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Raumzeitreisender
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 739 Bewertungen
Bewertung vom 16.10.2016
Verletzt, verkorkst, verheizt
Bartens, Werner

Verletzt, verkorkst, verheizt


sehr gut

Sport und seine Nebenwirkungen

Sport dient der Gesundheit, heißt es allgemein. Dem steht entgegen, dass pro Jahr alleine in Deutschland 1,5 Millionen Sportunfälle registriert werden. (9) Wie passt das zusammen? Autor Werner Bartens, Arzt, Journalist und Hobbysportler, analysiert den Freizeit- und Wettkampfsport aus dem Blickwinkel der Gesundheit. Diese sollte im eigenen Interesse und im Interesse der Gesellschaft höchste Priorität haben.

Die Ursachen für Sportverletzungen und langfristige Gesundheitsschädigungen sind vielfältig. Hierzu gehören veraltete Trainingsmethoden, unwissende Trainer, übertriebener Ehrgeiz, ungesunde Ernährung bis hin zum Doping, falsche Vorbilder und fehlendes Fairplay. Sport dient vielfach nicht der Entspannung, sondern das Leistungsdenken der Berufswelt wird auf den Sport übertragen.

Der Autor beschreibt Fehler, die bereits beim Kinder- und Jugendsport gemacht werden. Da geht es um aus medizinischer Sicht zweifelhafte Übungen, fehlende Aufwärm- und Entspannungsphasen, rücksichtslose Eltern und unethische Verhaltensweisen. Wenn Fouls bereits in jungen Jahren trainiert und akzeptiert werden, läuft etwas schief. Die Selektion im Sport führt dazu, dass faires Verhalten auf der Strecke bleibt.

Auf der anderen Seite muss gefragt werden, wo es denn Fairplay gibt? Schule, Berufsleben, Politik, Medien und Internet sind eben keine Horte, wo Fairplay vorgelebt oder hinreichend gewürdigt wird. Unsere Welt ist von Gewinn- und Erfolgsmaximierung geprägt. Wer betrügt, gilt als listig. Fairplay gibt es am ehesten im engeren Freundes- und Familienkreis, und manchmal nicht einmal dort.

Was ist mit der Verantwortung unserer Medien? Der Autor ist Journalist. Insofern hätte er viel mehr über die Rolle der Medien beim Sport schreiben können. Ist es nicht unsere Presse, die Sportler massiv durch den Kakau zieht, wenn diese ihre erwarteten Leistungen mal nicht bringen?

Neben dieser Kritik muss positiv erwähnt werden, dass der Autor einige Vorschläge macht, wie Dinge verändert werden und Spaß und Augenmaß in den Fokus gerückt werden können. Insofern ist sein Buch keine Abrechnung mit dem Sport, sondern eher eine konstruktive Kritik am Sportgeschehen. Letztlich gilt auch für den Sport das alte Sprichwort: "Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus." Damit wird Fairplay nicht erzwungen, aber wahrscheinlicher.

Bewertung vom 10.10.2016
Wir Kassettenkinder
Bonner, Stefan;Weiss, Anne

Wir Kassettenkinder


sehr gut

Ära ohne Internet

Die Liste der verstorbenen Helden zu Beginn des Buches macht nachdenklich und konfrontiert die Leser mit der Vergänglichkeit des Lebens. (5) Bei dem Buch handelt es sich aber nicht um eine wehmütige Hommage auf die 1980er Jahre. Es ist eher der Idealismus der 1980er Jahre, der wiederbelebt wird und der in den Ausführungen zu Peter Lustig prägnant zum Ausdruck kommt: "Was wir von ihm lernen können, ist, neugierig zu bleiben, den Dingen spielerisch auf den Grund zu gehen – und vor allem: sich eine gute Portion Humor zu bewahren." (270)

Das Buch gliedert sich in vier Kapitel, in denen unterschiedliche Facetten der 1980er Jahre in Erinnerung gebracht werden. Bei den Erzählungen handelt es sich zu einem großen Teil um Erfahrungen der Autoren selbst, die in der Ich-Form oder genauer gesagt in der Wir-Form, auf verständliche Art und Weise aufbereitet wurden. Auffallend ist, dem Titel nach aber auch zu erwarten, dass Kassetten in den Fokus rücken. Dabei waren Kassetten bereits in den 1970er Jahren ein beliebtes Medium, um Lieblingssongs aufzunehmen. Und das geschah bereits in den 1970er Jahren über ein Verbindungskabel und nicht über das Mikrofon.

Das Buch bietet eine bunte Mischung aus Musik, Filmen, Fernsehsendungen, Werbung, Spielen, Magazinen, Essgewohnheiten, politischen Ereignissen und Affären der 1980er Jahre. Dazu gehören auch Volkszählung, Aids, Ozonloch und die Öffnung der Mauer sowie Ausflüge in den Schulalltag und in das Freizeitverhalten. Auffallend sind die fehlenden Sicherheitsstandards gegenüber der heutigen Zeit. Kinder wurden zwar schon "von einem gut organisierten Netz aus Mama-Taxis flächendeckend zu Musikschulen, Ballettklassen oder Sportvereinen gekarrt" (76), jedoch befanden sie sich noch nicht in einem Kokon wie unsere heutigen Kinder.

Die Besonderheiten der 1980er Jahre werden anschaulich vermittelt. Wer diese Zeit erlebt hat, wird vieles wiedererkennen, wer die Zeit nur vom Hörensagen kennt, bekommt einen guten Überblick. Dennoch sind einem Sachbuch bei der Behandlung eines solchen Themas Grenzen gesetzt. Es überwiegen die rationalen Beschreibungen. Das Lebensgefühl lässt sich prägnanter in einem Roman verarbeiten, selbst wenn dabei auf manches Detailwissen verzichtet wird.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.10.2016
Ich und die Menschen
Haig, Matt

Ich und die Menschen


gut

Mensch werden, Mensch sein

Im Vorwort bringt Autor Matt Haig auf den Punkt, worum es in dem Buch geht: „Es handelt vom Sinn des Lebens … davon, was passieren muss, damit man auf die Ewigkeit verzichtet und sich der Sterblichkeit überlässt.“ (11) Damit wird die Messlatte sehr hoch gelegt. Die Leser erwarten einen anspruchsvollen tiefsinnigen Roman. Im Nachwort wird deutlich, dass die Geschichte auf einer symbolischen Ebene sehr persönlich ist. (350)

Ein Vonnadorianer materialisiert auf der Erde in Gestalt von Andrew Martin, einem Professor für Mathematik, um den technischen Fortschritt auszubremsen. Die erste Untat der Außerirdischen besteht darin, den echten Andrew Martin zu beseitigen, der die „Riemannsche Vermutung“ bewiesen hat und damit den Weg bereiten kann für technische Entwicklungen, für die die Menschheit aus Sicht der Vonnadorianer nicht reif genug ist.

Riemann hat die Eigenschaften der sogenannten Zeta- Funktion, einer komplexwertigen Funktion, untersucht und einen Zusammenhang mit den Primzahlen und damit zwischen Analysis und Arithmetik erkannt. Es gibt eine Beziehung zwischen der Anzahl der Primzahlen und den Nullstellen der Zeta- Funktion. Riemann vermutete, dass alle nichttrivialen Nullstellen dieser Funktion auf einer Geraden liegen. Der Beweis dieser „Riemannschen Vermutung“ wird als Heiliger Gral der Mathematik bezeichnet. [1]

Inwiefern dieser mathematische Beweis den Fortschritt beflügeln soll, wird nicht erläutert und bleibt damit der Fantasie der Leser überlassen. Sind es nicht eher die Fortschritte in Physik, Chemie und Biologie, die die Menschen technisch weiterbringen? Jedenfalls wurde die Infinitesimalrechnung bereits eingesetzt, als die logischen Fundamente noch nicht abschließend geklärt waren. Denn sie funktionierte trotz dieser Schwächen. [2]

Die Außerirdischen haben trotz ihrer hohen Intelligenz Vorurteile über die Menschheit. „Ich hatte außerdem gehört, dass die Menschen eine Lebensform von bestenfalls mittelmäßiger Intelligenz waren, die zu Gewalttätigkeit, sexueller Schamhaftigkeit und schlechter Lyrik neigten und die Angewohnheit hatten, sich ständig im Kreis zu bewegen.“ (32) Wo bleibt da die Weisheit? Wechselt man die Perspektive, so erscheinen die Vonnadorianer (aus Sicht der Menschen) als gefühllose Logiker, die vor Mord nicht zurückschrecken.

Im Kern geht es in dem Buch darum, Vorurteile aufzuarbeiten. Das geschieht dadurch, dass der Vonnadorianer im Zuge seines Aufenthalts auf der Erde seine Perspektive wechselt. Im Körper eines Menschen und in Gesellschaft von Menschen entwickelt er sich hin zum Menschen. „Ich war einer von Ihnen geworden. Gefangen in der menschlichen Gestalt, unfähig, dem unausweichlichen Schicksal, das sie erwartete, zu entrinnen.“ (122) Seine Argumentation „... wenn man etwas retten will, muss man manchmal einen kleinen Teil davon töten“ (135), wird im Zuge der Entwicklung ad absurdum geführt.

Das Buch ist lehrreich und phasenweise auch humorvoll. Lehrreich ist der Entwicklungsprozess des neuen Andrew Martin und das Zusammenspiel mit „seiner“ Familie. Humorvoll ist insbesondere der Einstieg in die Handlungen bis Andrew Martin in der Psychiatrie landet. Die „97 Ratschläge für einen Menschen“ (324) wirken aufgesetzt und belehrend. Sollten diese sich nicht aus den Handlungen selbst ergeben und nur in den Köpfen der Leser entstehen?

Trotz der Kritik habe ich das Buch gern gelesen, weil es mich neugierig gemacht hat. Es ist eine Hommage auf das menschliche Leben mit all seinen Schwächen. Wir sind keine Vonnadorianer, und das ist auch gut so. Ich glaube der im Nachwort angedeutete Selbstbezug des Autors kommt insbesondere im Entwicklungsprozess von Andrew Martin zum Ausdruck.

[1] Marcus du Sautoy: „Die Musik der Primzahlen“
[2] Ian Stewart: „Weltformeln“

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.09.2016
Sync
Strogatz, Steven H

Sync


sehr gut

Vom rätselhaften Rhythmus der Natur

Seit längerer Zeit beobachten Forscher die Existenz spontaner Ordnung im Universum. Nach den Gesetzen der Thermodynamik wäre das Gegenteil zu erwarten, unausweichlich müsste die Natur in einen Zustand größerer Unordnung (Entropie) entarten. Dennoch sind wir von geordneten Strukturen umgeben. Dieses Rätsel beschäftigt die Naturwissenschaften. Wie entsteht Ordnung?

Es gibt Ordnung im Raum (z.B. Aufbau von Eiskristallen) und auch Ordnung in der Zeit (z.B. Verhalten eines Fischschwarms). Die Ordnung in der Zeit wird Synchronismus genannt. Bei dieser Ordnung kann man bewusste Ordnung (z.B. eine Ballettvorführung) von unbewusster Ordnung (z.B. Aufbau von Zellen) unterscheiden. Bei bewusster Ordnung unterstellen wir Planung und Intelligenz. Wie kann unbewusste Ordnung erklärt werden?

Steven Strogatz erläutert im ersten Teil seines Buches Synchronismus in der belebten und im zweiten Teil in der unbelebten Natur. Im dritten Teil berichtet er über aktuelle Forschungen zum Thema.

Schon vor fast hundert Jahren wunderten sich Forscher über das synchrone Blinken von riesigen Versammlungen von Glühwürmchen. Viele Erklärungen wurden diskutiert, bis das Geheimnis entdeckt wurde: Die Glühwürmchen organisieren sich selbst. Das flächendeckende gemeinsame Leuchten entsteht durch wechselseitige Signalgebung. Jedes Glühwürmchen verfügt über einen Oszillator, dessen Zeittakt sich automatisch an das Blinken der Artgenossen anpasst.

Das Synchronisationsbestreben ist eine weltweit verbreitete Tendenz, erkennbar nicht nur bei Atomen oder Planeten, sondern auch bei Tieren und Menschen. Es gibt auch Negativbeispiele: Bei der Epilepsie feuern Millionen von Hirnzellen im Gleichschritt, was zu rhythmischen Krämpfen führt.

Nachdenklich stimmt das Beispiel mit den sich gegenseitig synchronisierenden Pendeluhren. Hatten die Forscher einmal erkannt, wie der Gleichklang der Uhren aus den Gesetzen der Mathematik und Physik erwächst, wurden die Erkenntnisse in der Technik genutzt.

Strogatz liefert naturwissenschaftliche Erklärungen – soweit das heute möglich ist - für ein rätselhaftes Phänomen. Die Ausführungen sind unterhaltsam und machen neugierig. Es handelt sich um eine populärwissenschaftliche Aufbereitung universeller Gesetzmäßigkeiten.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.09.2016
Die Emanzipation - ein Irrtum! (eBook, ePUB)
Mersch, Peter

Die Emanzipation - ein Irrtum! (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Neukonzeption der Gleichberechtigung

Peter Mersch beschreibt die Auswirkungen der Angleichung der Geschlechter auf die Gesellschaft und greift dabei auf die Evolutionstheorie zurück. „Einige Anthropologen sind der Ansicht, die spezifische menschliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern habe einen entscheidenden evolutionären Vorteil dargestellt, da es dem Homo Sapiens auf diese Weise gelungen ist, mehr Nachwuchs durchzubringen.“ (23/24)

„In patriarchalischen Gesellschaften besteht ein positiver Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Erfolg und der Zahl an Nachkommen.“ (32) In modernen Gesellschaften mit Gleichberechtigung ist das umgekehrt. Mersch analysiert, warum das so ist und schlägt vor, dass die Strategie geändert werden muss. Dazu gehört, die Nachwuchsarbeit als gesellschaftliche Kollektivaufgabe zu verstehen. Auch ist es erforderlich, reproduktive und produktive Aufgaben gleichzustellen.

Mersch liefert anschauliche Beispiele für seine Thesen. Er stellt das gesellschaftliche Weltbild der letzten Jahrzehnte infrage. Seine Ausführungen wirken erfrischend und verständlich. Selten findet man in Büchern ein so umfangreiches Literaturverzeichnis, was deutlich macht, dass sich der Autor intensiv mit der Materie vertraut gemacht hat. Das Buch ist empfehlenswert, weil Thesen aufbereitet und fundiert begründet werden, die gegenläufig zum Mainstream sind.

Bewertung vom 07.09.2016
Die Vermessung der Welt
Kehlmann, Daniel

Die Vermessung der Welt


ausgezeichnet

Forschung im Spannungsfeld von Abenteuer und Normalverteilung

Der Roman handelt von den Lebensgeschichten zweier bemerkenswerter deutscher Persönlichkeiten, die auf völlig unterschiedlichen Wegen wissenschaftlich tätig waren und der Menschheit großartige Werke hinterlassen haben. Der eine ist der Mathematiker, Geodät und Astronom Carl Friedrich Gauß und der andere der Abenteurer, Naturforscher und Universalgelehrte Alexander von Humboldt. Beide wurden im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, geboren und waren in ihrem rationalen Denken Kinder dieser Zeit.

Daniel Kehlmann beschreibt besondere Stationen im Leben von Gauß und von Humboldt. Reale Ereignisse sowie bedeutende Werke dieser beiden außergewöhnlichen Wissenschaftler fließen ein. Die schriftstellerische Freiheit beginnt bei ihrer Charakterisierung und ihrem persönlichen Umgang mit Erfolg. Kehlmann überzeichnet ihre Charaktere auf humorvolle, manchmal groteske Weise und lässt die Protagonisten mit ihren verschiedenen Weltbildern und ihrer unterschiedlichen Art der Forschung aneinander geraten. Seine Figuren wirken exzentrisch. Kehlmann suggeriert der Leserschaft, dass extreme Leistungen nur vollbringen kann, wer auch einen extremen Charakter besitzt.

Der Autor versteht es, imposante Leistungen der Protagonisten geschickt in den Handlungsablauf einzuflechten. Wenngleich die beschrieben Werke keine Fantasieprodukte sind, werden manche Ideen instrumentalisiert, in dem ihnen eine Bedeutung beigemessen wird, die sie aus historischer Sicht nicht haben konnten. So hat Gauß zweifelsohne die nichteuklidische Geometrie entdeckt, konnte hierin aber kaum mehr als ein alternatives mathematisches Modell sehen. Ein physikalisches Modell eines gekrümmten Raumes, in dem diese Geometrie zur Anwendung kommt, taucht erst viele Jahre später in Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie auf.

Die Kontroversen zwischen Gauß und von Humboldt sind, ebenso wie die sonstigen Gespräche im Roman, nicht sonderlich tiefgehend. Wer Diskussionen erwartet, die auch nur im Ansatz denen zwischen Settembrini und Naphta in Thomas Manns „Der Zauberberg“ gleichen, wird enttäuscht. Es geht Kehlmann offensichtlich nicht so sehr um den Inhalt der Dialoge, sondern um deren Stil und um die Menschen, die sie führen. Die Auseinandersetzungen sind humorvoll und haben einen hohen Unterhaltungswert. Kehlmanns Stärke sind pointierte Dialoge, in denen sich nicht nur Witz und Intelligenz offenbaren, sondern insbesondere die (immanenten) Schattenseiten der Genialität deutlich werden.

Das Buch kann ich sehr empfehlen, auch wenn ich darin nicht, wie im Klappentext beschrieben, einen philosophischen Abenteuerroman sehe. Es ist eher eine Satire. Der Roman handelt von der Vermessenheit zu glauben, die Welt durch Gitternetze, Zahlen und statistische Ergebnisse erfassen zu können. Es handelt sich aber auch um einen psychologischen Roman über das Leben und die Grenzen genialer Menschen – eine Gratwanderung zwischen Ruhm und Lächerlichkeit.

Bewertung vom 06.09.2016
Sehen lassen
Wiesing, Lambert

Sehen lassen


sehr gut

Ein Buch über die Praxis des Zeigens

Innerhalb der Zeige-Forschung haben sich zwei Strömungen herauskristallisiert und zwar die evolutionäre und die phänomenologische Beschreibung des Zeigens. Im ersteren Sinne ist Zeigen etwas Ursprüngliches, ein erster Schritt auf dem evolutionären Weg zur Sprache. Die zweite Form der Beschreibung widerspricht dieser nicht und kann als deren Ergänzung angesehen werden. Danach hat sich das Zeigen als eigenständige Dimension des menschlichen Handelns (weiter)entwickelt, welche nicht auf Sprache reduziert wird, sondern neben anderen Bewusstseinsleistungen existiert.

Autor Lambert Wiesing setzt sich mit der Frage auseinander, „wer“ etwas zeigt, wenn davon die Rede ist, dass ein Bild etwas zeigt. Da „Zeigen“ eine Handlung ist, muss ein Subjekt vorausgesetzt werden, welches etwas zeigt. Das Subjekt entscheidet darüber, was das Bild zeigen soll. „Das Bild zeigt Paris“ heißt genau genommen „Jemand zeigt jemandem mit dem Bild Paris“.

Aber ganz so einfach liegen die Dinge nicht. Einerseits gilt als richtig, dass man mit Bildern die realen, sichtbaren Dinge dieser Welt zeigen kann, andererseits ist der Hinweis ebenso überzeugend, dass der Betrachter durch ein Bild keineswegs den realen Gegenstand selbst zu sehen bekommt. Damit stößt man auf eine zentrale Frage der philosophischen Bildtheorie, mit der sich Wiesing im zweiten Teil des Buches beschäftigt..

Der Autor erklärt die Positionen der Illusionstheorie, der Phänomenologie und der neuen Bildmythologie. Bilder und Illusionen haben gemeinsam, dass für den Betrachter etwas sichtbar wird, was im physischen Sinne nicht real gegenwärtig ist. „Für Günther Anders zeigt ein Bild nicht etwas Reales, das nicht-anwesend ist, sondern das Bild zeigt etwas Nicht-Reales, das anwesend ist.“ (69)

Im Zuge der Erläuterungen zur neuen Bildmythologie macht Wiesing auf ein Kategorieproblem aufmerksam. Die Aussage „Ein Bild zeigt das und das“ ist genauso falsch wie die Aussage „Das Gehirn denkt das und das“. (80) In beiden Fällen wird ein physisches Ding vermenschlicht, um einen geistigen Vorgang zu beschreiben.

Wiesing liefert sechs Beschreibungen für das Zeigen. Angefangen mit der pragmatischen Interpretation, wonach das Bild nicht nur, aber auch ein Werkzeug zum Zeigen ist, führt sein Weg zur für alle Kulturen bedeutenden Zentralperspektive.

In einer Zeitschrift werden Bilder in einem eindeutigen Verwendungszusammenhang gezeigt, im Museum ist die Situation eine andere. Das Museum konfrontiert den Besucher mit Bildern, weil sie Bilder sind. Das Bild selbst ist das Objekt der musealen Zeige-Handlung. „Kunstausstellungen zeigen nicht zeigende Bilder, sondern sie zeigen die Möglichkeiten, wie Bilder zeigen können.“ (191)

Wiesing beschäftigt sich mit kausalen Zusammenhängen zwischen Bild und Gegenstand. „Wer mit etwas etwas in der Welt zeigen möchte, muss entweder eine Spur von diesem Etwas zum Zeigen verwenden oder etwas so zum Zeigen verwenden, als wäre es eine Spur.“ (215) Mit „Spur“ ist im weitesten Sinne ein kausaler Zusammenhang gemeint.

„Sehen lassen“ ist ein interdisziplinäres Fachbuch, in dem ein sehr spezielles Thema differenziert analysiert wird. Lambert Wiesing widerspricht darin dem Mythos, Bilder würden allein deshalb etwas zeigen, weil auf ihnen etwas sichtbar ist. Inhaltlich führen die Darstellungen aus unterschiedlichen Perspektiven zu thematischen Überschneidungen. Dem Leser geht es so, wie dem Autor, bevor er sich mit der Thematik beschäftigt hatte: „Der Begriff erschien mir – heute möchte ich sagen: zu lange – unproblematisch und selbstverständlich.“ (7) Ich hätte mir am Ende der Kapitel kurze Zusammenfassungen mit den wesentlichen Aussagen gewünscht.

Bewertung vom 05.09.2016
Geh@ckt (eBook, ePUB)
George, Michael

Geh@ckt (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Blackout - Gefahren aus dem Netz

Dass im Internet Gefahren lauern, ist mittlerweile eine Binsenweisheit. Gefälschte Rechnungen, unberechtigte Abmahnungen, gestohlene Identitäten u.v.a.m. sprechen eine deutliche Sprache. Nicht zuletzt durch die NSA- Affäre ist jedem Bürger klar geworden, dass sämtliche digitale Kommunikation überwacht wird und dass das persönliche Profil ein offenes Buch ist.

Computer und Internet haben sich in einem solch rasanten Tempo entwickelt, dass für Sicherheitsfragen keine Zeit mehr blieb. „Facebook, Twitter und E-Mails zu verbieten ist eine ebenso gute wie sinnvolle Empfehlung wie die, das Atmen einzustellen, weil die Luft verschmutzt sein könnte.“ (10) Autor Michael George bringt das Dilemma auf den Punkt.

Die Vernetzung elektronischer Steuerungstechnik von Versorgungseinrichtungen mit dem Internet führt zu einer Potenzierung der Gefahren. Was passieren könnte, wenn Hacker das Stromnetz lahmlegen, hat jüngst Marc Elsberg in seinem Roman „Blackout“ beschrieben. Wir würden im Chaos versinken.

In manchen Unternehmen sind gewachsene Systeme in ihren Abhängigkeiten nicht mehr vollständig zu durchschauen. „Wir können das betroffene System nicht vom Netz nehmen, weil wir nicht wissen, welche Auswirkungen das auf unser Gesamtnetz hätte. Es ist zu komplex.“ (46)

Michael George unterscheidet zwischen Angriffen von einzelnen Personen, Gruppierungen und von staatlichen Stellen. Deutsche staatliche Stellen betreiben lt. George keine Wirtschaftsspionage. (80) George erklärt die Unterschiede zwischen Nachrichtendiensten und Geheimdiensten. Erstere unterliegen einer Kontrolle.

Die Veröffentlichungen von Snowden haben die Tätigkeiten der Geheimdienste in den Fokus gerückt. George macht deutlich, dass Terrorabwehr kein vorgeschobener Grund für Wirtschaftsspionage sein darf. Auch dürfen Daten nicht willkürlich abgehört werden. Aber wer kontrolliert das?

Warum ist die Abwehr von Hackerangriffen so schwierig? George geht ausführlich auf diese Problematik ein. Erstens sind viele Systeme zu komplex, zweitens erhält Sicherheit auch aus Kostengründen nicht die Priorität, die ihr zustehen müsste, drittens spielt der Faktor Zeit eine große Rolle und viertens berichten Unternehmen nur selten über Angriffe, um ihrem Image nicht zu schaden.

George gibt Tipps für private Nutzer und für Firmen im Umgang mit Sicherheit. So sollten z.B. die 5% besonders wichtigen Firmendaten besonders gesichert und einzelne Netze wenn möglich getrennt werden. IT-Sicherheit muss als Unternehmensziel definiert werden. Für private Nutzer gibt es neben den Mainstream-Produkten zahlreiche Alternativen.

In „Die Numerati“ thematisiert Stephen Baker, wie Datenhaie Profile auswerten und den Menschen quasi digital nachbilden. Ein Beispiel für die digitale Datensammelwut liefert auch Gerald Reischl in „Die Google Falle“. Diese Szenarien sind wirtschaftlich motiviert und zumindest nicht lebensgefährlich. Was Michael George aufzeigt geht einen Schritt weiter. Er beschreibt die Folgen von Angriffen auf unsere Infrastruktur - aber auch Möglichkeiten der Gefahrenabwehr.

Hinsichtlich der Struktur des Werkes sehe ich Möglichkeiten zur Verbesserung, denn die Kapitel wirken beliebig aneinandergereiht. Das Buch richtet sich nicht an IT-Experten, sondern an Interessierte, die sich einen allgemeinen Überblick über das Thema Datensicherheit verschaffen wollen. Diese werden sensibilisiert, sich mit dem Thema intensiver zu beschäftigen.

Bewertung vom 04.09.2016
Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit
Searle, John R.

Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit


sehr gut

Konstruktion einer objektiven gesellschaftlichen Wirklichkeit

John R. Searle, Professor für Philosophie an der University of California in Berkeley, beschäftigt sich mit Grundlagen der Sozialwissenschaften aus philosophischer Sicht. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Feststellung, dass einerseits die reale Welt so funktioniert, wie sie von den Naturwissenschaften beschrieben wird, es andererseits aber geistige bzw. gesellschaftliche Wirklichkeiten gibt, die nicht naturwissenschaftlich erklärbar sind. „Wie passt eine geistige Wirklichkeit, eine Welt des Bewusstseins, der Intentionalität und anderer geistiger Phänomene in eine Welt, die vollkommen aus physischen Teilchen in Kraftfeldern besteht?“ (7)

Das Buch lässt sich, unabhängig von den Kapiteln, in vier Teile gliedern. Im ersten Teil geht es um die Frage, wie eine objektive gesellschaftliche Wirklichkeit konstruiert wird. Searle entwickelt eine allgemeine Theorie der Ontologie gesellschaftlicher Tatsachen und gesellschaftlicher Institutionen. Der Sprache kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Die Struktur menschlicher Institutionen ist eine Struktur konstitutiver Regeln. Kurioserweise sind uns diese Regeln nicht bewusst. Folgen wir den Regeln unbewusst? Die Antwort ist kompliziert, wie Searle im zweiten Teil des Buches deutlich macht, sie erinnert an eine evolutive Anpassung.

Autor Searle verteidigt im dritten Teil des Buches die Hypothese des externen Realismus. Darunter versteht er eine Wirklichkeit, die unabhängig von unseren Repräsentationen von ihr ist. Mit dieser Auffassung steht er prinzipiell im Einklang mit der Evolutionären Erkenntnistheorie und in Opposition zum Konstruktivismus. Er spricht von Konstruktion nur im Zusammenhang mit (beobachterabhängigen) sozialen Realitäten. Das Thema behandelt er auf ca. 50 Seiten, wohl wissend, dass eine ausführliche Diskussion Bücher füllen würde. Seine Theorie über das Soziale beruht auf dem externen Realismus. „Ich habe nicht bewiesen, dass der externe Realismus wahr ist. Ich habe versucht zu zeigen, dass er durch die Verwendung von sehr großen Teilen einer öffentlichen Sprache vorausgesetzt wird.“ (203)

Im vierten Teil des Buches rechtfertigt Searle eine bestimmte Version der Korrespondenztheorie als methodologisches Hilfsmittel für die Untersuchung gesellschaftlicher Tatsachen. Nach der Korrespondenztheorie der Wahrheit sind subjektive Aussagen genau dann wahr, wenn sie mit den Tatsachen in der objektiven Welt übereinstimmen. Searle diskutiert ausführlich Einwände gegen die Korrespondenztheorie und begründet seinen Standpunkt.

„Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ ist ein Buch für Fachleute. Es enthält keine populärwissenschaftliche Aufbereitung von Searles Theorie. Die Kenntnis von Fachbegriffen wird vorausgesetzt, sie werden nicht erklärt. Es handelt sich um ein Grundlagenwerk über Searles Theorien.

Bewertung vom 03.09.2016
Sicherheit im Internet für alle
Petrowski, Thorsten

Sicherheit im Internet für alle


sehr gut

Fallstricke im Internet

„Sicherheit im Internet“ ist laut Vorwort des Autors Thorsten Petrowski ein Ratgeber für durchschnittliche Nutzer des Internet, die mit den weit verbreiteten Plattformen Windows 7 oder 8 arbeiten. Es ist kein Buch für IT-Experten. Damit ist der Rahmen hinreichend abgesteckt. Nun gilt es noch, sich selbst als Leser des Werkes entsprechend zu klassifizieren. Diesem Zweck dient der kleine Wissens-Check, bestehend aus 23 Fragen, zu Beginn des Buches. Dieser Test kann als Hilfsmittel herangezogen werden, um zu entscheiden, welche Kapitel für einen selbst Priorität haben sollten.

Das Internet ist vergleichbar einem Haifischbecken; wer sich auffällig verhält und viele Spuren hinterlässt, läuft Gefahr, „gefressen“ zu werden. Thorsten Petrowski klärt auf über Wege ins Netz, Schadsoftware, Cyberangriffe und Abofallen. Er warnt vor leichtfertigem Umgang mit Passwörtern („Das Passwort NIEMALS an andere weitergeben.“). (68) Je mehr persönliche Daten freigegeben werden, umso größer ist die Gefahr gestohlener Identitäten. Auf einmal liegen Rechnungen für Dienste im Briefkasten, die nie beauftragt wurden.

Petrowski klärt darüber auf, wie Surfer ihre Spuren verwischen können. Dazu gehören u.a. das Löschen des Browser-Verlaufs, der Einsatz eines Proxy-Servers, der Aufbau von VPN-Verbindungen oder das Surfen über ein anonymisierendes Tor-Netzwerk. Die Anonymisierung ist mit Einschränkungen verbunden, wie der Autor humorvoll deutlich macht. „Man wollte absolut sicher gehen, dass die mühsam „erkämpfte“ Anonymität nicht durch „plaudernde“ Plug- In- Zusatzprogramme wieder zunichte gemacht wird.“ (239)

IT-Experte Petrowski verweist auf einige seriöse Adressen im Internet, die bei der Überprüfung der Sicherheit und Konfiguration von Sicherheitseinstellungen hilfreich sein können. Zu den wichtigen Seiten gehören die des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik, das seit Jahren über Sicherheitsaspekte aufklärt. Die Erläuterungen in dem Buch sind zielgruppengerecht. Die Bilder sind teilweise recht klein und damit schwer lesbar. Dennoch werden die Leser durch das Buch über ein wichtiges Thema aufgeklärt und dafür sensibilisiert, Sicherheit als Dauerthema zu betrachten.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.