Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
angie99
Wohnort: 
dawo

Bewertungen

Insgesamt 38 Bewertungen
Bewertung vom 22.03.2022
Schallplattensommer
Bronsky, Alina

Schallplattensommer


gut

Sehr geehrte Frau Bronsky,
das war leider nichts. Oder sagen wir mal: wenig.
Sie haben uns schon so viele interessante Charaktere geschenkt. Teils schrecklich unsympathische Leute, denen wir lieber nicht begegnen wollen - wie die tatarische Oma oder Barbaras Ehemann Walter – und für die dann durch Ihre pointierten Schilderungen doch ein Funke Verständnis überspringt. Und ich persönlich erinnere mich total gerne an die Sascha aus dem Scherbenpark, die mich mit ihrer Impulsivität völlig überrannt hatte, die ich abwechslungsweise tröstend in die Arme nehmen oder sie für ihr provozierendes Verhalten an die Wand klatschen wollte, auf jeden Fall konnte ich beim Lesen kaum stillsitzen, weil ich so mit ihr mitgefiebert hatte.
Und nun wollten sie uns wahrscheinlich eine zweite Sascha vermachen, ein hart wirkendes Mädchen, das aber so geworden ist, weil es eigentlich tief verletzt ist. Sie haben es Maserati genannt, um einen Running Gag mit verschiedenen Automarken zu kreieren, damit man wenigstens ein paar Mal grinsen kann.
Maseratis Verletzungen haben Sie in ein großes Geheimnis gestopft, so wie ihre Oma die Füllung in ihre berühmten Teigtaschen. Wir Menschen sind nun mal so gestrickt, dass wir nicht gerne über Dinge reden, die irgendwann passiert sind und über die wir nicht länger nachdenken wollen – deshalb passt das ins Konzept.
Weil diese Grundidee also so wunderbar nachvollziehbar ist, stellen Sie noch ein paar weitere Teigtaschenfiguren mit Geheimnisfüllung her und lassen Sie dann in und neben einen gefährlich idyllischen Dorfteich fallen, wo sie so lange herumgeschubst werden, bis sie aufplatzen.
Nun muss ich neidlos anerkennen, dass Sie uns dieses Hin und Her ganz unterhaltsam und flüssig präsentieren, es wird nie langweilig, wir fragen uns sogar manchmal, was in den Füllungen wohl drin sein möge, das bringt ein bisschen Spannung rein. Doch leider wirkt es als Mahlzeit einfach ein bisschen lustlos.
Nehmen Sie es mir nicht übel, werte Frau Bronsky, aber ich weiß, dass sie das besser können! Sie können schonungslos böse und gleichzeitig so zärtliche Sätze schmieden, dass es in Mark und Bein geht. Doch Ihre Fähigkeiten haben Sie bei diesem Roman leider nicht unter Beweis gestellt. Herausgekommen ist ein fades Teigtaschenmenü, in das zwar deftige Zutaten reingestopft wurden, aber nach so wenig schmeckt, dass man nicht weiß, ob es sich um Dreierlei Hack (natürlich bio!) oder Gemüse handelt.
Und sie uns auf den Tisch geknallt wie Maserati an ihren schlechten Tagen.
Da schon „Das Geschenk“ wie zu wenig lange gegart auf mich gewirkt hat, frage ich mich, ob Sie einfach nur unter Zeitdruck leiden. Drei Bücher in nicht einmal einem Jahr, das ist so irre produktiv, dass es wahrscheinlich nur noch als Fließbandarbeit geht. Und anscheinend leidet da die Qualität ein wenig.
Liebe Frau Bronsky, ich würde Ihnen deswegen dringend raten, sich für Ihren nächsten Roman mehr Zeit zu lassen. Damit sich Ihr eigenwilliger Stil, Ihre Spitzzüngigkeit und Sprachgewandtheit wieder so richtig entfalten können. Dann könnte ich dieses Buch hier einfach unter Stolperer verbuchen und vergessen.
Erwartungsvoll,
Ihre treue Leserin

Bewertung vom 18.03.2022
Man vergisst nicht, wie man schwimmt
Huber, Christian

Man vergisst nicht, wie man schwimmt


ausgezeichnet

Pascal ist 15 und lebt alleine mit seiner Mutter, die selten zuhause ist und ihm deswegen gerne Nachrichten hinterlässt: „Genieß den Tag, Pascal!, stand manchmal auf den Zetteln auf dem Küchentisch. Und mit einem Smiley: Carpe Diem! Carpe Diem. Witzig. In Latein war ich dieses Jahr um ein Haar durchgefallen. Und außerdem: Ich genoß jeden Tag. Ich carpte alles raus aus dem Diem. Schlafend. Bis Mittag.“ (S. 13)

Christian Hubers Roman „Man vergisst nicht, wie man schwimmt“ widmet sich einem einzigen Tag im Leben seines Hauptprotagonisten, dem Tag, der alles verändert. Da sich aber mit einem schlafenden Hauptprotagonisten schwer ein 400seitiges Buch füllen lässt, wird Pascal, den alle nur Krüger nennen, am 31. August 1999 von seinem besten Freund Viktor aus dem Bett geklingelt. Und wird aus diesem Diem bis tief in die Noctem alles herauscarpen. Versprochen!
Was mit Wochenblatt austragen und auf der Playstation der Spielwarenabteilung zocken anfängt, entwickelt sich bald zu einem sich immer dichter zusammenbrauenden Sturm aus Ereignissen. Diese hier anzudeuten, hätte Spoiler-Potenzial, weshalb ich dazu rate, sich einfach vom Lauf der Dinge überraschen zu lassen.

Was man verraten darf: die Themen sind jugendlich, die Sprache ist es auch, aber ohne es zu übertreiben. Der Autor versucht natürlich, das 90er-Jahre-Feeling hinüberzubringen, was in den ersten Kapiteln in erster Linie mit der Erwähnung von musikalischen Hits und Markennamen erfolgt und teilweise etwas aufgesetzt wirkt, sich aber bald verläuft. Allerdings wird Jede:r, der sich selbst zu den 90ern-Jugendlichen zählen darf, sich gerne wieder zurück entführen lassen in eine Zeit, in der die Hosen in den Knien hingen und man noch Münzen für die Telefonzelle brauchte… *hach ja….* Hat bei mir prima funktioniert!

Und sowieso und überhaupt – Huber hat mit diesem Buch alles richtig gemacht: nahbare Figuren, eine absolut mitreißende Storyline in kurzen Kapiteln, die meistens mit einem Cliffhanger enden, viel Atmosphäre und: Action, Humor, Tiefgang, alles dabei. Beste Unterhaltung im positiven Sinne!
Im Mittelteil gab es ein paar übertriebene Wendungen, die mich dann doch mal die Augen verrollen ließen – allerdings hat mich das Ende wieder so überzeugt, dass ich dabeibleibe:
Prima Buch!
Schwimmsachen einpacken, Playlist an, lesen!!!

„ – Du stürzt dich so in alles. Mitten rein. Während ich immer… befürchte, zu stürzen. – Du sollst ja auch nicht stürzen. Du sollst dich fallen lassen.“ (S. 197)

Bewertung vom 15.03.2022
Butter
Yuzuki, Asako

Butter


ausgezeichnet

Der Einstieg in das Buch fiel mir nicht leicht. Rika besucht ihre Freundin Reiko, die mit ihrem Mann Ryosuke in ein neues Häuschen umgezogen ist. Der Abend plätschert dahin mit dem Austausch von Höflichkeiten und Dialogen über ausverkaufte Butter, Reikos Kinderwunsch, rassistische Kinderbücher und eine angeblich liebhabermordende, dicke Frau, die Rika gerne interviewen würde. Zwischen die Gesprächsfetzen werden erklärende Informationen über die jeweiligen Hintergründe geklemmt, was für ein ziemlich holperiges und zugleich anstrengendes Leseerlebnis sorgt. Und: Hilfe, wie kann man bloß diese gleichklingenden Namen unterscheiden? Mein Hirn drehte sich vor lauter R’s und k’s…

Erst als die Reporterin Rika schließlich die Gelegenheit bekommt, die medienscheue Manako Kajii im Gefängnis zu besuchen, wird es interessant. Diese besteht darauf, nur über Essen und Rezepte zu plaudern. „Wenn Sie mich nochmals besuchen wollen, müssen Sie mir versprechen, nie wieder Margarine zu essen. Ich pflege nur Umgang mit Menschen, die das Echte schätzen.“ (S. 35) Die sich bisher nur von kleinen Snacks aus Konbini oder Supermarkt ernährende Rika kocht sich darauf das erste Mal Reis mit Butter und Sojasauce. „… schon bald umhüllte, wie von Kanjii vorausgesagt, geschmolzene Butter jedes Reiskorn und erzeugte ein Aroma, das nicht anders als golden zu beschreiben war. Eine goldglänzende, würzige, in ihrer Reichhaltigkeit überschäumende Woge aus Duft und Geschmack schlug über Rika zusammen, überschwemmte sie, riss sie mit sich fort.“ (S. 38) Begeistert von diesem Geschmackserlebnis lässt Rika sich von Kanjii zu weiteren Experimenten hinreißen, die zu sinnlichen Ausflügen ins Reich des Genusses werden und auch geneigten Leser:innen das Wasser im Mund zusammen laufen lassen.

Doch halt! „Butter“ könnte nun zu einer Art Hollywoodstreifen werden, in der eine zielstrebige, aber fade Journalistin sich zu einer enthusiastischen Genießerin entwickelt, gleichzeitig das Geheimnis um die Männermorde löst, ein enthüllendes Interview mit der Angeklagten veröffentlicht, das reißenden Absatz findet – und glücklich lebt bis ans Ende ihrer Tage.
Diesen Gefallen tut uns die Autorin jedoch nicht.

Sie leuchtet auf viel komplexere Weise die Verknüpfungen zwischen Essen und Gesellschaft aus. „Die Mutter eines Schülers, der nach einer Prügelei mit einem anderen Jungen gestorben war, war in die öffentliche Kritik geraten. (…) Es hieß, diese Tragödie sei durch den zunehmenden Verfall traditioneller Essgewohnheiten verursacht worden.“ (S. 157)

Jede von Kanjiis Aufgaben schenkt Rika nicht nur neue Einblicke in die Welt der Aromen und Gerüche, sondern wird zu einem Spiegel für verschiedene Lebenseinstellungen und gesellschaftliche Dysbalancen: Schlankheitswahn, Un-Vereinbarkeit von Kind und Arbeit, Frauenfeindlichkeit, beruflicher Druck, Einsamkeit. Dabei liefert die Autorin keine Instant-Lösungen, sondern vielmehr ein ganzes Bündel an Gedankenanstößen, welche verschiedene Sichtweisen beleuchten. So zeigt sie zum Beispiel: Genuss ist ein Stück Lebensqualität, aber Genuss ist auch egoistisch. „Gourmets waren im Prinzip Suchende. Sie waren Tag für Tag mit ihren Bedürfnissen beschäftigt und auf Entdeckungsreise. (…) Der Grund, aus dem alle Mütter dieser Welt sich mit der täglichen Nahrungsaufnahme abmühten, war nicht ihr eigenes Bedürfnis nach Essen. Was sie antrieb, war der Gedanke an ihre Familie.“ (S. 181)
Dieses Buch benötigt also ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit, um in dieser Fülle an Geschmäckern und Meinungen nicht den Faden zu verlieren, belohnt dafür aber mit einer Vielzahl an Eindrücken.

Was mit Rika und einem Stück Butter anfängt, zieht bald größere Kreise und hat Auswirkungen auf ihre Freundschaft mit Reiko, die Beziehung zu ihrem Freund Makato, die Erinnerungen an ihren Vater, ihre Einstellung zur Arbeit und ihre Kollegen. Einige dieser Hinweise finden sich schon im scheinbar zusammenhangslosen Geplänkel des ersten Kapitels, das sich im weiteren Verlauf

Bewertung vom 01.03.2022
Glücksfisch: Hallo, das bin ich!

Glücksfisch: Hallo, das bin ich!


ausgezeichnet

Meine vierjährige Tochter hat vor kurzem völlig fasziniert entdeckt, dass in ihrem Körper Knochen sind. Von einem Buch über den Körper war sie deshalb spontan begeistert! Schade nur, dass sie darin keine Knochen gefunden hat… *menno* - dafür aber viele andere schöne Sachen!
Es geht in diesem Buch hauptsächlich darum, dass jedes Kind zwar Kopf, Arme und Beine hat, aber trotzdem unterschiedlich aussieht (schwarze Haare – blonde Haare, blaue Augen – braune Augen) und auch anders aussehen darf! Ganz selbstverständlich sind z.B. Rollstuhl und Hörgerät in die Bilder integriert und als etwas völlig Normales dargestellt. Verschiedene Gefühle gehören auch dazu, die sich natürlich auch in unterschiedlicher Mimik und Gestik ausdrückt.
Als zweiter Schwerpunkt ist das „Gesundsein“ gewählt: so werden ganz kindgerecht die Grundpfeiler Bewegung, Hygiene und gesunde Ernährung erläutert. Obwohl dieses Thema vielleicht etwas schulmeisterlich wirkt, ist es ohne erhobenen Zeigefinger, sondern einfach mit positiven (Vor-)Bildern umgesetzt worden: leckeres Obst und Gemüse macht Appetit, die Kinder hüpfen und waschen sich die Hände und planschen in der Badewanne.
Dass dieses Buch viel Spaß macht, ist in erster Linie den sehr ansprechenden, farbenfrohen Illustrationen zu verdanken – und natürlich den vielen interaktiven Elementen zum Klappen, Schieben und Drehen. Aus diesem Grund hat meine Tochter das fehlende Knochengerüst schnellstens überwunden und stattdessen fleißig dem abgebildeten Jungen die Zähne geputzt! :)
Nach mehrmaligem „Nochmals, Mama!“ wusste ich, dass es hier wohl 5 Sterne regnen muss ;) und was daran mein Mutterherz ganz besonders erfreut: „nochmals!“ und „nochmals“ ist in diesem Fall kein Problem, denn das Buch ist super stabil und hält auch tollpatschige Kleinkinderhände aus!

Bewertung vom 24.02.2022
Vertrauen
Mishani, Dror

Vertrauen


ausgezeichnet

Da ist einmal Inspektor Avi Avraham, der in einer beruflichen Sinnkrise steckt. Ernüchtert stellt er fest: „Die meisten Fälle, in denen er in den letzten Jahren ermittelt hatte, waren tragische Gewalttaten gewesen, deren Aufklärung niemandem mehr geholfen hatte. (…) Es ist, als würde er nur in bedeutungslosen Kriegen kämpfen, die nicht zu gewinnen sind. Bei denen es nur Verlierer gibt.“ (S. 15) Bis sein Antrag auf Versetzung bearbeitet wird, schlägt er sich der Pflicht halber noch mit einem Bagatellfall herum: Ein Hotel in Bat Yam meldet einen Touristen, der verschwunden ist, ohne seine Zimmerrechnung zu bezahlen. Als Avraham im Hotel eintrifft, scheint sich der Fall schon von selbst erledigt zu haben – und weckt gerade deswegen des Inspektors Spürsinn…
Und da ist Liora, die etwas verheimlicht. „Sie hatte sich gut vorbereitet, und die Wohnung war so blitzsauber wie vor dem Pessachfest. Gut dreißig Jahre als Reinigungskraft hatten sie zu einer Expertin im Spurenverwischen gemacht.“ (S. 30) Sie wird verdächtigt, einen wenige Tage alten Säugling vor einem Krankenhaus abgelegt zu haben. Ist das Kind von ihr? Oder von einer ihrer jungen Töchter? Wieso behauptet sie ständig etwas anderes? Die Vernehmungen bezeichnet sie als „Teil ihres Plans“ – was hat Liora ausgeheckt, was will sie erreichen?
Während Avraham eher passiv und konturenlos wirkt, was wahrscheinlich auch an seiner darbenden Berufsmotivation liegt, ist Liora ist eine widersprüchliche Figur, die einerseits großmäulig und manipulativ auftritt, während sie in ihrem Inneren etliche Verletzungen und ihren Glauben an Gottes Eingreifen pflegt, was sie umso interessanter macht.
„Vertrauen“ ist ein typischer Ermittlungskrimi, wobei er sich fast ausschließlich auf die psychologische / zwischenmenschliche Ebene konzentriert, in dem sich die Wahrheit mithilfe von Vernehmungen und Gesprächen langsam herauszuschälen versucht. Schießereien und Verfolgungsjagden sucht man hier vergebens. Es wird eher philosophisch: „… in anderen Augenblicken begriff er, dass das, was andere für Paranoia halten, der einzige Weg ist, sich von Wahrheiten zu befreien, die als selbstverständlich gelten.“ (S. 340)
Ich persönlich war von der ersten Seite an gefesselt und ließ mich gerne von Andeutungen zu eigenen Lösungsversuchen hinreißen und von einigen Wendungen überraschen lassen.
Außerdem gefällt mir, wie es der Autor versteht, die Atmosphäre des modernen Israels einzufangen. Er schneidet immer wieder Themen an, die auf die besondere Vergangenheit und die faszinierende wie schwierige Multikulturalität dieses Landes aufbauen. Oder schenkt uns kurze, aber wirkungsvolle Einblicke in den israelischen Alltag.
Das Ende dieses Krimis wartet nicht mit einer völligen Klärung auf, was für manche vielleicht etwas unbefriedigend sein mag – mich hat es jedoch sehr bewegt zurückgelassen.
Während mich „Drei“ nicht ganz überzeugen konnte, habe ich hier einen so spannend aufgebauten Krimi erlebt, dass ich gerne noch die bisherigen Fälle von Avi Avraham kennenlernen möchte.

Bewertung vom 23.02.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


sehr gut

Tell? Kenn ich.
Tell, das ist in meinem Kopf verknüpft mit: langweiligem Geschichtsunterricht / der Armbrust, die unser Primarlehrer über seinem Pult hängen hatte / der obligaten Klassenfahrt nach Altdorf / schwer zugänglichen Schiller-Reimen / Abwandlungen derselben: „Durch diese Hose muss er gasen…“ / noch einem Ausflug, nämlich zur Hohlen Gasse / einer Filmparodie und einigen Werbesprüchen…

Tell, das ist in meiner Schweizer Birne Faszinosum und Abneigung zugleich.
Deshalb: Tell? Kenn ich. Einen neuen Tell? Brauch ich nicht.
- Oder doch? (Vielleicht gerade deswegen?)

Vorweg, meiner langen Liste dieses Buch von Joachim B. Schmidt hinzuzufügen, hat nicht geschadet, sondern meinen bergigen Horizont um eine sehr menschelnde Version erweitert.
Diese erfindet zwar das Rad nicht neu, kleidet den Herrn Wilhelm Tell jedoch in ein modernes und authentischeres Gewand als seine Vorgänger.

In kurzen Kapiteln und schnellen Sätzen entwirft Schmidt ein atemraubendes Panorama über das Leben „anno Tobak“. Jahreszahlen verwendet er keine; so hängt der historische Hintergrund an ein paar dünnen Fäden, in dem die handelnden Personen in habsburgische Besetzer und einheimische Bauern eingeteilt, Hellebarden und Armbrüste erwähnt werden. Das erschien mir dann leider doch etwas dürftig, gerade für Leser:innen, die über die Entstehung der Eidgenossenschaft vielleicht nicht so intensiv belehrt worden sind wie ich in meinen jungen Jahren.

Der Hauptmerk liegt eindeutig auf den Charakteren. Jede Figur erzählt in der Ich-Form, die einzelnen Mitglieder der Familie Tell kommen zu Wort, so wie auch der Dorfpfarrer, der Landvogt Gessler, seine rechte Hand Harras und seine Soldaten. Nach wenigen Seiten schon wieder ein Sichtwechsel, das hört sich anstrengend an, doch die einzelnen Figuren haben so viel Wiederkennungswert, dass man sie gut unterscheiden und der Handlung problemlos folgen kann. Schmidts Charakterisierungen wirken authentisch, es ist ein emotionales Leseerlebnis, das einen nur so durch die Seiten fliegen lässt. So entsteht ein Bild aus kleinen Mosaiksteinchen, wie die Geschichte um den Bauern und passionierten Jäger Wilhelm Tell hätte passieren können. Er selbst kommt erst gegen Ende zu Wort.

Als ziemlich hartherziger Grobian wird er beschrieben und damit – sehr bewusst – nicht als die typische, charismatische Heldenfigur aus der Überlieferung. Und nicht nur das, der Autor schreibt auch den Großteil von Tells angeblichen Heldentaten einigen dummen Zufällen und noch dümmeren Soldaten zu.
Hier ist mir leider das Bild der Besatzungsmacht etwas zu schief geraten. Die Charakterisierung Gesslers versteift sich allzu sehr darauf, dem störrischen Tell einen sanftmütigen Kontrahenten gegenüberzustellen, um das Heldenbild zusätzlich in Frage zu stellen. Zum Glück hat er Harras an der Seite, der mit seiner intensiven Brutalität noch ein bisschen von der Unterdrückung der Habsburger verkörpern kann. Alles andere verkommt nämlich eher zu einer Parodie.

Doch wahrscheinlich wollte Joachim B. Schmidt einfach nur zeigen, dass Tell eben doch nur ein sturer Bergbauer war und eher „cool durch Zufall“.
Tell als Mensch mit einigen Stärken und (vor allem) erheblichen Schwächen.
Tell als Glied einer Kette von familiären und dorfgemeinschaftlichen Reaktionen und Schicksalen.
Tell als Seifenoper. –
Und das gelingt ihm ganz gut.

Fazit: Ein rasantes, durch verschiedene Blickwinkel erzähltes Drama, das Tell als Mensch und nicht als Held (v)erklärt, aber mager an historischen / kulturellen Hintergründen.

Bewertung vom 13.02.2022
Die Feuer
Thomas, Claire

Die Feuer


sehr gut

Man kennt das: man sitzt im Theater, beobachtet das Geschehen auf der Bühne und ertappt sich gleichzeitig dabei, dass man ihm nur bedingt folgt, sondern sich gedanklich auf seine eigenen Pfade begibt, wobei die rezitierten Sätze immer wieder neue Anstöße zum Weiterdenken geben. So geht es auch den Protagonistinnen in diesem Roman, die da wären: Margot, die Literaturprofessorin (Anfang siebzig), Ivy, die Kulturmäzenin (Anfang vierzig) mit ihrer besten Freundin Hilary und Summer, die Studentin und Platzanweiserin (Anfang zwanzig). Sie alle befinden sich in einer Aufführung von Samuel Becketts Stück „Glückliche Tage“.

„(Das Stück) hat vor einer Viertelstunde angefangen, und nun spricht sie (die Darstellerin) über das Sprechen. ,Ich rede nicht nur zu mir selbst.‘ Ivy sollte an Winnies Lippen hängen, aber der schnarchende Mann zu ihrer Rechten lenkt sie ab. Anfang der Nullerjahre hat sie das Stück in Bristol gesehen – alle Akzente klangen furchtbar falsch…“ (S. 55)

Jedes Kapitel widmet sich dem Bewusstseinsstrom einer dieser Protagonistinnen.
Durch diese klare Abtrennung zwischen den Figuren ist es ein leichtes, jeder einzelnen zu folgen. Auf sehr geschickte Weise tröpfeln verschiedene Informationen über ihre Vergangenheit, ihre Arbeits- und Familienverhältnisse, ihre Ängste, Zweifel und Wünsche in den Text mit ein. Anders als bei anderen auf dem Stream of Cosciousness aufgebauten Werken, die verwirrend und schwer zugänglich wirken, wird man in diesem Fall nicht mit unlogischen Sprüngen oder Namedropping überfordert – ein Wohltat für das Leserherz!

„Allein dafür lohnt sich das Abonnement, für das stille Vergnügen, ein paar Mal im Jahr für einige Stunden im Theater zu sitzen, ungestört und geborgen. Aber ich habe irgendwo den Faden verloren, denkt Margot. Bei der Emse und dem Ei. Ach ja. Angst vor den falschen Dingen. Und dass sich meine Ängste in Bezug auf John als doppelt fehlgeleitet erwiesen haben.“ (S. 86)

Die titelgebenden Feuer bilden mit den in der Umgebung wütenden Buschfeuern eine eher zweitrangige Rahmenhandlung und gehen sowohl mit ihren zerstörenden als auch Wärme spendenden Aspekten in die Gedanken der Protagonistinnen ein. Trotzdem hätte ich persönlich den englischen Originaltitel „The Performance“ als treffender erachtet.

Denn in der Pause der Aufführung treffen die drei Frauen zufällig aufeinander und bilden ein eigenes Theaterstück im Theater, ein sehr kunstvoller und überaus geschickter Handgriff der Autorin.
Diese kurzen, eigentlich belanglosen Begegnungen sorgen für ein Umlenken und ein Umdenken der einzelnen Persönlichkeiten. Es sind leise Veränderungen, die hier ihren Anfang finden und deshalb umso authentischer, so wie auch die Figuren an sich aus dem Leben gegriffen wirken.

„Margot vermutet, dass es keine bestimmte Sorte Mensch gibt, die für ein gewisses Verhalten empfänglicher ist als andere. Es gibt immer wieder neue Situationen, und bevor wir uns darin wiederfinden, wissen wir nicht, was aus uns wird.“ (S. 201)

Dieser Roman gehört deshalb zu den Werken, die nicht mit viel Action, sondern mit einem geschliffenen Schreibstil und schön ausgearbeiteten Charakteren punkten.
Mich konnte dieses virtuose Werk mit seiner äußerst klug aufgebauten Struktur und den universal wichtigen Lebensthemen überzeugen.
Es hat mir aber der Funke Originalität gefehlt, der mich gänzlich dafür entzünden und aus dem soliden Werk ein Highlight hätte machen können.

Bewertung vom 11.02.2022
Die dritte Hälfte eines Lebens
Herzig, Anna

Die dritte Hälfte eines Lebens


gut

Das Gute zuerst: Anna Herzigs Sprachstil ist so eigenwillig wie eindrücklich. Er kratzt, fühlt sich unangenehm an, kratzt im Hals, kratzt an Oberflächen und Befindlichkeiten – und genau das soll er auch. In kurzen, minimalistischen Abrissen trifft die junge Schriftstellerin den Kern der Sache, destilliert damit die Wahrheiten heraus. Dabei gibt es, wie so oft, mehrere Wahrheiten, die auch über den zwei Teilen des Buches stehen: „Was man gehört hat“ und „Was die Leute sagen“. Es geht um Krimmwing, ein fiktives und doch universales Dort in Österreich. Und hier wird eben viel gesagt und gehört. Vor allem über die, die irgendwie nicht dazupassen.

Bei der Auswahl dieser dörflichen Außenseiter hat mir die Autorin jedoch zu tief in der Klischeekiste gegraben: ein Transsexueller, eine Dicke, ein uneheliches Mischlingskind. Vor allem das Schicksal des ungeliebten, stets drangsalierten Jungen mit seiner alleinerziehenden Mutter steht im Zentrum des Geschehens und wird mit scharfem Blick breitgetreten. „Die anderen und älteren Kinder, sie werden einen Kreis bilden, sich gegenseitig halten, zu zehnt, und beginnen, synchron mit langen, sommerbraunen Beinen nach dem kleinen, dicken Kind zu schlagen, das auch dunkel ist, aber eben nicht nur im Sommer.“ (S. 50)

Über die anderen Bewohner Krimmwings erfährt man nichts oder wenn doch, dann solches: „Eine stumme Mutter mit lila-gelblichen Flecken unter dem Hauskleid. Ein Ehemann nach dem Vorbild des eigenen Vaters. Und dessen Vater und dem davor.“ (S. 24) Das sind einerseits vielsagende Worte, die ganz deutlich die dörflichen Machtstrukturen erkennen lassen, andererseits aber arg schematisch die Grenzen abstecken: Hier sind die „Bösen“. Die Gewalttätigen, die das Sagen haben. Und damit begeht Herzig im Prinzip den gleichen Fehler wie die Figuren, die sie selbst kritisiert: Sie schafft es nicht, das Menschliche aus diesen verkrusteten Hüllen herauszuschälen.

Obwohl Herzig gegen Ende hin einige Wendungen einbaut, die das Gefühl geben, dass ja doch nicht alles ganz so ist, wie es am Anfang scheint, bleiben die Charaktere durchwegs auf ihre festgelegte Schiene beschränkt und haben keinen Freiraum, sich zu entwickeln.

Zu sehr konzentriert sich die Erzählweise auf ihre verknappende Weise darauf, immer nur häppchenweise die verschiedenen Wahrheiten preiszugeben. Gerade im Mittelteil hatte ich somit die Übersicht verloren, was wann passiert und – obwohl es eigentlich nicht viele sind – wer denn wer ist, denn der El-Kah-Ih heißt plötzlich nur noch Rathbauer und war jetzt der Warninger oder der Dohringer der wo früher mal… – zurückblätter – … aber wenn das der war, wie kann der dann jetzt… – hä?! Mich zu beschränkt für die nicht wirklich komplizierte, sondern nur (zu) kompliziert erzählte Story fühlend haben die vielen Hä?!-Momente meinen Lesegenuss verdorben. Fast so wie die Außenseiter in Krimmwing am Leben scheiterte ich an deren literarischer Aufbereitung.

So konnte mich das durchaus löbliche Grundanliegen dieses kurzen, dichten Romans aufgrund der zweidimensionalen Figurenzeichnung und ungeklärten Sicht- und Zeitverschiebungen leider nicht wirklich erreichen. Obwohl der Schluss der Schluss nochmals einiges aufklärt und schöne Sätze hier ihren Eingang finden: „Mit einem vom Dreck der Anderen verklebten Kopf weiß man nicht mehr, wer man eigentlich ist.“ (S. 124)

Fazit: literarisch anspruchsvoll aufgebaut - Charaktere klischeehaft und unzugänglich. Die Sprache kratzt an der Oberfläche, aber leider auch nur da.