur von ihrer Identität weiß. Als Leser:in musst du zwischen den Zeilen lesen, die Leerstellen selber füllen, sodass Tiefgang eher angedeutet als ausgestaltet wird. Wie bei einem Haiku vervollständigt sich die Bedeutung erst im Erleben der Lesenden; nicht alles wird ausgeschrieben oder benannt.

Wer mit dem Thema der asiatischen Idolkultur bereits vertraut ist, wird hier möglicherweise nicht viel Neues entdecken. Dennoch gelingt Rin Usami eine bestechende Darstellung von Haltlosigkeit und sozialer Isolation, gezeichnet in minimalistischen, geradezu nüchternen Worten. Akaris familiärer Hintergrund bleibt offen, was ihre Einsamkeit jedoch nur weiter hervorhebt.

Die Geschichte regt zum Nachdenken an, indem sie den ein oder anderen Stein ins Gewässer wirft. Den Kreisen, die sich bilden, musst du schon selber behutsam nachspüren, hier wird nur wenig erklärt.

Bewertung vom 18.08.2023
Magie und Milchschaum / Die Viv-Chroniken Bd.1
Baldree, Travis

Magie und Milchschaum / Die Viv-Chroniken Bd.1


ausgezeichnet

Als Ork-Frau weiß Viv nur zu gut, dass jeder von ihr erwartet, dass sie aggressiv und dumm ist. Und bisher hat ihr Leben als Kriegerin nur wenig dazu beigetragen, dieses Vorurteil zu wiederlegen, aber sie ist des Kämpfens müde. Sie liest leidenschaftlich gerne und wünscht sich nichts sehnlicher, als ein gemütliches Kaffeehaus zu führen, wo die Gäste sich wohl fühlen – egal, ob Zwerge, Hobgoblins, Menschen oder Kobolde.

Kann sie sich denn nicht verändern, den Erwartungen trotzen? Kann sie nicht das Schwert an den Nagel hängen (buchstäblich, als Dekoration ihres Cafés) und sich stattdessen Kaffeebohnen, Schokolade und köstlichem Gebäck widmen? Gedacht, getan: Viv versammelt eine Reihe von Angestellten um sich, die alle nicht den Vorurteilen entsprechen, mit denen sie konfrontiert werden. Schnell wird daraus eine kleine Familie, die ihre Stärken gemeinsam einsetzen, um ihre Schwächen abzufangen. Und ganz nebenbei gibt es noch eine bezaubernde LGBTQIA+ Liebesgeschichte.

Gemütliche Fantasy in ihrer besten Form: Dieses Buch ist einfach rundum entzückend und wohltuend, mit einer herzerwärmenden Botschaft, viel Kaffeehaus-Atmosphäre und zahlreichen Beschreibungen köstlicher Backwaren. Unbedingt bei einer Tasse Kaffee und mit einigen Leckereien in Reichweite lesen!

Bewertung vom 03.08.2023
Der Verdacht
Audrain, Ashley

Der Verdacht


sehr gut

Blythe ist glücklich verheiratet. Wirklich? Die kleine Violet ist ein Wunschkind. Oder war es nur der Wunsch ihres Mannes Fox? Auf jeden Fall ist Blythe fest entschlossen, eine liebevolle Mutter zu sein und damit eine fatale Familientradtion zu durchbrechen. Aber schon kurz nach der Geburt kommt sie zu dem Schluss: »Das Baby hasst mich«. Denn Violet lächelt nur für ihren Vater, ist nur brav für ihn. Sie schreckt vor Blythes Berührungen zurück, schreit sich in hysterischen Wutausbrüchen blau vor Atemnot.

Das ist nicht Blyhtes Schuld. Oder? Da ist eine tief sitzende Ablehnung in ihr. Spürt Violet das und reagiert darauf? Blythe hadert mit sich, kommt ans Ende ihrer Kräfte – sie kann einfach nicht mehr. Manchmal setzt sie sich Kopfhörer auf und lässt das Kind stundenlang alleine schreien. Eine fatale Schleife entsteht: Blythe weist Violet ab, Violet reagiert zunehmend explosiv auf Blythe.

Das zweite Kind soll alles besser machen, eine neue Chance. Es scheint zu funktionieren: der kleine Sam ist ein Wonneproppen; Bylthe verspürt die bedingungslose Liebe, die sie für Violet nie aufbringen konnte. Bis das Unsägliche geschieht.

Spannungsroman, Drama, Gesellschaftskritik? Ja. Hier geht es vor allem um das Thema Mutterschaft: Wie sie wahrgenommen wird. Mit welchen Ansprüchen an Frauen sie einhergeht. Was es mit einer Mutter macht, wenn sie diese Ansprüche scheinbar nicht erfüllen kann.

Blythe bekommt keine Hilfe. Von allen Seiten prasseln Erwartungen auf sie ein, wie sie als Mutter zu sein hat; ihre Verzweiflung und scheinbare Lieblosigkeit wird als Mangel verurteilt, ihre Angst als Schwäche. Von ihrer eigenen Mutter hat sie kein positives Bild der Mutterschaft mitbekommen – sie ist die letzte in einer Reihe von Müttern, die in die Mutterschaft gepresst wurden.

Die Autorin zeichnet ihre Charaktere mit Feingefühl und lädt an keiner Stelle zur plumpen Vorverurteilung ein. Als Leser:in spürst du die Katastrophe kommen; da sind Momente des Glücks, aber dessen Zerbrechlichkeit hat scharfe Kanten.

Die Geschichte ist fesselnd geschrieben, entwickelt eine immense Sogwirkung und emotionalen Widerhall, mit Tiefgang. Das Lesen schmerzt – doch es lohnt sich.

Bewertung vom 31.07.2023
Die 22 Tode der Madison May
Barry, Max

Die 22 Tode der Madison May


ausgezeichnet

Madison May wurde ermordet. Mal wieder. Ihr Mörder springt durch die Parallelwelten, stets auf der Suche nach der perfekten Version von Madison: schön, erfolgreich – und willens, seiner obsessiven Verliebtheit eine Chance zugeben. Wenn daraus nichts wird, zückt er das Messer…

Doch dieses Mal heftet sich die Journalistin Felicity an seine Fersen, was sie beinahe mit dem Leben bezahlt. Aufgewühlt muss sie danach feststellen, dass besagtes Leben auf einmal ein ganz anderes ist. Warum erinnert ihr Freund sich nicht an ihre zweite Katze – und wo ist die überhaupt? Wieso behauptet jeder in der Redaktion, dass es gar keinen Mord an einer Madison May gegeben hat?

Felicity ist nicht mehr in ihrem New York – sondern in einer Parallelwelt, in der der Mörder wieder auf die Jagd geht.

Die Handlung erinnert an »Shining Girls« (Buch und Serie) von Lauren Beukes. Hat Felicity es hier mit einem Mörder zu tun, der durchs Multiversum reist, jagt Protagonistin Kirby in »Shining Girls« einen zeitreisenden Mörder. Wie Felicity muss auch Kirby feststellen, dass ihr Leben sich mit einem Schlag verändert hat – inklusive einer ebenfalls verschwundenen Katze.

Von »Shining Girls« war ich etwas enttäuscht, da es in meinen Augen das Potenzial dieser originellen Idee nicht ganz ausreizte, doch »Die 22 Tode der Madison May« gelingt das meines Erachtens besser.

Zwischen Thriller und SciFi angesiedelt, hält der Roman durchwegs ein flottes Tempo und einen straffen Spannungsbogen. Die Komplexität der Handlung steigert sich, als Felicity feststellt, dass der Mörder keineswegs der einzige Mensch ist, der durch die Welten reist – eine Geheimgesellschaft dubioser Motivation. Atmosphärisch zieht der Schreibstil Leser:innen in die Welt von Madison May.

Gut, manches bleibt ein bisschen zu vage; es wird nicht genauer erklärt, wie das alles möglich ist. Zugegeben, die Charakter haben keinen nennenswerten Tiefgang. Dennoch macht das Lesen einfach Spaß! Madison und Felicity sind Sympathieträger, der Schreibstil ist flott und ansprechend, der Handlungsverlauf fesselnd … Letztlich stellt der Roman ein überzeugendes Gesamtpaket dar.

Bewertung vom 27.07.2023
Wir sind das Licht
Blees, Gerda

Wir sind das Licht


ausgezeichnet

Gerda Blees erzählt von Menschen, die verzweifelt der Leere in ihrem Leben entgegenwirken. Mit selbstgewähltem Verzicht, sei es auf Nahrung oder materiellen Besitz, trotzen sie ihrer Hilflosigkeit ein Gefühl der Kontrolle ab; je mehr sich diese indes als Kartenhaus erweist, desto mehr gleitet der Verzicht ab ins Absurde.

Muriel, Petrus, Melodie und Elisabeth verfallen skrupellosen Gurus, die für einen stolzen Preis ihr Heilversprechen predigen: Glaubst du nur daran, kannst du mit der richtigen Einstellung und disziplinierter Selbstkontrolle auch ohne Nahrung leben, vom Licht allein. Und so magern die Mitglieder dieser kleinen Kommune immer mehr ab, sehen dies indes keineswegs als Beweis dafür, getäuscht worden zu sein. Vielmehr zieht sie ein Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit in den Sog einer stillen Tragödie.

Es sind nicht nur die Themen, eine Melange aus Vereinsamung, Manipulation und Sinnsuche, die das Buch zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis machen. So überraschend wie innovativ entspinnt sich die Handlung als vielstimmiger Choral, der nicht nur Menschen eine Stimme verleiht, sondern auch verschiedenen Wesenheiten, Gegenständen und sogar abstrakten Konzepten. So kommt die Nacht zu Wort, der Klang, die Liebe – aber auch der Tatort, der Entsafter und zwei Zigaretten.

Ich fühlte mich an »Adas Raum« von Sharon Dodua Otoo erinnert! Dort sprechen zum Beispiel ein Reisigbesen, ein Türklopfer oder ein KZ-Zimmer. Doch »Wir sind Licht« ist keineswegs ein Abklatsch – die beiden Romane sind unverwechselbare Gemälde, die lediglich mit ähnlichen Farben und Pinseln gemalt wurden.

Mit leichtem Strich und prägnanten Worten zeichnet Gerda Blees Charaktere, die nicht mehr viel zu geben haben, weil sie in jeglicher Hinsicht am Ende ihrer Kräfte sind. Die Tiefe ihrer Gedanken- und Gefühlswelt lässt sich mehr erahnen als erfassen, und dennoch wirken sie vielschichtig und gut ausgearbeitet. Überhaupt ist der Schreibstil eine Freude: anspruchsvoll, kreativ, fesselnd und klar – kurz gesagt: einzigartig.

Dieses originell inszenierte Drama entfaltet eine subtile, fein nuancierte Wirkung – ein beeindruckendes Debüt!

Bewertung vom 19.07.2023
12 Grad unter Null
Herzig, Anna

12 Grad unter Null


sehr gut

»Ein Verrat, dessen Geschmack kein neuer ist.«

Die Autorin stellt ihre Leser:innen vor vollendete Tatsachen: Es ist zu spät, die Gesellschaft hat sich bereits kompromisslos verändert. Das Schlimmste ist eingetreten, auf geradezu lächerlich absurde Art. Kafkaesk schreibt sie über Frauen in einem übermächtigen, undurchdringlichen System, dessen willkürliche Regeln einzig auf ihre Entmachtung und Demütigung ausgelegt sind.

Das Frauenschuldengesetz legalisiert finanzellen Missbrauch, treibt Frauen gezielt in die Armut und droht mit vollständigem Rechteentzug.

Unmöglich? Das würde so niemals passieren? Das bleibt zu hoffen, aber das fiktive Geschehen eröffnet einen Themenkomplex, der reale Probleme auf die Spitze treibt. Misogynie, genderbasiertes soziales Ungleichgewicht, Angriffe auf feministische Errungenschaften, sexuelle und häusliche Gewalt – auf nur 144 Seiten verdichtet Anna Herzig reale Konflikte und Ungerechtigkeiten zu einer eindringlichen Parabel mit Sprengkraft.

Die Geschichte entfaltet sich eher langsam, baut aber ein enormes Spannungspotential auf. Wütend und beklommen kannst du als Leser:in nur zuschauen, wie Frauenrechte demontiert werden und eine hässliche neue Welt wie eine Lawine über die Protagonistinnen hereinbricht. Greta und Elise versinnbildlichen toxische Strukturen und problematische Familienverhältnisse im Allgemeinen, veranschaulichen aber besonders deutlich, wie Frauen sich in fehlgeleitetem Zorn gegeneinander wenden können.

Der Schreibstil ist ungemein ausdrucksstark und prägnant; er bringt komplexe Themen sprachgewaltig auf den Punkt.

Insgesamt war das Buch für mich eine intensive Lektüre, die mich immer wieder sehr wütend machte. Aufgrund der Kürze des Romans bleiben manche Themen zwangsläufig etwas dünn und werden eher angedeutet als vollständig erforscht, doch dies zieht Leser:innen hinein in einen exakt ausgeloteten Abgrund.

Bewertung vom 13.07.2023
All die Liebenden der Nacht
Kawakami, Mieko

All die Liebenden der Nacht


ausgezeichnet

Fuyuko ist Mitte 30 und lebt allein. Sie arbeitet als Korrekturleserin und würde auf Nachfrage wohl sagen, sie sei vollkommen zufrieden. Doch eines Tages erblickt sie ihr Spiegelbild und erschrickt, denn sie sieht eine zutiefst unglückliche Frau. Ob Alkohol es ihr leichter machen würde, auf andere Menschen zuzugehen? Aus einem Feierabendbier werden vier oder fünf am Morgen, dann eine Thermoskanne Sake, die sie überall mit sich trägt.

Am persönlichen Tiefpunkt begegnet sie einem Mann, der nichts von ihr fordert. Sie unterhalten sich über Physik, Musik – und über Licht.

Kawakami erzählt von einer Frau an der Schwelle zur Selbsterkenntnis. Ohne sich dessen vollends bewusst zu sein, wird Fuyuko gehemmt von dem tief verwurzelten Wunsch, still und nützlich so wenig Raum wie möglich einzunehmen und nichts für sich selbst zu fordern. Dies spiegelt sich in kargen Dialogen wider, in denen sie sich selber nur wenige Worte zugesteht.

Blindlings tastet sie sich voran, getrieben von einem zunehmenden Gefühl der Unerfülltheit, doch jeder Schritt ihres Weges wird von einem verinnerlichten Schmerz begleitet – ein langsamer, fast wehenartiger Prozess. Beim Lesen bangte ich mit angehaltenem Atem: Würde ihre Reise in einer symbolischen Geburt enden, einer kraftvollen Neuerfindung, oder in Stagnation, vergleichbar mit einer Totgeburt?

Obwohl die Autorin oft in minimal reduzierten Worten spricht, wirkt ihr Schreibstil gerade in dieser fein dosierten Zurückhaltung überaus eindringlich. Sie hat ein Gespür dafür, die perfekten Momente einzufangen. Subtil benutzt sie Licht als Metapher für menschliche Beziehungen: mal Teilchen, mal Welle – mal kurzlebiges Aufblitzen, mal eine länger anhaltende Woge der Gefühle.

Eine Vielzahl von Themen wird nuanciert aufgefächert, die Geschichte ist komplex und vielschichtig. Sie erkundet Facetten des modernen Frauseins und der persönlichen Identität, in Konflikt mit dem Patriarchat und den gesellschaftlichen Normen im zeitgenössischen Japan. Dennoch geht der Roman über kulturelle Grenzen hinaus und erzeugt eine universelle Resonanz, sodass sich Leser:innen weltweit in ihm wiederfinden werden.

Bewertung vom 10.07.2023
Die Insel der Unschuldigen
Kidd, Jess

Die Insel der Unschuldigen


sehr gut

Lass mich meine Eindrücke in Worte fassen: »Fesselnd«, »düster« und »traurig«? Mhm-hm. »Bewegend«? »Überraschend«? »Tragisch«? Ja, ja und abermals ja. Diese eindringliche Geschichte entfaltet eine enorme Sogwirkung, obwohl sie alles andere als leichte Unterhaltung ist – und manchmal nur schwer zu ertragen.

Ich taste mich weiter voran: »Einfallsreich«? »Tiefgründig«? Auf jeden Fall. Und »grauenvoll«, oh ja.

Die Autorin lässt in zwei Handlungssträngen – einer spielt in 1628/1629, einer in 1989 – zwei neunjährige Kinder auftreten, deren Schicksal deutliche Parallelen aufweist. Beide haben kürzlich ihre Mütter verloren und kennen ihre Väter nicht; beide brechen mit konventionellen Erwartungen. Mayken, ein Mädchen ‘aus gutem Hause’, treibt sich lieber als Junge verkleidet unter Deck herum. Gil, der eigentlich seinem Großvater beim Fischen zur Hand gehen soll, trägt gerne schöne Kleidung und Lippenstift.

Beide Kinder sind vielschichtige Charaktere, die nicht rührselig auf ihr herzzerreißendes Schicksal reduziert werden. Durch ihre Augen wirken die Geschehnisse und die anderen Charaktere oft wie direkt aus einem Märchen gegriffen, und dennoch glaubhaft und schlüssig.

Kidd greift eine historische Begebenheit auf: den Schiffbruch der Batavia, der 1629 in einem Massaker endete. Sie verbindet diesen ganz realen Horror mit magischem Realismus und Folklore, um menschliche Abgründe auszuloten – und das mit schonungsloser Ehrlichkeit. Dieses Miasma von Trauma, Verlust und Gewalt schnürt dir als Leser:in die Kehle zu, und doch, und doch …

Der wunderschöne Schreibstil geleitet dich durchs finstere Tal; hier und dort blitzen als Leuchtfeuer die positiven Aspekte der menschlichen Natur auf, wie ein selbstloses Geschenk oder ein Moment des stillen Trostes. Die Autorin brilliert mit einer einzigartigen Erzählweise voller Atmosphäre und lebendiger Bilder – und einer Prise Humor, die hilft, das Unerträgliche erträglich zu machen.

Dennoch solltest du das Buch in dem Wissen beginnen, dass dich eine schmerzlich bedrückende Handlung erwartet. Doch in meinen Augen lohnt sich das, denn Jess Kidd entwirft ein bestechendes Panorama der menschlichen Seele.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.