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Juti
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Insgesamt 631 Bewertungen
Bewertung vom 31.12.2019
Morgen ist da
Kermani, Navid

Morgen ist da


ausgezeichnet

Gedanken eines grünen Intellektuellen

Meine Überschrift ist natürlich Interpretation. An keiner Stelle schreibt Kermani, dass er grün wählt, aber seine Gedanken passen sehr gut zu dieser Partei. Und er ist seiner Zeit voraus.

Das Buch enthält seine Reden, die er bis auf die letzte nicht frei gehalten hat, in chronologischer Folge, angefangen mit dem Lob des iranischen Schriftstellerverband, der im Land Reformen fordert, obwohl schon vor 20 Jahren gehalten.

Die nächste Rede spendet den Eltern eines toten ungeborenen Kindes Trost. Dann folgt eine Rede zur westlichen Leitkultur in der auch von Deutschland wünscht, dass es seinen Lehrerinnen erlaubt, Kopfttücher zu tragen. Im Vorwort schreibt er selbst, dass er dies hätte entfalten müssen. Sehr gut gefällt mir, wie er schildert, dass er in der Heimatstadt seiner Eltern Isfahan ein Haus kauft, um es vor den Abriss zu retten und nicht um möglichst viel Miete zu kassieren.
Im Dialog mit der islamischen Welt erklärt er, wie der Islam den Bezug zur Literatur verlor und fundamentalistischer wurde.

Schon bei der Wiedereröffnung des Burgtheater 2005 spricht er über die Migration von Afrika nach Europa. 2011 redet er bereits über die Krise der Europäischen Union.
Zur Eröffnung der Lessingtage wundert er sich, dass in einem aufgeklärten Land wie Deutschland die rechtsradikalen Terroranschläge des NSU so lange verborgen blieben. Zum Heinrich Kleist Preis redet er über die Liebe wegen Kleists Pethesilea.

Am meisten beeindruckt hat mich die Rede vor der Goethe-Gesellschaft, in der er darlegt, dass Atem holen eine religiöse Erfahrung ist. Dank seines Studiums der Islamwissenschaften, dank seiner Kenntnis verschiedener Religionen hat Kermani eine Fähigkeit, die viele Grünen nicht haben. Er kann sagen, warum unser Tun einen Sinn hat. Bezeichnend für sein Denken ist das, was er über Goethe sagt: „Wo andere aus der Religion eine Weltanschauung ableiten, leitet Goethe umgekehrt aus der Anschauung der Welt religiöse Grundsätze ab“ (137f). Bei den Talismane im Diwan zeigt Goethe sogar Koranwissen. Im folgenden Kapitel hält Kermani eine Laudatio über eine Islamwissenschaftlerin.

Dann redet er im Bundestag zum Verfassungstag und zitiert eine erstaunliche Umfrage: „Befragt, wann es Deutschland am besten ergangen sei, entschieden sich noch 1951 in einer repräsentativen Umfrage 45% der Deutschen für das Kaiserreich, 7% für die Weimarer Republik, 42% für die Zeit des Nationalsozialismus und nur 2% für die Bundesrepublik.“ (161)

Es folgt eine Rede über Kurzbiographien seiner Bekannten, dann eine Rede für die Terroropfer in Paris und beim Friedenspreis über eine syrischen Jesuitenpater, der Andersgläubige beschützte, bevor er selbst entführt wurde. Auch Rupert Neudeck war Kermanis Freund. Anschließend denkt er darüber nach, warum die Amerikaner Trump gewählt haben.

Mangels Platz kann ich nicht alle Reden erwähnen, das Judentum während der Nazi-Zeit ist nochmal Thema, die Feindesliebe, der Tod seines Vaters, Norbert Lammert und der Kreisauer Kreis, der 1.FC Köln, die Psychologie von Jung, wachsendem Populismus und zu guter letzt den Tod seines türkischen Buchhändler, der bei einer Bestellung häufig sagte: „ Morgen ist da!“


Selbst wenn mich nicht alle Reden gleichviel interessierten, so kann ich das Jahr 2019 mit gutem Gewissen mit der Bestnote abschließen, also 5 Sterne.

Bewertung vom 30.12.2019
Der Eispapst
Messner, Reinhold

Der Eispapst


weniger gut

Unzählige Wiederholungen

Wenn ich vom Autor Reinhold Messner höre, dann erwarte ich ein Buch über Bergsteigen, über das Klettern, das Suchen der Route, aufziehende Gewitter und Biwak im Fels.

Das gibt es auch in diesem Buch in zwei Kapiteln. Der Rest geht darüber, warum Welzenbach nicht 1932 zum Nanga Parbat reisen durfte und wie Bauer Welzenbach ausbootete. Nachdem schon geklärt wird, dass an der Katastrophe am Nanga Parbat niemand Schuld hatte, wird der Sachverhalt noch zwei weitere Male aufgerollt.

Der Autor hat in jungen Jahren bessere Bücher geschrieben. Das über 400 Seiten lange Buch kann problemlos auf 100 Seiten gekürzt werden. Deswegen nur 2 Sterne.

Bewertung vom 14.12.2019
Schutzzone
Bossong, Nora

Schutzzone


gut

Der goldene Käfig

Die Ich-Erzählerin Mira arbeitet für die UN in Genf. Sie will Frieden in Zypern vermitteln. Vorher hat sie in den 90er Jahren eine Friedensmission in Ruanda begleitet.

Petra Morsbachs hat in ihrem Roman "Justizpalast" vom Leben einer Richterin erzählt, auch mit ihren privaten Liebesgeschichten. Ihr ist es gelungen, Nora Bossong nicht.

Der Hauptgrund für das Scheitern dieses Buches liegt nicht an den Bandwurmsätzen, sondern an der Überforderung des Lesens. Wenn eine UN-Mitarbeiterin beruflich von einem Ort zum andern wechselt, dann wäre eine chronologische Handlungsabfolge unbedingt notwendig gewesen, was Wedma schon schreibt. UN-Geschichte, wie deren Gründung, das Scheitern des Völkerbunds außer bei den Aland-Inseln hätten in Rückblenden erzählt werden können.

Der Leser weiß gar nicht, wann Mira bei der UN anfing. Noch schwerer wiegt, dass die Liebesgeschichte mit Milan, oder sollte man besser von Beziehung reden, langweilt, was aber eben auch an der fehlenden Chronologie liegt. Und warum wird die wörtliche Rede nicht markiert?

Dennoch hat der Roman auch Stärken, etwa die Rolle der UN in Afrika, die Beschreibung eines Völkermords, der anfangs so nicht genannt werden darf.
Die UN-Mitarbeiter bezeichnen sich als Expats , weil sie „ex patria“ keine Heimat haben. Sie leben wie Flüchtlinge, sind aber deutlich reicher. Sie suchen im Privaten nach festen Beziehungen und leiden weit mehr, wenn die Beziehung zerbricht.

Besonders gefallen hat mir das Nilpferdspiel. Die Expats schreiben in ihren Berichten Dinge, die eigentlich nichts mit dem Geschehen zu tun haben und hoffen, dass dieses Nilpferd in möglichst vielen Ebenen nicht aus dem Bericht gestrichen wird. Ein schönes Beispiel hat mir leider gefehlt, wenn man von den Nilpferden beim Völkermord in Ruanda absieht.

Ich wollte ja nur 2 Sterne vergeben, da das Buch Seiten hat, die man raus reißen sollte. Aber angesichts der aufgezählten positiven Punkte und weil Weihnachten naht, gebe ich 3 Sterne.

Zitat: „Es sind nicht die Augen [..] oder die Seelen oder die Zugehörigkeiten, es ist der Krieg, der Mörder macht. (256)

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.12.2019
Als Deutschland noch nicht Deutschland war
Preisendörfer, Bruno

Als Deutschland noch nicht Deutschland war


sehr gut

Interessant wie Kermani, mühsam wie Kermani

Fleißig ist der Autor. Mit Hilfe der Literatur, gemeint ist keinesfalls nur der Geheimrat, reisen wir durch die Goethezeit. Er hat ein eigenes Genre erfunden. Beschrieben wird keine Person, sondern die Zeit. Von 1749 bis 1832 lebte er. Über 80 Jahre erleben wir wie die Zeit der Aufklärung das Leben veränderte.

Angefangen vom Reisen über die Häuser, die Kleidung, das Essen, ja nicht einmal die Bettgeschichten lässt er aus. Wer sich für den Alltag interessiert, der kommt um dieses Buch nicht herum.

Schön wäre aber, wenn der Autor weniger Listen zitieren würde. Überhaupt ist das Lesen mühsam. Die Sternchen mit den Verweisen zu anderen Kapiteln gefielen mir schon in der Lutherzeit nicht.

Dennoch gefiel mir dieses Buch besser und erhält folglich 4 Sterne.

Zitat: „Überhaupt sollte der Gatte im eigenen Haus seinen Mann stehen, statt in anderen Häusern bloß damit zu prahlen. Der öffentlich herumschäkernde Geck zittere, wenn „seine Gattin sich mit Zärtlichkeit im Bette zu ihm hinschmieget; der Angstschweiß bricht ihm aus, er zappelt wie ein Frosch, den man auf die Luftpumpe setzt; - wie dankt er dem Himmel, wenn er seine Frau wieder aufstehnen sieht! Sie hängt freilich den Kopf und seufzt!“ (381f)

Bewertung vom 04.12.2019
Klare, lichte Zukunft
Mason, Paul

Klare, lichte Zukunft


sehr gut

Das Ende des Neoliberalismus

Wie fast jedes Sachbuch enthält auch dieses Themen, die mich mehr oder weniger interessieren.
Gut gefällt mir die historische Entwicklung des kriselnden Neoliberalismus. Finanzkrise (als man noch dachte Komplexität schützt vor dem Zusammenbruch), Eurokrise, Brexit und die Wahl von Trump sind Vorboten eines neuen Zeitalters, dem Ende des Neoliberalismus. Begonnen hat er Ende der 70er mit der Wahl Thatchers und Reagans, er setzte sich fort dem Niedergang von Labour und Sozialdemokratie, und zeigt immer absurdere Auswüchse, beispielsweise die Realitätsverbiegung durch Trump und dem Wachstum rechter Parteien.

Der Autor formuliert 5 Thesen:
1. In der Wirtschaftspolitik geht es nicht mehr um den Menschen. (65)
2. Linke Anlternativen zum Neoliberalismus werden unweigerlich scheitern, weil die Finanzmärkte sie stets sabotieren werden. (66) Beispiel: Mitterrand in den 80ern.
3. Die Privatisierung ist gut für alle, selbst, wenn sie unsere Welt zerstört. (66)
4. Wirtschaftliche Unabhängigkeit ist unmöglich. (67) Beispiel: Mexico und IWF in den 80ern.
5. Selbst Länder, die sich zum Wohlfahrtsstaat bekennen, werden neoliberale Methoden anwenden müssen, um ihn zu verwirklichen. (68)

Der Fall des Ostblocks spielte der Wirtschaft in die Hände, weil der Ostblock nur 15% zum globalen Handeln beitrug, aber die Zahl der auszubeutenden Arbeitskräfte von 1,5 auf 3 Milliarden Menschen verdoppelte (71)

Erstmals gelesen habe ich von der Sinnkrise, die dieses System auslöste. 1996 veröffentlichte Mark Ravenhill das Theaterstück „Shopping and Fucking“ (77), was den Sinn des Neoliberalismus gut zusammenfasst, im Gegensatz zu früheren Zeiten, wo es mit der Religion, der Aufklärung und dem Sozialismus alternative Narrative gab.

Weniger gut gefällt mir, dass er sich sehr lang über rechte Ideen äußert und die Erbsünde nicht richtig verstanden hat.
Besser wird es wieder, wenn der Autor über die Moral einer denkenden Maschine nachdenkt und vier Möglichkeiten zur Wahl stellt: Nutzen, soziale Gerechtigkeit, Eigennutz oder Tugendethik. Mason bevorzugt die Tugend. (203)
Wieder zu lang erscheint mir das Kapitel über den Widerstand gegen den Humanismus. Auch der
Löwenmensch in der Steinzeit und die Nachteile von Marx, der die Frauenfrage und Ausbeutung des Planeten übersehen hat, sind nicht so spannend.

Angesichts des wirklichen Mehrwerts in den guten Kapitel kann ich dem Buch dennoch guten Gewissens 4 Sterne geben.

Bewertung vom 23.11.2019
Das Duell
Weidermann, Volker

Das Duell


sehr gut

Eine unscheidbare Ehe

„Das deutsche Scheidungsrecht [sehe] keine Trennung zwischen Autor und Kritiker“ vor, meinte Günter Grass (234). Und in der Tat ist es Grass, der unter den Verrissen von Reich-Ranicki leiden muss. Diesen Einwand muss ich gelten lassen, ein echtes Duell ist das nicht.

Anderes kann ich nicht nachvollziehen. Weidermann hat kein Buch für Germanisten geschrieben, sondern für Leser, die Grass und Reich-Ranicki kennen, aber kaum Bücher von Ihnen oder gar über sie gelesen haben.

Nach einem kurzen Prolog geht der Autor chronologisch vor und beschreibt die Kriegsbiografie der beiden Weichselkinder, der verfolgte Jude und der Schüler und überzeugte Nazi in der SS. Auch die Nachkriegszeit der beiden verläuft getrennt bis sie sich auf S.130 1958 in Warschau im Hotel Bristol erstmals treffen.

Ich will nicht jedes Buch von Grass kommentieren, erstaunlich ist aber die Reaktion von Reich-Ranicki auf die Verleihung des Nobelpreises 1999 an Grass: „Deutschland sei einfach dran gewesen mit dem Nobelpreis, sagt er, und nun solle man sich vorstellen Martin Walser wäre der Preis zugefallen: „Das wäre ein schwerer Schlag für mich. Oder gar dem dümmlichen Peter Handke! Eine Katastrophe!“ (275)

Man mag das Werk als Jugendbuch bezeichnen. Wer die Materie nicht kennt, liest es flüssig und gerne. Nur ein Inhaltsverzeichnis vermisse ich wie bei Weidermanns letztem Buch wieder. 4 Sterne


Zitat: Politik will aufklären, indem sie zu überzeugen versucht, während Literatur aufklärt, indem sie Zweifel betreibt. (Günter Grass S.212)

Bewertung vom 21.11.2019
Als ich jung war
Gstrein, Norbert

Als ich jung war


sehr gut

Psychoroman mit offenem Schluss

Vertrauen kannst du dem Ich-Erzähler Franz in diesem Buch nicht. Immer wieder kommen neuen Facetten ans Licht. Hat die Braut, die am Fuße des Schlossberg gefunden wurde, nun Selbstmord begangen oder war es Mord? In der Mordnacht war Franz noch unterwegs, doch wie in einem guten Tatort andere eben auch.
Zuzutrauen wäre es ihm schon, doch der Kommissar will ihn verhaften für das Küssen einer noch nicht 14jährigen, die sich selbst als 17jährige ausgab und mehrfach „nicht!“ gesagt hatte. War es wirklich nur küssen? War es nicht mehr?

Und dann noch die Geschichte in Amerika, wo sein Skischüler und Raketenprofessor sich ebenfalls umbrachte. Mit dem Verschwinden junger Mädchen hatte der Professor nichts zu tun, der Professor nicht. Nicht alles kann erzählt werden heißt es so oder so ähnlich mal im Buch, eben auch die Geschichte von Eileen, die drei Tage nach einem Wüstenausflug mit Franz verschwindet. Einfach so. Oder doch nicht?

So wie der Ich-Erzähler könnte auch ein Verbrecher denken, meinst du. Zu beweisen ist ihm nichts. Vielleicht hatte er auch nur Pech und war immer zur falschen Zeit am falschen Ort.

Die Kritiken sind sich nicht einig. Ich sage aber, Daumen hoch und selbst, wenn man nicht mit den Personen mitfiebern kann, weil sie nur blass dargestellt sind, so hat mich dieses Buch keinesfalls gelangweilt. 4 Sterne und Glückwunsch zum österreichischen Buchpreis.

Bewertung vom 15.11.2019
Schreiben für ewige Anfänger
Thalmayr, Andreas

Schreiben für ewige Anfänger


ausgezeichnet

Briefe für werdende Schriftsteller

Selbst schreiben zu wollen, ist mein Wunsch. Als ich von diesem Büchlein hörte, dachte ich, dass ich dort mal rein sehen sollte. Dass in Wahrheit Herr Enzensberger der Autor sein soll, habe erst auf buecher.de gelesen.

Ein Mentor eines Autor schreibt dieser Person 27 Briefe. Wir lernen nicht das Schreiben, wir hören, was passiert, wenn ein neuer Schriftsteller ein Buch veröffentlicht. Er wird plötzlich von allen möglichen Leuten angefragt, ob er nicht was Schreiben könnte.

Es geht ebenso um Verlage, das Buch solle auch in drei Jahren noch lieferbar sein. Ganz berühmte Autoren haben ihre Bücher anfangs in Eigenregie drucken lassen, der Copy-Shop um die Ecke würde es auch tun. Auch die Filmrechte werden nicht ausgespart.

Eigentlich müsste ich 5 Sterne vergeben, da ich keine Mängel finde, warne aber davor, dass es sich eher um einen kurzen Essay handelt und ein Nachmittag zum Lesen reicht, also gut 5 Sterne.

Bewertung vom 12.11.2019
HERKUNFT
Stanisic, Sasa

HERKUNFT


sehr gut

Seit vier Jahren lese ich neue deutsche Literatur. Seit vier Jahren lese ich das Buch des Preisträgers des Deutschen Buchpreises mit unterschiedlichen Erfahrungen. Das Buch von Preisträger Bodo Kirchhoff 2016 lässt sich mit einem Wort beschreiben: furchtbar. Der Preis 2017 an das Buch „Die Hauptstadt“ von Robert Menasse war vollkommen verdient. Letztes Jahr war das Buch „Gott der Barbaren“ von Stephan Thome deutlich besser als die rückwärts erzählte Familiengeschichte „Archipel“ der Preisträgerin.

Auch in diesem Jahr wurde eine Familiengeschichte ausgezeichnet. Der Autor beschreibt die Herkunft seiner Familie aus Visegrad in Bosnien. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Autobiografie, er würdigt auch das Leben seiner im letzten Jahr verstorbenen, demenzkranken Großmutter.

In Bosnien steht er auf dem Friedhof mit den Gräbern der Familie seines Vaters. Seine Mutter ist Muslimin und musste Bosnien während des Krieges in den 90ern verlassen. Sie kam mit ihrem Sohn 1992 erst in ein Aufnahmelager zwischen Wiesloch und Waldorf, dann in den Emmertsgrund nach Heidelberg, der Vater folgt später.
Für den Autor selbst spielt Religion keine Rolle, er fühlt sich als Jugoslawe und leidet am Untergang seines Heimatstaates.

Des Autors große Stärke liegt im Schreiben kleiner Sätze, die große Wirkung haben. So weist ein serbischer Polizist mit der Frage „Wie spät ist es?“ die Mutter daraufhin, dass es für sie Zeit wird ihre Heimatstadt zu verlassen.
In Heidelberg trifft sich der Jugendliche mit seinen Freunden an einer Aral-Tankstelle. Vielleicht aus Lokalpatriotismus gefällt mir dieser Teil am besten. Jedes Kapitel lässt sich auch als Kurzgeschichte lesen. Zweimal musste ich laut lachen, was sonst nur Joachim Meyerhoff schafft.
So erzählt er von seinen Freund Martek von der Aral: „Martek war in Deutschland geboren und hatte vor mit achtzehn eine Reise zu den Geburtshäusern seiner Eltern nach Katowice zu machen. Er flog dann aber nach Korfu.“ (157), das andere Mal flüchtet Ines vor einem Kontrolleur (198f).


Mir gefiel der bosnische Teil weniger gut. Hier wurde zu viel getanzt und die Demenzgeschichten wiederholen sich ein wenig, deswegen ziehe ich einen Stern ab.

Gelungen fand ich den Schluss. Der Leser darf selbst wählen, wie es weiter geht und darf sich dann auch nicht beschweren, wenn er sich mit der Großmutter auf Drachenjagd begibt. Er hätte auch einen anderen Pfad wählen können.

Ein Buch, dass mich nach etwas mühsamen bosnischen Beginn später gefesselt hat. 4 Sterne. Da ich bisher keine anderen Bücher der Shortlist gelesen habe, kann ich noch nicht sagen, wie berechtigt der Preis ist. Mein erster Eindruck: verdient.

4 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.