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Top-Rezensenten Übersicht

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darkola77

Bewertungen

Insgesamt 79 Bewertungen
Bewertung vom 15.09.2023
Das dritte Licht
Keegan, Claire

Das dritte Licht


ausgezeichnet

Es fehlt – an Zuneigung, Aufmerksamkeit und auch Geld. Die Verhältnisse, in welchen die junge Ich-Erzählerin im Irland des vergangenen Jahrhunderts aufwächst, sind von Mangel gezeichnet. Das Mädchen und ihre Geschwister erscheinen weitestgehend sich selbst überlassen zu sein, Talente, Fähigkeiten und Bedürfnisse finden keine Nahrung, um zu wachsen und erblühen.
Doch für einen Sommer ist alles anders. Das Mädchen wird zu ihrer Tante und ihrem Onkel nach Wexford geschickt, zur Entlastung der erschöpften, hochschwangeren Mutter und aus den Augen des Vaters, der vor allem mit seinen eigenen Leben beschäftigt zu sein scheint.
Und dann, im tiefsten Nirgendwo, öffnet sich die Tür zu einem Paradies: Die Verwandten kümmern sich liebevoll um das Kind und geben ihm all das im Überfluss, was bisher so schmerzlich gefehlt hat und dringend notwendig war. Die kleine Nichte blüht unter der Aufmerksamkeit und tiefen Hingabe der Kinsellas auf und macht in nur wenigen Wochen eine bemerkenswerte Entwicklung durch. Doch ein Sommer kann nicht ewig wehren.
Claire Keegan gelingt es mit nur wenigen Worten und auf nicht einmal 100 Seiten eine Atmosphäre zu schaffen, welche die Leser*innen tief in das ländliche Irland seiner Zeit und das Herzen eines Kindes zieht, das mit seiner Neugierde, Lebensfreude und Suche nach Schutz und Liebe eine Vielzahl an Gefühlen anzusprechen vermag. Die Sprache selbst, poetisch und sorgsam gewählt, ist reduziert und zugleich reich an Bildern und Symbolen und von einer Intensität, die sie bis in die Tiefe von Handlung und Figuren vordringen lässt.
Das Büchlein nach diesem eindringlichen Leseerlebnis wieder aus der Hand zu legen, fiel nicht leicht – zu sehr habe ich mitgelitten mit der kleinen Protagonistin und bin mit ihr gemeinsam durch die reiche grüne Landschaft und die Zeit eines unbeschwerten Sommers geschritten. Was bleibt, ist das Wissen um ein Werk von hoher literarischer Qualität und die Hoffnung für Kinder wie das kleine Mädchen, die so viel mehr verdienen als ihnen gegeben wird.

Bewertung vom 14.09.2023
Zeiten der Langeweile
Becker, Jenifer

Zeiten der Langeweile


sehr gut

Digital Detox, Offline statt Online, seine eigenen Gewohnheiten durchbrechen – Mila ist bereit, aus der digitalen Welt herauszutreten. Schritt für Schritt. Erst ganz langsam, dann immer schneller.
Ihre Motive scheinen hierbei von Furcht und Angst getrieben: Von fremden Menschen, der Community, dem gesichtslosen Mob gecancelt, gemobbt zu werden, ist ein Schreckgespenst, dem Mila auf jeden Fall entkommen will. Und mit allen Mitteln und auf sämtlichen Wegen: Denn was mit dem Verzicht auf Social Media beginnt, nimmt zunehmend an Fahrt auf und erhält seine ganz eigene Dynamik.
Immer entschlossener, zunehmend wahllos löscht, blockt und bereinigt Mila ihr altes Leben bis ihr Ziel erreicht zu sein scheint: Die Google-Suche ihres eigenen Namens führt zu keinem Ergebnis. Doch ein Ende ist für Mila noch lange nicht erreicht, sie scheint die Stoppschilder zu übersehen. Den Ausschalter nicht mehr zu finden. Und damit geht der Rückzug aus der digitalen Welt Hand in Hand mit dem Verlust von Freundschaften und sozialen Beziehungen in der „real world“, mit einem Abschotten, Vereinsamen und schließlich der totalen Isolation.
Glück, Zufriedenheit oder innere Ruhe kann Mila durch ihren radikalen Schnitt jedoch nicht erlangen. Ganz im Gegenteil: Mehr denn je ist sie ist getrieben von Phobien und der Panik, durch Elektrosmog und Datenübertragung krank zu werden, schier alles wird zur Gefahr und Bedrohung. Die Flucht vor der Zivilisation erscheint als einziger Ausweg, doch wo beginnt Wahn und endet die Wirklichkeit?
Jenifer Becker schildert eindrucksvoll und erschreckend realistisch, wie sehr unsere tägliche Leben durch Internet und Digitalisierung bereits miteinander vernetzt, verbunden und verflochten sind. Eine radikale Abkehr scheint kaum mehr möglich – und nur unter der Prämisse, Verluste auch in der realen Welt zu erleiden bis hin zu einer totalen Handlungsunfähigkeit in dieser. Ein Dilemma? Der Roman lässt mich nachdenklich zurück.

Bewertung vom 02.09.2023
Die Lügnerin
Karig, Friedemann

Die Lügnerin


ausgezeichnet

Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht! Das gilt für die sich selbst als Clara bezeichnende Erzählerin des neuen Romans von Friedemann Karig nicht, denn sie hat die Lüge zur Perfektion erhoben. Und ihre Geschichten hat Clara so mit der Wahrheit verwoben, das sie sich von dieser kaum noch extrahieren lassen – weder von ihr selbst, noch vom Schicksal.
Denn alles, was Clara erzählt, wird wahr. Zumindest drängt sich ihr diese Befürchtung nach und nach auf, erschreckt sie und bringt ihre Welt ins Wanken – eine Welt, die bereits auf Lug und Betrug aufgebaut ist. Als Astrologin einer Telefonhotline vermag Clara es, die geheimsten Sehnsüchte, Ängste und Träume ihrer Kund*innen aufzuspüren und sie mit dem zu füttern, wonach sie gieren: die Hoffnung auf ein besseres Leben und eine Gerechtigkeit, die abschließend belohnt und bestraft.
Eingerichtet und geborgen in einem Kokon von Geschichten und Prophezeiungen geschieht es dann: Claras Vorhersagen treten ein! Immer wieder. Und auf eine schier unglaubliche Weise. Sie scheinen der Schlüssel zum Paradies zu sein, zu einem Geldsegen, der Sorgen vergessen lässt und Clara all die Türen öffnet, die ihr bisher verschlossen waren.
Diesen Garten der Möglichkeiten erkennt auch Siri, Claras ehemalige Kundin und nun goldschwer und steinreich. Gemeinsam machen sich sich auf, um das Schicksal zu verstehen und es zu ihrem Vorteil zu nutzen.
So glauben wir als Leser*innen zumindest – und so scheint es zu sein. Vermutlich. Vielleicht. Oder? Denn eine weitere Erzähleben bringt sowohl Verstehen als auch neue Zweifel, Spannung und einen weiteren Handlungsstrang. Denn wir erleben die Geschehnisse in einer Rückschau, vorgetragen einer Beraterin in einer teuren Privatklinik. Kann sie Licht ins Dunkel bringen und das Unerklärliche aufklären?
Friedemann Karigs „Die Lügnerin“ führt die Leser*innen auf Wege und Fährten, die zu Irrwegen werden und schließlich Verstehen, Erleuchtung und die große Täuschung nebeneinanderstellen. Die Schritte dahin sind ebenso geistreich wie unterhaltsam, voll Witz und mit zunehmender Spannung. Und ich müsste lügen, würde ich sagen, dass ich die Lektüre nicht sehr genossen habe.

Bewertung vom 19.08.2023
Cleopatra und Frankenstein
Mellors, Coco

Cleopatra und Frankenstein


ausgezeichnet

Don’t judge a book by its cover! Und so, wie man auch Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilen sollte, habe ich mir fest vorgenommen, dem intensiven Blick aus den grünen Augen auf dem Cover zu widerstehen. Und den Hype und die fulminanten Rezensionen beiseite zu wischen und mir mein eigenes Urteil über „Cleopatra und Frankenstein“ zu bilden.
Und den Weg dahin zu genießen.
Dies habe ich dann auch getan, Seite für Seite, Kapitel für Kapitel. Und bin dabei tief eingetaucht in die Geschichte um Cleo und Frank, die von einer klassischen Liebesgeschichte mit fortschreitender Handlung zunehmend entfernt zu sein scheint. Doch gibt es überhaupt die eine Geschichte über große Gefühle, Nähe, Für- und Miteinandersein?
Liebe ist es denn auch, was Cleo und Frank füreinander empfinden, und aus Liebe heiraten die beiden nach nur wenigen Monaten Beziehung. Wie auch aufgrund der Aufenthaltserlaubnis, die Cleo so dringend benötigt. Und genau hier scheint der Kern dessen zu liegen, was sich im Weiteren entwickelt: ein verspätetes Kennenlernen von sich als Paar und des*der jeweils anderen, der Prozess und Versuch, aus zwei einzelnen, gegensätzlichen Personen ein Gemeinsames zu schaffen. Und sich dabei selbst nicht zu verlieren.
Gerade Letzteres ist eine steile Klippe für Cleo, selbst noch auf der Suche nach der eigenen Identität und Ausdrucksformen für sich als Mensch und Künstlerin. Frank dagegen ist ihr auf dem Weg der Selbstfindung und -entwicklung bereits viele Jahre voraus, jedoch nicht weniger verletzt und gebrochen als Cleo es ist. Und ihr damit weder eine Stütze noch der starke Partner, der ihr in einer Sinn- und Schaffenskrise beizustehen vermag.
Hört sich nach Schwere und Traurigkeit an? Ist es – auch. Aber bei weitem nicht nur. Vielmehr ist die Geschichte ein wunderbares Lesevergnügen, nicht zuletzt aufgrund des Reichtums an schillernden Figuren in Cleos und Franks Umfeld. Und aufgrund des Schreibstils einer Autorin, die mit Witz, Originalität und Lebendigkeit eine Geschichte geschaffen hat, die mitreißt und begeistert. Und die einen Sog verursacht. Und eine Lawine losgetreten hat.

Bewertung vom 28.07.2023
Die einsame Stadt
Laing, Olivia

Die einsame Stadt


sehr gut

Was ist Einsamkeit? Olivia erfährt dies hautnah – am eigenen Leib und Psyche, als sie sich auf den Weg nach New York zu ihrem Freund macht. Und die Beziehung noch vor dem Start in ein gemeinsames Leben in die Brüche geht.
Was folgt, ist eine intensive Auseinandersetzung mit einem Gefühl, das viele von uns fürchten. Und doch so häufig durchleben und durchleiden. Im Zuge der Auf- und Verarbeitung begibt sich Olivia auf eine Spurensuche danach, wie New Yorker Künstler*innen ihre Stunden, Lebensabschnitte oder gar ihre gesamte Existenz in Einsamkeit verbracht haben. Und wie sich dieser Zustand auf ihr Schaffen und Werk ausgewirkt hat.
Die Biographien, die Laing vor diesem Hintergrund den Leser*innen ausrollt, sind nicht nur überaus interessant und ergiebig, sondern auch ein wilder Ritt durch die vergangenen Jahrzehnte der Kunstszene einer Stadt, die Quelle des Schaffens, Schöpfens, Gebärens ist. Und das in Teilen unter Qual und Schmerzen.
Und eben diese vermittelt Laing in eindringlicher und bedrückender Genauigkeit in ihrer Kontextualisierung: der Ausbruch der Aids-Pandemie, die hiermit einhergehende Stigmatisierung der Betroffenen und gesamter Bevölkerungsgruppen sowie das menschenverachtende Reden und Handeln der Regierung Reagans. Gelitten und gestorben wurde ausgegrenzt von der Gesellschaft, der Unmoral und der eigenen Schuldhaftigkeit bezichtigt, in Isolation, unter Schmerzen. In Einsamkeit.
Bereits im Jahre 2016 ist „The Lonely City“ erschienen und damit noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie. Die Möglichkeit, Aussagen bezüglich der Ausbreitung des HI-Virus, den hiermit verbundenen Ängsten, Ausgrenzungen, Quarantänen in einen aktuellen Kontext zu stellen und diesbezüglich in ihrer Gültigkeit und einem möglichen Nicht-Begreifen-Können zu überprüfen, bestand somit nicht. Umso mehr hätte ich mir gewünscht, dass vor den erschreckenden Erfahrungen der vergangenen Jahre der Text vor seinem Erscheinen im Deutschen redaktionelle Anmerkungen bzw. Überarbeitungen erfahren hätte.
Und doch: Ich bin sehr bereichert aus dieser für mich überraschenden und eher ungewöhnlichen Lektüre hervorgegangen. Denn wer sich einen fiktionalen Text erhofft, wird bei „Die einsame Stadt“ nicht fündig werden. Wer sich allerdings dem Leben und Schaffen der bedeutendsten bildenden Künstler*innen der Moderne öffnen und die Auseinandersetzung mit einem der wohl grundlegendsten Gefühle der Menschheit nicht scheuen möchte, sollte sich von Laing durch die Straßen und Schluchten New Yorks führen lassen.

Bewertung vom 18.07.2023
Die Einladung
Cline, Emma

Die Einladung


ausgezeichnet

Aberwitzig, todtraurig, dreist und schamlos – Alex‘ Leben gleicht einer Achterbahn. An Gefühlen. An Höhen und Tiefen. Und der Geschwindigkeit, mit der es von einem Extrem ins andere ausschlägt.
Was allerdings gleichbleibend ist: Alex will nie wieder arm sein. Nicht mittellos und auch nicht Mittelmaß. Alex will hoch hinaus. Luxus und das unbeschwerte Leben der oberen Zehntausend. Und das ganz schnell und ohne selbst einer müßigen Tätigkeit nachzugehen. Allerdings mit vollem Einsatz, denn Alex ist Geliebte, Freundin, Schmuckstück und Begleitung.
Mit dieser Strategie hat sie es an die Seite von Simon und zu einem Sommer in den Hamptons gebracht. Alles scheint perfekt, Alex am Ziel angekommen und bereit, dafür alles zu geben und sich selbst aufzugeben. Doch dann wendet sich das Blatt, und die Fallhöhe ist tief – ebenso wie die Verzweiflung und die geradezu absurde Hoffnung und der Plan, ihren vormaligen Platz wieder einzunehmen.
Was dann folgt, ist für den*die Leser*in eine wunderbare Unterhaltung, ein fesselndes Leseerlebnis und der Einblick in einer Welt, die für gewöhnliche Augen im Allgemeinen verschlossen ist. Für Alex selbst ist es jedoch die reine Verzweiflung und der Kampf gegen den Untergang, die sie von Tür zur Tür und von Zufallsbekanntschaft zu Verabredung treiben und sie dabei doch immer tiefer sinken lassen.
Und auch die Spur der Zerstörung, die sie bei ihrem Ringen um das Überleben auf der Sonnenseite hinterlässt, ist gewaltig. Die Taschen voll Gold sind es zwar nicht, die Alex in fremder Leute Häusern füllt, doch das eine oder andere Schmuckstück wechselt den*die Besitzer*in, und manchmal sind es auch die Herzen, die brechen.
Mein Herz hat Alex ebenso im Sturm erobert – auch wenn sie ihr tragikomischer Streifzug durch Betten und Leben in einem durchaus zweifelhaften Licht erscheinen lässt, der Kritik all derjenigen ausgesetzt, die persönlichen Stolz und Unabhängigkeit über das angenehme, wenn auch nicht sorgenfreie Leben einer Maitresse stellen. Und doch habe ich bei jedem ihrer Schritte mitgefiebert, ihr bei jedem neuen Auftakt Glück, Geld und Gelingen gewünscht und mir persönlich, dass dieses wunderbare Buch noch lange nicht endet.

Bewertung vom 15.07.2023
Das Summen. Die Ereignisse am Sequoia Crescent
Tannahill, Jordan

Das Summen. Die Ereignisse am Sequoia Crescent


ausgezeichnet

Ein Rätsel, Geheimnis, Mysterium – zu all dem entwickelt sich für Claire das Summen, das plötzlich in ihr Leben tritt. Sie verfolgt, belastet, verstört. Und es schließlich vermag, ihre gesamte Welt zu erschüttern und Gewohntes und Bekanntes in Frage zu stellen.
Denn das, was erst so einfach und unbedeutend daherkommt, entwickelt eine enorme Spreng- und Zerstörungskraft. Und diese reicht weit über Claires hinaus. Hinein in das Leben von Kyle, einem jungen Mann und Schüler Claires an das örtlichen Highschool, und weiterer Betroffener in der direkte Nachbarschaft. All dies nährt die Vermutung, dass es sich bei dem Summen um ein Phänomen unbekannten Ausmaßes handelt – und mit scheinbar nicht zu lokalisierender Ursache, wie Claire und Kyle bei ihren gemeinsamen Recherchen erfahren müssen.
Und was dann folgt, ist ebenfalls nicht vorhersehbar und alles andere als gewöhnlich. Denn das Summen setzt Prozesse und Kräfte in Gang, die sich in jeder Hinsicht der Kontrolle des*r jeweils einzelnen entziehen: sei es mit Blick auf das soziale Gefüge der Betroffenen selbst und ihres direkten Umfelds, sei es von scheinbar weltumspannender oder gar allumfassender Natur.
Und da sind sie dann – die Anklänge an Themen, die unsere Gesellschaften in vergleichbarer Form in den vergangenen Jahren geprägt und bewegt haben: gezielte Desinformation, Fakenews und Pseudowissenschaften, die gerade in Zeiten der Pandemie die Menschen zu spalten vermochten und in Teilen auf abtrünnige und gefährliche Pfade geführt haben. Die Auswirkungen spüren wir bis heute, vermutlich noch für lange Zeit, und sie vermögen weiterhin, Gemeinschaften zu destabilisieren.
Doch damit nicht genug: Auch die Geschlechterfrage findet sich in der Erzählung wieder, erhält einen ganz eigenen Exkurs und Bedeutung in der Entwicklung der Handlung. „Die entfesselte Weiblichkeit“ und die Furcht der patriarchalen Gesellschaft vor dieser treibt scheinbar nicht nur Claires soziale Isolation voran, sondern durchzieht die westliche Geschichte wie ein roter Faden – weit über die Gegenwart hinaus.
Auch das Leseerlebnis ist für mich nicht mit der letzten Zeile abgeschlossen, sonst klingt in mir nach, setzt sich in meinen Gedanken fort. Denn so überraschend das Summen in Claires Leben tritt, so hält auch der Roman so viel Unerwartetes und Wunderbares für mich bereit. Ist für mich eine wahre Überraschungsbox. Eine Reise ins Unbekannte. Und eine große Leseempfehlung.

Bewertung vom 25.06.2023
Wo du mich findest
Barns, Anne

Wo du mich findest


sehr gut

Rügen ist auch für Dich ein Sehnsuchtsort? Ein Platz zum Träumen, Ankommen und Lieben?
Dann geht es Dir womöglich wie Sophie. Sophie selbst ist in tiefer Trauer, ihr Leben liegt in Scherben. Denn die letzten Jahre haben ihr viel genommen: ihren Vater, ihre beste Freundin Tessa, und auch ihre Beziehung mit Thomas befindet sich in einer Sackgasse. Momente des Glücks und der Hoffnung versprechen einzig und allein die Nächte und ihre Träume mit einem an sich fremden Mann in der Hauptrolle, einer Zufallsbegegnung auf Rügen.
Die Sehnsucht nach dem Unbekannten es dann auch, die sie unvermittelt die Koffer packen und die Flucht aus ihrem bisherigen Leben, die Suche nach Glück und einer großen Liebe möglich werden lässt. Was sie erwartet? Vielmehr als Sophie je zu hoffen gewagt hätte! Denn gerade als Traum und Wirklichkeit sich zu vermischen drohen, kommt es zu Neuem und Überraschendem – und so vollkommen anders als Sophie es sich in ihren kühnsten Träumen hätte ausmalen können.
Was allerdings ganz sicher ist: Dieser Roman liest sich wie ein wunderbar entspannter Tag am Strand, wie ein Spaziergang mit Füßen im Meer und fühlt sich nicht nur im Reisegepäck sehr wohl. Zurück lässt uns die Geschichte mit einer tröstlichen Erkenntnis: „Die Liebe hat viele Gesichter.“ Und gemeinsam mit Sophie können wir zahlreiche von ihnen entdecken.

Bewertung vom 20.06.2023
Idol in Flammen
Usami, Rin

Idol in Flammen


sehr gut

Das Idol brennt! Und nicht nur das, auch Akaris Herz steht in Flammen. Und zwar ganz anders, als ich es kenne. Erahnt habe. Mir vorstellen konnte. Denn Akari ist ein Fan – mit jeder Faser ihres Herzens, ihrem gesamten Geist, Körper, jedem einzelnen Yen, den sie mühevoll verdient.
Und damit ist Akari nicht allein. Denn Masaki ist Mitglied einer Idolband, und um dem eigenen Star nahe zu sein, ist voller Einsatz gefragt – in einem System, das vor allem auf der finanziellen Ausbeutung seiner Anhänger*innen aufgebaut ist. Seien es Beliebtheitswahlen unter den Bandmitgliedern, deren Stimmabgabe von den Fans teuer erkauft ist, sei es ein ausgefeiltes Merchandising, das hohe Geldausgaben ermöglicht und einfordert – auch die japanische und die europäische Popkultur unterscheiden sich bei allen Gemeinsamkeiten.
Das dürfte wenig überraschen, doch erscheint aus dem europäischen und eurozentristischen Blick K-Pop in seinem Fandasein intensiver, extremer und womöglich auch gefährlich. Für Akari ist es dies zumindest, denn ihr eigenes Leben und Sozialleben sind kaum noch existent, werden von ihr selbst für den Support von Masaki zurückgestellt. Und als in Folge eines Skandals ihr Idol „in Flammen steht“, ist Akari bereit, ihr Letztes zu geben, um seine Beliebtheit zu retten.
Rin Usami gestattet uns einen Einblick in die Psyche eines jungen Menschen, der Halt und Orientierung verloren hat und sich an einen Popstar klammert, um Sinnhaftigkeit in der eigenen Existenz zu erfahren. So fremd und verstörend die Geschichte ist, so bedrückend und traurig wirkt sie auf mich. Und hat mich mit vielen Fragen und auch Neugier auf eine für mich wenig bekannte Kultur zurückgelassen. Ein wenig mehr Tiefe – das hätte ich mir an der einen oder anderen Stelle erhofft, doch dafür ermöglichen die 125 Seiten ein kompaktes, zentriertes Leseerlebnis. Kürzer als so manche Bühnenshow, länger als ein Skandal, der aufflackert und wieder erlischt.

Bewertung vom 12.06.2023
Der letzte Sessellift
Irving, John

Der letzte Sessellift


ausgezeichnet

Wenn die Vorfreude mindestens so groß ist, wie der Roman seitenschwer! Und wenn ich mich in wunderbarer Frühlingsluft in die kalte Winterlandschaft von Aspen wünsche – dann muss es ein ganz besonderer Autor sein.
John Irving ist dieser Autor für mich. „Witwe für ein Jahr“ gehört für mich zu den großen Romanen, die mich schon über so viele Jahre in Gedanken begleiten. Und den ich immer, immer wieder zur Hand nehme. Und was wären Literatur- und Filmgeschichte ohne „Gottes Werk und Teufels Beitrag“?! Leuchtend rote Äpfel erinnern mich stets an Homer und Dr. Larch.
Dementsprechend hoch und noch viel höher waren meine Erwartungen an „Der letzte Sessellift“. Und dann endlich die ersten Seiten – und die erste Verwirrung. So viele Namen, wo ist die Geschichte?
Doch dann habe ich sie gefunden oder der Roman vielleicht eher mich. Hat mich gepackt, festgehalten, nicht mehr losgelassen. Denn all das, was ich mir erhofft hatte, da war es! Figuren, so herzerwärmednd wie skurril in ihrer Zeichnung. Eine Handlung, gekonnt und vielschichtig konstruiert und für mich so unvorhersehbar in ihren Entwicklungen, Wendungen, der Metaphysik als durchgängigem Motiv. Und vor allem und ganz viel davon: Die Geschichte ist ein Statement, so politisch, ein Appell für Gleichheit, Gleichberechtigung, der Liebe zum Menschen, unabhängig von seinem Geschlecht, biologischen und sozialen Konstruktionen und Zuschreibungen.
Ich möchte nicht so weit gehen, ihn als eine Pflichtlektüre zu bezeichnen – für diejenigen, die es bisher nicht verstanden haben und eine Gesellschaft, die sich in einem steten Entwicklungsprozess befindet. Über 1.000 Seiten Handlung sind nicht für jede*n zugänglich. Und doch ist der Roman wichtig. Sehr sogar.
Doch vor allem ist er für mich eins: ein großes, reichhaltiges, so schönes Lesevergnügen! Ein Buch zum Entdecken, Erkennen, Darübernachdenken. Und eine Geschichte, die neue Erinnerungen an den für mich so besonderen Autor schafft. Nur das Skifahren, das ist nach wie vor nichts für mich. Lieber bleib ich doch in der warmen Frühlingsluft, mit einem seitenschweren Roman in der Hand.