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angie99
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dawo

Bewertungen

Insgesamt 43 Bewertungen
Bewertung vom 05.06.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


gut

In „Die Kinder sind Könige“ lernen wir zwei gegensätzliche Frauen kennen: Die zielstrebige, verschlossene Polizistin Clara, die als Protokollantin bei der Kriminalkommission arbeitet – und die nach Aufmerksamkeit lechzende Mélanie, Mutter zweier Kinder und Betreiberin des beliebtesten Familienkanals Frankreichs.
Ihr Wege kreuzen sich, als Mélanies 6jährige Tochter Kimmy eines Tages spurlos verschwindet und eine aussichtslos erscheinende Suche nach dem allseits bekannten You-Tube-Nachwuchsstar beginnt.

Delphin de Vigan entwirft hier eine spannende Situation, in der sich die medienfremde Clara in die ihr unbekannte Parallelwelt von Videos, Storys, Followern, Likes und Sternenküsschen hineinfinden muss. Mit großer Eindringlichkeit weist der Roman darauf hin, wie sich die permanente öffentliche Sichtbarkeit auf das Leben der Kinder auswirkt. Er deckt empfindliche Missstände in diesem Bereich auf und wagt sogar einen Blick in die Zukunft; all dies wühlt auf und sensibilisiert für dieses topaktuelle Thema.

Doch obwohl Clara wie in einem Krimi auf die Auflösung des Entführungsfalles hinarbeitet, wird die Story in einem so nüchternen Ton erzählt, dass ich mich teilweise in einer Art Reportage wähnte. Einzig die in die Erzählung eingeschobenen Protokolle konnten in Form von Interviews und Video-Mitschnitten etwas Abwechslung und Lebendigkeit in einen von vielen Erklärungen strotzenden Text reinbringen.

Das Problem der Darstellung von Kindern im Internet wird zwar eindrücklich auf den Punkt gebracht, doch leider fehlt es an möglichen Lösungen; selbst der Blick in die Zukunft schildert nur Ansätze, die letztendlich scheitern.
Außerdem hat mich gestört, dass auf den gut 300 Seiten eine einzige Botschaft zwar auf vielfältige Weise wiederholt und bekräftigt wird, jedoch keine zusätzlichen Ebenen erhält. Obwohl de Vigan versucht, auch Mélanies Sichtweise einzubringen, bleibt diese unnahbar und fremd. Mindestens mir brachte dieses Buch keine Erkenntnisse, die mich überrumpelt oder sonderlich überrascht hätten.

Das ist schade, denn ich befürchte, dass dieses Buch in erster Linie von „Claras“ gelesen wird und nicht in die Hände der „Mélanies“ gerät, die den direkt möglichsten Einfluss zu einer nachhaltigen Änderung des Systems hätten.

Bewertung vom 21.05.2022
Wo die Wölfe sind
McConaghy, Charlotte

Wo die Wölfe sind


gut

Vom Cover und Klappentext her hatte mich dieses Werk nicht sonderlich angesprochen, doch die Leseprobe -

"Wir waren acht Jahre alt, da schnitt mein Vater mich auf, von der Kehle bis zum Bauch." (Erster Satz)

- direkt umgehauen, so dass ich mich in Erwartung eines Highlights an die Lektüre machte.

Und ja: der Einstieg ist wirklich grandios, von der ersten Seite an ist man mittendrin in der Erfahrungswelt von Wolfsforscherin Inti, die vom seltenen Mirror-Touch-Syndrom betroffen ist und deshalb Dinge, die sie sieht, körperlich spüren kann. Einerseits versprach gerade dieser Aspekt zusätzlichen Thrill neben dem in Schottland begonnen Projekt zur Wolfsauswilderung – allerdings war es mir relativ bald zu viel des Thrills, zu viel des Außergewöhnlichen und zu viel des damit einhergehenden Dramas.

"Inti Flynn", sagt Duncan noch einmal. "Was ist das überhaupt für ein Name?" "Ach, wer weiß das schon." "Will sagen?" "Mein Vater ist Kanadier mit irischem Namen, meine Mutter ist Australierin mit englischem Namen, meine Großeltern stammen aus Schottland, Irland und Frankreich und kein Mensch hat irgendeine Ahnung, wo mein Vorname herkommt." (S. 133)

Fehlt eigentlich nur noch, dass sich ihre Großmutter als die Queen herausstellt.
Aber nicht nur ihre Herkunft ist in jeglicher Hinsicht dick aufgetragen, auch Intis Charakter und Verhalten empfand ich als Zumutung : wieso nachvollziehbar wenn es auch kompliziert geht? Ach ja: wird halt spannender...

Als mir klar wurde, dass die verschiedenen Traumata, welche diese Familie belasten, sowie die Traumata von Intis neuen Freunden und Feinden und deren Familien in Schottland, sowie die vielen Geheimnisse, die in diesem Zusammenhang gekrämert werden, sowie die daraus entstehenden Komplikationen um die geheimen Traumata und traumatischen Geheimnisse (ihr versteht schon…) einen größeren Raum einnehmen als das Wolfsprojekt, habe ich dieses Buch nur noch quergelesen.

So trauere ich hier um einen Roman, der zwar vielversprechend beginnt und mit einem brillanten Schreibstil punktet, dessen Wendungen auf Vorabendserie-Niveau mir jedoch einfach nur „too much“ waren.

Bewertung vom 30.04.2022
Zusammenkunft
Brown, Natasha

Zusammenkunft


gut

Mit hoher Literatur ist das so eine Sache: Im besten Fall eröffnet sie neue sprachliche Welten, die zu entdecken zwar Mühe kostet, aber gleichzeitig staunen lässt und bereichert. Im schlechtesten Fall wird sie zu einer Aneinanderreihung von Wörtern, deren Sinn sich den Lesenden vor lauter Verschwurbelung nicht mehr erschließt.

Und nun ist da Zusammenkunft.
Zusammenkunft ist hohe Literatur.
Und Zusammenkunft ist die Zusammenkunft der positiven und der negativen Aspekte von Literatur. Mir ging es jedenfalls so.

Zusammenkunft handelt von einer weiblichen PoC, die es mit Fleiß und Selbstaufgabe bis in die hohen Etagen einer Londoner Bank geschafft hat. Die Ich-Erzählerin pickt kurze Szenen aus ihrem Alltag heraus, die sehr prägnante Einblicke in ihre Arbeits- und Gedankenwelt geben.

So interessant ich ihre messerscharfen Beobachtungen fand („Was bedeutet Staatsbürgerschaft, wenn du zugesehen hast, wie grelle GoHome-Lieferwagen deine Straße entlangkrochen?“ (S. 64), so irritiert war ich wiederum von Textabschnitten, die ich nicht einordnen konnte, die ich entweder als zu trivial oder aber als zu abgehoben empfand: „Ein Windhauch Brutalität schneidet dich jeden Tag – wie rechtfertigst du das? Deine Erfahrung? Durchschnittenes Fleisch. Deine Hoffnung. Verdunstung?“ (S. 66)

Zusammenkunft bleibt für mich deshalb insgesamt ein durchschnittliches Leseerlebnis: Da sind einerseits differenzierte Reflexionen und beachtenswerte Ansätze, die mir z.B. die Verbindungen vom totgeglaubten Imperialismus zum heutigen Rassismus aufgeschlossen haben. Andererseits aber ein durch die fragmentierte Schreibweise holperiger Lesefluss und eine schwer zu greifende Hauptfigur, deren Ringen um einen Platz in der Gesellschaft mir zu vage und zu distanziert geblieben ist.

Bewertung vom 24.04.2022
Meerestiere
Kogler, Iris Antonia

Meerestiere


ausgezeichnet

Jakob ist eben von seiner Frau verlassen worden und muss sich mit einem sprechenden Fisch herumschlagen, der gerne ins Meer zurück möchte.
Alfred wird von seiner gestressten Tochter zum weit entfernten Betreuten Wohnheim gefahren.
Sonja und Richard, Anfang sechzig, brechen zu einem Urlaub auf dem Campingplatz auf und merken, dass sie sich in den letzten Jahren entfremdet haben.
Jen hat sich mit ihrem Liebhaber, einem verheirateten Familienvater, in einem Hotel verabredet.
Wir lernen sie alle unabhängig voneinander kennen, wohlgeordnet in die entsprechenden Unterkapitel aufgeteilt.
Sie lassen uns in ihren Alltag, ihre Vergangenheit und ihre Gedankenwelt eintauchen. „Alfred fühlte, wie die Dinge näher rückten, wenn er nicht hinsah, wie bei diesem Kinderspiel, bei dem sich die Kinder nur dann bewegen durften, wenn das Kind, das vorne stand, sich wegdrehte und die Augen zuhielt.“ (32)
Sie alle leben das, was allgemeingültig als normal gilt; sie haben gewöhnliche Berufe gelernt, machen mittelmäßige Karrieren und gehen unscheinbaren Hobbys nach.
Trotzdem spürt die Autorin auch den kleinen Besonderheiten nach – und gerade das entwickelt seinen eigenen Reiz, mindestens für alle, die ebenso gerne über diese „kleinen Dinge“ sinnieren, die unsere durchschnittlichen Leben liebenswert machen. „… durch Jens Blick durch die Kamera bekamen diese alltäglichen Dinge plötzlich eine ganz andere Bedeutung. Der Schatten einer Gabel auf eine weiße, glatte Fläche, ein Graffiti auf einer Mauer genau in dem Moment, in dem ein Sonnenstrahl durch die Lücke einer Häuserfront darauf scheint und das Wort Peace erhellt.“ (439)
Und so unterschiedlich sie mit ihren jeweiligen Lebenssituationen auch scheinen: Sie alle haben mit geplatzten Träumen, mit nicht verwirklichten Wünschen und geheimen Sehnsüchten zu kämpfen. „Sonja schien ihm schon seit Jahren unzufrieden zu sein. Es war ein schleichender Prozess gewesen, und oft war diese Unzufriedenheit von irgendeinem Aktionismus überlagert worden. Er hätte gerne gewusst, über welche Dinge sie nachdachte, während sie den Stau betrachtete, der vor ihnen entstanden war.“ (122)
Ihre Leben kreuzen sich im gleichen Hotel an einer Autobahnraststätte. Charmant und warmherzig bekommen wir erzählt, wie sie sich einander annähern. Und schließlich, wie aus mehreren gescheiterten Plänen ein neuer, gemeinsamer entsteht...
Diese Geschichte „Roadtrip“ zu nennen, finde ich leider eine unglückliche Wahl, denn die Weiterreise unserer fünf Hauptprotagonisten mitsamt ihren tierischen Begleitern nimmt nur einen kleinen und relativ unbedeutenden Teil davon ein.
Alles andere an diesem kurzen Roman ist jedoch sehr gelungen.
Die Autorin versteht es, jede einzelne Figur ernst zu nehmen und ihr Tiefe zu verleihen. Der Humor kommt trotzdem nicht zu kurz und findet sich insbesondere in den Dialogen mit dem Fisch wieder, dem eine ganz wichtige Bedeutung zukommt. Sie baut Wendungen auf, die im ersten Moment klischeehaft wirken und dann doch in letzter Sekunde eine andere Richtung einnehmen. Zu guter Letzt schenkt sie uns ein bewegendes Happy End – ach nein, sogar gleich mehrere Happy Enden! Und das ohne Klamauk, ohne Zuckerguss und ohne Kitsch.
Einfach das Leben.

Bewertung vom 14.04.2022
Auf der Zunge
Clement, Jennifer

Auf der Zunge


weniger gut

„Sie ist der Regen des Regenmanns und das Schiff des Schiffmanns. Sie läuft durch die Straßen von New York, ein Weg durch einen Wald aus Feuertreppen.“ (S. 9) - So beginnt Jennifer Clements Roman „Auf der Zunge“.
Die Leserin erhofft sich, dass die fragmentarische Sprache sich irgendwann zu einem Strang verwickeln vermöge, zu einem festen Baumstamm, aus dessen Ästen im Kopf die Gehirnknospen zu blühen beginnen. Doch nichts dergleichen passiert.
Sie irrt wankend vom Rechtsanwalt zum Arzt, zum Dichter, zum Soldaten und zu anderen Gestalten, welchen die Frau auf den Straßen begegnet.
„Der Kerzendreher tritt auf sie zu. ‚Du riechst nach Kerzen, Sabbatkerzen und Geburtstagskerzen‘, sagt er. ‚Wusstest du das?‘ ‚Ich weiß, dass die Stadt von oben aussehen würde wie ein Friedhof‘, sagt die Frau. ‚Die Häuser wären die Grabsteine, Reihe an Reihe.‘“ (S. 84)
Da stehen Buchstaben und sie bilden Sätze. Das S sieht aus wie eine Schlange mit abgeschnittenem Kopf.
Die Sätze sind schön. „Wenn sie den Schrank öffnet, weht ihr ein kalter Luftzug entgegen, von Pullovern, die nicht umarmen können, Mänteln, die nicht marschieren und sie vor dem Feind beschützen können, Hemden mit Ärmeln, die niemals die Ärmel ihrer Blusen berühren. Er besitzt alle möglichen Stoffe, die ihrer beider Haut vor Berührung schützen.“ (S. 13)
Doch die Sätze sind Feuertreppen ohne Stufen. Sie führen ins Nichts.
Die Leere überspült die Nase der Leserin. Sie vermischt sich mit dem Duft von festem Papier, Druckerschwärze und Vanille, dem Schweiß der Autorin, den Zigaretten des Übersetzers, der Seife und des Pausenapfels des Kommissionierers.
Während die Frau in dem Buch über die Grenzen balanciert zwischen Ich und Du, zwischen War und Ist, zwischen Tag und Traum, zwischen Vergessen und Erinnern, fühlt sich die Leserin gefangen zwischen Fiebertraum und gähnender Langeweile.
„Ja, ja, ich habe das Geschirr zerschlagen und mit oranger Kreide an die Wand gemalt, weil bei mir zu Hause aus den Fenstern Türen wurden und aus den Türen Wände. Mein Körper schreit nach Ungehorsam. Es ist wie Wasser trinken oder in der Sonne stehen. Es ist ganz einfach – man will mehr.“ (S. 51)
Die Hände der Leserin schreien danach, das Buch an ihr Hirn zu schlagen, das sich als unzureichend für diese surrealistische, abgehobene Lektüre erweist. Oder an die Wand, die sich teilt, um das Buch segeln zu lassen in eine Welt, die sich keinem normalen Menschen erschließen kann.
Sie will nicht mehr. Sie ist froh, dass der Spuk nach 140 Seiten ein Ende findet.

Bewertung vom 22.03.2022
Schallplattensommer
Bronsky, Alina

Schallplattensommer


gut

Sehr geehrte Frau Bronsky,
das war leider nichts. Oder sagen wir mal: wenig.
Sie haben uns schon so viele interessante Charaktere geschenkt. Teils schrecklich unsympathische Leute, denen wir lieber nicht begegnen wollen - wie die tatarische Oma oder Barbaras Ehemann Walter – und für die dann durch Ihre pointierten Schilderungen doch ein Funke Verständnis überspringt. Und ich persönlich erinnere mich total gerne an die Sascha aus dem Scherbenpark, die mich mit ihrer Impulsivität völlig überrannt hatte, die ich abwechslungsweise tröstend in die Arme nehmen oder sie für ihr provozierendes Verhalten an die Wand klatschen wollte, auf jeden Fall konnte ich beim Lesen kaum stillsitzen, weil ich so mit ihr mitgefiebert hatte.
Und nun wollten sie uns wahrscheinlich eine zweite Sascha vermachen, ein hart wirkendes Mädchen, das aber so geworden ist, weil es eigentlich tief verletzt ist. Sie haben es Maserati genannt, um einen Running Gag mit verschiedenen Automarken zu kreieren, damit man wenigstens ein paar Mal grinsen kann.
Maseratis Verletzungen haben Sie in ein großes Geheimnis gestopft, so wie ihre Oma die Füllung in ihre berühmten Teigtaschen. Wir Menschen sind nun mal so gestrickt, dass wir nicht gerne über Dinge reden, die irgendwann passiert sind und über die wir nicht länger nachdenken wollen – deshalb passt das ins Konzept.
Weil diese Grundidee also so wunderbar nachvollziehbar ist, stellen Sie noch ein paar weitere Teigtaschenfiguren mit Geheimnisfüllung her und lassen Sie dann in und neben einen gefährlich idyllischen Dorfteich fallen, wo sie so lange herumgeschubst werden, bis sie aufplatzen.
Nun muss ich neidlos anerkennen, dass Sie uns dieses Hin und Her ganz unterhaltsam und flüssig präsentieren, es wird nie langweilig, wir fragen uns sogar manchmal, was in den Füllungen wohl drin sein möge, das bringt ein bisschen Spannung rein. Doch leider wirkt es als Mahlzeit einfach ein bisschen lustlos.
Nehmen Sie es mir nicht übel, werte Frau Bronsky, aber ich weiß, dass sie das besser können! Sie können schonungslos böse und gleichzeitig so zärtliche Sätze schmieden, dass es in Mark und Bein geht. Doch Ihre Fähigkeiten haben Sie bei diesem Roman leider nicht unter Beweis gestellt. Herausgekommen ist ein fades Teigtaschenmenü, in das zwar deftige Zutaten reingestopft wurden, aber nach so wenig schmeckt, dass man nicht weiß, ob es sich um Dreierlei Hack (natürlich bio!) oder Gemüse handelt.
Und sie uns auf den Tisch geknallt wie Maserati an ihren schlechten Tagen.
Da schon „Das Geschenk“ wie zu wenig lange gegart auf mich gewirkt hat, frage ich mich, ob Sie einfach nur unter Zeitdruck leiden. Drei Bücher in nicht einmal einem Jahr, das ist so irre produktiv, dass es wahrscheinlich nur noch als Fließbandarbeit geht. Und anscheinend leidet da die Qualität ein wenig.
Liebe Frau Bronsky, ich würde Ihnen deswegen dringend raten, sich für Ihren nächsten Roman mehr Zeit zu lassen. Damit sich Ihr eigenwilliger Stil, Ihre Spitzzüngigkeit und Sprachgewandtheit wieder so richtig entfalten können. Dann könnte ich dieses Buch hier einfach unter Stolperer verbuchen und vergessen.
Erwartungsvoll,
Ihre treue Leserin

Bewertung vom 18.03.2022
Man vergisst nicht, wie man schwimmt
Huber, Christian

Man vergisst nicht, wie man schwimmt


ausgezeichnet

Pascal ist 15 und lebt alleine mit seiner Mutter, die selten zuhause ist und ihm deswegen gerne Nachrichten hinterlässt: „Genieß den Tag, Pascal!, stand manchmal auf den Zetteln auf dem Küchentisch. Und mit einem Smiley: Carpe Diem! Carpe Diem. Witzig. In Latein war ich dieses Jahr um ein Haar durchgefallen. Und außerdem: Ich genoß jeden Tag. Ich carpte alles raus aus dem Diem. Schlafend. Bis Mittag.“ (S. 13)

Christian Hubers Roman „Man vergisst nicht, wie man schwimmt“ widmet sich einem einzigen Tag im Leben seines Hauptprotagonisten, dem Tag, der alles verändert. Da sich aber mit einem schlafenden Hauptprotagonisten schwer ein 400seitiges Buch füllen lässt, wird Pascal, den alle nur Krüger nennen, am 31. August 1999 von seinem besten Freund Viktor aus dem Bett geklingelt. Und wird aus diesem Diem bis tief in die Noctem alles herauscarpen. Versprochen!
Was mit Wochenblatt austragen und auf der Playstation der Spielwarenabteilung zocken anfängt, entwickelt sich bald zu einem sich immer dichter zusammenbrauenden Sturm aus Ereignissen. Diese hier anzudeuten, hätte Spoiler-Potenzial, weshalb ich dazu rate, sich einfach vom Lauf der Dinge überraschen zu lassen.

Was man verraten darf: die Themen sind jugendlich, die Sprache ist es auch, aber ohne es zu übertreiben. Der Autor versucht natürlich, das 90er-Jahre-Feeling hinüberzubringen, was in den ersten Kapiteln in erster Linie mit der Erwähnung von musikalischen Hits und Markennamen erfolgt und teilweise etwas aufgesetzt wirkt, sich aber bald verläuft. Allerdings wird Jede:r, der sich selbst zu den 90ern-Jugendlichen zählen darf, sich gerne wieder zurück entführen lassen in eine Zeit, in der die Hosen in den Knien hingen und man noch Münzen für die Telefonzelle brauchte… *hach ja….* Hat bei mir prima funktioniert!

Und sowieso und überhaupt – Huber hat mit diesem Buch alles richtig gemacht: nahbare Figuren, eine absolut mitreißende Storyline in kurzen Kapiteln, die meistens mit einem Cliffhanger enden, viel Atmosphäre und: Action, Humor, Tiefgang, alles dabei. Beste Unterhaltung im positiven Sinne!
Im Mittelteil gab es ein paar übertriebene Wendungen, die mich dann doch mal die Augen verrollen ließen – allerdings hat mich das Ende wieder so überzeugt, dass ich dabeibleibe:
Prima Buch!
Schwimmsachen einpacken, Playlist an, lesen!!!

„ – Du stürzt dich so in alles. Mitten rein. Während ich immer… befürchte, zu stürzen. – Du sollst ja auch nicht stürzen. Du sollst dich fallen lassen.“ (S. 197)

Bewertung vom 15.03.2022
Butter
Yuzuki, Asako

Butter


ausgezeichnet

Der Einstieg in das Buch fiel mir nicht leicht. Rika besucht ihre Freundin Reiko, die mit ihrem Mann Ryosuke in ein neues Häuschen umgezogen ist. Der Abend plätschert dahin mit dem Austausch von Höflichkeiten und Dialogen über ausverkaufte Butter, Reikos Kinderwunsch, rassistische Kinderbücher und eine angeblich liebhabermordende, dicke Frau, die Rika gerne interviewen würde. Zwischen die Gesprächsfetzen werden erklärende Informationen über die jeweiligen Hintergründe geklemmt, was für ein ziemlich holperiges und zugleich anstrengendes Leseerlebnis sorgt. Und: Hilfe, wie kann man bloß diese gleichklingenden Namen unterscheiden? Mein Hirn drehte sich vor lauter R’s und k’s…

Erst als die Reporterin Rika schließlich die Gelegenheit bekommt, die medienscheue Manako Kajii im Gefängnis zu besuchen, wird es interessant. Diese besteht darauf, nur über Essen und Rezepte zu plaudern. „Wenn Sie mich nochmals besuchen wollen, müssen Sie mir versprechen, nie wieder Margarine zu essen. Ich pflege nur Umgang mit Menschen, die das Echte schätzen.“ (S. 35) Die sich bisher nur von kleinen Snacks aus Konbini oder Supermarkt ernährende Rika kocht sich darauf das erste Mal Reis mit Butter und Sojasauce. „… schon bald umhüllte, wie von Kanjii vorausgesagt, geschmolzene Butter jedes Reiskorn und erzeugte ein Aroma, das nicht anders als golden zu beschreiben war. Eine goldglänzende, würzige, in ihrer Reichhaltigkeit überschäumende Woge aus Duft und Geschmack schlug über Rika zusammen, überschwemmte sie, riss sie mit sich fort.“ (S. 38) Begeistert von diesem Geschmackserlebnis lässt Rika sich von Kanjii zu weiteren Experimenten hinreißen, die zu sinnlichen Ausflügen ins Reich des Genusses werden und auch geneigten Leser:innen das Wasser im Mund zusammen laufen lassen.

Doch halt! „Butter“ könnte nun zu einer Art Hollywoodstreifen werden, in der eine zielstrebige, aber fade Journalistin sich zu einer enthusiastischen Genießerin entwickelt, gleichzeitig das Geheimnis um die Männermorde löst, ein enthüllendes Interview mit der Angeklagten veröffentlicht, das reißenden Absatz findet – und glücklich lebt bis ans Ende ihrer Tage.
Diesen Gefallen tut uns die Autorin jedoch nicht.

Sie leuchtet auf viel komplexere Weise die Verknüpfungen zwischen Essen und Gesellschaft aus. „Die Mutter eines Schülers, der nach einer Prügelei mit einem anderen Jungen gestorben war, war in die öffentliche Kritik geraten. (…) Es hieß, diese Tragödie sei durch den zunehmenden Verfall traditioneller Essgewohnheiten verursacht worden.“ (S. 157)

Jede von Kanjiis Aufgaben schenkt Rika nicht nur neue Einblicke in die Welt der Aromen und Gerüche, sondern wird zu einem Spiegel für verschiedene Lebenseinstellungen und gesellschaftliche Dysbalancen: Schlankheitswahn, Un-Vereinbarkeit von Kind und Arbeit, Frauenfeindlichkeit, beruflicher Druck, Einsamkeit. Dabei liefert die Autorin keine Instant-Lösungen, sondern vielmehr ein ganzes Bündel an Gedankenanstößen, welche verschiedene Sichtweisen beleuchten. So zeigt sie zum Beispiel: Genuss ist ein Stück Lebensqualität, aber Genuss ist auch egoistisch. „Gourmets waren im Prinzip Suchende. Sie waren Tag für Tag mit ihren Bedürfnissen beschäftigt und auf Entdeckungsreise. (…) Der Grund, aus dem alle Mütter dieser Welt sich mit der täglichen Nahrungsaufnahme abmühten, war nicht ihr eigenes Bedürfnis nach Essen. Was sie antrieb, war der Gedanke an ihre Familie.“ (S. 181)
Dieses Buch benötigt also ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit, um in dieser Fülle an Geschmäckern und Meinungen nicht den Faden zu verlieren, belohnt dafür aber mit einer Vielzahl an Eindrücken.

Was mit Rika und einem Stück Butter anfängt, zieht bald größere Kreise und hat Auswirkungen auf ihre Freundschaft mit Reiko, die Beziehung zu ihrem Freund Makato, die Erinnerungen an ihren Vater, ihre Einstellung zur Arbeit und ihre Kollegen. Einige dieser Hinweise finden sich schon im scheinbar zusammenhangslosen Geplänkel des ersten Kapitels, das sich im weiteren Verlauf

Bewertung vom 01.03.2022
Glücksfisch: Hallo, das bin ich!

Glücksfisch: Hallo, das bin ich!


ausgezeichnet

Meine vierjährige Tochter hat vor kurzem völlig fasziniert entdeckt, dass in ihrem Körper Knochen sind. Von einem Buch über den Körper war sie deshalb spontan begeistert! Schade nur, dass sie darin keine Knochen gefunden hat… *menno* - dafür aber viele andere schöne Sachen!
Es geht in diesem Buch hauptsächlich darum, dass jedes Kind zwar Kopf, Arme und Beine hat, aber trotzdem unterschiedlich aussieht (schwarze Haare – blonde Haare, blaue Augen – braune Augen) und auch anders aussehen darf! Ganz selbstverständlich sind z.B. Rollstuhl und Hörgerät in die Bilder integriert und als etwas völlig Normales dargestellt. Verschiedene Gefühle gehören auch dazu, die sich natürlich auch in unterschiedlicher Mimik und Gestik ausdrückt.
Als zweiter Schwerpunkt ist das „Gesundsein“ gewählt: so werden ganz kindgerecht die Grundpfeiler Bewegung, Hygiene und gesunde Ernährung erläutert. Obwohl dieses Thema vielleicht etwas schulmeisterlich wirkt, ist es ohne erhobenen Zeigefinger, sondern einfach mit positiven (Vor-)Bildern umgesetzt worden: leckeres Obst und Gemüse macht Appetit, die Kinder hüpfen und waschen sich die Hände und planschen in der Badewanne.
Dass dieses Buch viel Spaß macht, ist in erster Linie den sehr ansprechenden, farbenfrohen Illustrationen zu verdanken – und natürlich den vielen interaktiven Elementen zum Klappen, Schieben und Drehen. Aus diesem Grund hat meine Tochter das fehlende Knochengerüst schnellstens überwunden und stattdessen fleißig dem abgebildeten Jungen die Zähne geputzt! :)
Nach mehrmaligem „Nochmals, Mama!“ wusste ich, dass es hier wohl 5 Sterne regnen muss ;) und was daran mein Mutterherz ganz besonders erfreut: „nochmals!“ und „nochmals“ ist in diesem Fall kein Problem, denn das Buch ist super stabil und hält auch tollpatschige Kleinkinderhände aus!

Bewertung vom 24.02.2022
Vertrauen
Mishani, Dror

Vertrauen


ausgezeichnet

Da ist einmal Inspektor Avi Avraham, der in einer beruflichen Sinnkrise steckt. Ernüchtert stellt er fest: „Die meisten Fälle, in denen er in den letzten Jahren ermittelt hatte, waren tragische Gewalttaten gewesen, deren Aufklärung niemandem mehr geholfen hatte. (…) Es ist, als würde er nur in bedeutungslosen Kriegen kämpfen, die nicht zu gewinnen sind. Bei denen es nur Verlierer gibt.“ (S. 15) Bis sein Antrag auf Versetzung bearbeitet wird, schlägt er sich der Pflicht halber noch mit einem Bagatellfall herum: Ein Hotel in Bat Yam meldet einen Touristen, der verschwunden ist, ohne seine Zimmerrechnung zu bezahlen. Als Avraham im Hotel eintrifft, scheint sich der Fall schon von selbst erledigt zu haben – und weckt gerade deswegen des Inspektors Spürsinn…
Und da ist Liora, die etwas verheimlicht. „Sie hatte sich gut vorbereitet, und die Wohnung war so blitzsauber wie vor dem Pessachfest. Gut dreißig Jahre als Reinigungskraft hatten sie zu einer Expertin im Spurenverwischen gemacht.“ (S. 30) Sie wird verdächtigt, einen wenige Tage alten Säugling vor einem Krankenhaus abgelegt zu haben. Ist das Kind von ihr? Oder von einer ihrer jungen Töchter? Wieso behauptet sie ständig etwas anderes? Die Vernehmungen bezeichnet sie als „Teil ihres Plans“ – was hat Liora ausgeheckt, was will sie erreichen?
Während Avraham eher passiv und konturenlos wirkt, was wahrscheinlich auch an seiner darbenden Berufsmotivation liegt, ist Liora ist eine widersprüchliche Figur, die einerseits großmäulig und manipulativ auftritt, während sie in ihrem Inneren etliche Verletzungen und ihren Glauben an Gottes Eingreifen pflegt, was sie umso interessanter macht.
„Vertrauen“ ist ein typischer Ermittlungskrimi, wobei er sich fast ausschließlich auf die psychologische / zwischenmenschliche Ebene konzentriert, in dem sich die Wahrheit mithilfe von Vernehmungen und Gesprächen langsam herauszuschälen versucht. Schießereien und Verfolgungsjagden sucht man hier vergebens. Es wird eher philosophisch: „… in anderen Augenblicken begriff er, dass das, was andere für Paranoia halten, der einzige Weg ist, sich von Wahrheiten zu befreien, die als selbstverständlich gelten.“ (S. 340)
Ich persönlich war von der ersten Seite an gefesselt und ließ mich gerne von Andeutungen zu eigenen Lösungsversuchen hinreißen und von einigen Wendungen überraschen lassen.
Außerdem gefällt mir, wie es der Autor versteht, die Atmosphäre des modernen Israels einzufangen. Er schneidet immer wieder Themen an, die auf die besondere Vergangenheit und die faszinierende wie schwierige Multikulturalität dieses Landes aufbauen. Oder schenkt uns kurze, aber wirkungsvolle Einblicke in den israelischen Alltag.
Das Ende dieses Krimis wartet nicht mit einer völligen Klärung auf, was für manche vielleicht etwas unbefriedigend sein mag – mich hat es jedoch sehr bewegt zurückgelassen.
Während mich „Drei“ nicht ganz überzeugen konnte, habe ich hier einen so spannend aufgebauten Krimi erlebt, dass ich gerne noch die bisherigen Fälle von Avi Avraham kennenlernen möchte.