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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Papier (eBook, ePUB)
Monro, Alexander

Papier (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ausgezeichnetes Sachbuch
Als ich neulich von Plänen las, an Grundschulen keine Schreibschrift mehr zu lehren, fragte ich mich, wie Kinder ohne die Zusammenarbeit von Auge, Hand und Gehirn zukünftig ihre Muttersprache lernen sollen. Zurzeit kann ich mir noch nicht vorstellen, selbst nicht mehr zügig mit der Hand längere Texte zu Papier zu bringen. Das Zusammenwirken von Vorstellung, Sprache, Schrift und einem Material, auf das man schreibt, vermittelt Alexander Monro in seinem wunderbaren Buch "Papier". Wäre im 2. Jahrhundert n. Chr. In China nicht die Papierherstellung entwickelt worden, gäbe es heute keine chinesische und japanische Kalligraphie; denn eine getuschte Schrift erfordert eine Papieroberfläche, die Tusche im exakten Maß aufnehmen kann, ohne sich dabei zu stark vollzusaugen. Ohne Papier keine Geldscheine, keine Erlasse einer Verwaltungsbürokratie, keine Verbreitung von Religionen, Reformideen, privaten Briefen und keine demokratischen Wahlen.

Ein historisches Sachbuch zum Thema Papier erschien mir zunächst ein sehr trockenes Thema zu sein. Alexander Munro belehrte mich jedoch zügig eines Besseren, indem er die Frage verfolgte, wem die Erfindung des Papiers nutzte und welche Motive die Menschen damals antrieben. Der Unterschied zwischen Wissen und Begreifen ist mir lange nicht mehr so deutlich geworden wie hier. Zum Beispiel wird hier sehr anschaulich vermittelt, wie Form und Größe eines Beschreibstoffes unmittelbar aus Bewegungsablauf und Körperhaltung eines Schreibers resultieren. Munro informiert weniger darüber, was die Menschen "hatten", sondern darüber, wie sich die Entwicklung einer Technologie gesellschaftlich und politisch auswirkte. So betont er, dass die Chinesen das Papier zwar erfanden, die Japaner jedoch die Technologie kultivierten und das Ergebnis wertschätzten.

Monro erzählt aus dem China der Tang-Dynastie, über die Bedeutung des Korans als Buch in einer noch immer mündlich überlieferten Religion, aus Europa zur Zeit der Erfindung des Buchdrucks, über Papier und Druck als Voraussetzung von Reformbestrebungen, über die Verkündung der Pressefreiheit in Frankreich 1789 und von der Alphabetisierung aller Bevölkerungsschichten in Europa. Die Freiheit, Kritik zu üben, niederzuschreiben und zu verbreiten sieht Monro als bedeutendste Wirkung dieser Erfindung aus dem Alten China. Der Autor entwickelt die Geschichte des Buches von seinem Dasein als aufwendig von Hand gefertigtem und entsprechend kostspieligem Besitz bis hin zur maschinell hergestellten preiswerten Massenware, die jedem zugänglich war. Theoretisch hätte sich durch die Verfügbarkeit von Büchern für alle Bevölkerungsschichten das Lesen vom Vorlesen des Lehrers oder Haushaltsvorstands zum individuellen Lesen im stillen Kämmerlein entwickeln können - wenn die Kosten für Licht/Kerze und Heizmaterial dem bis ins 20. Jahrhundert nicht entgegengestanden hätten.

"Papier. Wie eine chinesische Erfindung die Welt revolutionierte" ist ein ausgezeichnet recherchiertes, elegant formuliertes und gekonnt übersetztes Sachbuch. Nachdem mir kurz zuvor einige mittelmäßige Übersetzungen aus dem Englischen in die Hände gefallen sind, schätze ich hier besonders die treffende Übersetzung in gutes Deutsch. Einige Kleinigkeiten hätten aus einem ausgezeichneten Buch ein perfektes Buch gemacht: biografische Angaben zur Übersetzerin, ein Lesebändchen, um in den umfangreichen Quellenangaben zu schmökern, und der Druck der Abbildungen auf Hochglanzseiten.

Bewertung vom 04.01.2017
Mach was Buntes

Mach was Buntes


sehr gut

Was steht drin?
Das umfangreiche Bastelbuch regt in 10 Kapiteln an zum Stricken, Häkeln, Nähen, Filzen, Werken mit Perlen, zu Holz- und Laubsägearbeiten, der Verarbeitung von Naturmaterialien, zum Malen und fasst unter Kreativwerkstatt die bewährten Materialien Fimo, Windowcolor, Wachsplatten, Moosgummi, Pfeifenputzer und Mosaik zusammen. Die Einzelkapitel sind vernünftig gegliedert, beginnend mit der Abbildung der nötigen Grundausstattung. Vorlagen zum Vergrößern und Abpausen finden sich am Ende des einzelnen Kapitels. Auch das Abpausen der Vorlagen zum Herstellen von Schablonen wird erklärt. Aus insgesamt fünf Gruppen können Anleitungen je nach Materialkosten, Arbeitsaufwand und Schwierigkeitsgrad gewählt werden.

Wen spricht das Buch an?
Generell richten sich die Bastelvorschläge hauptsächlich an Erwachsene und setzen Geschick in den einzelnen Techniken voraus, wie den Umgang Cutter und Scherenschnittschere, Nadel und Faden, Säge oder Fräse. Die Zusammenstellung mehrerer Textiltechniken mit Malerei, Holzarbeiten und weiteren Bastelarbeiten finde ich recht eigenwillig. Die Brauchbarkeit des Buches hängt individuell davon ab, wie viele der Themen man tatsächlich bearbeiten will. Wer nicht malt und bereits perfekt häkeln kann, für den sinkt natürlich die Attraktivität der vorliegenden Auswahl.

Plus und Minus
Für das Buch spricht, dass man - z. B. beim Einsatz in Bastelgruppen - keine herumfliegenden Blätter und Einzelheftchen hat. Im Prinzip sind die Anleitungen zu Grundtechniken und spezielleren Arbeitsgängen vernünftig und hilfreich. Das Kopieren von Vorlagen aus einem 2kg schweren Buch wird nicht jedem Nutzer Freude bereiten.Vom Abpausen auf Transparentpapier können Autoren von Bastelbüchern einfach nicht lassen, anstatt Schneiderkopierpapier zu empfehlen, mit dem Umrisse direkt auf Ton- oder Zeichenkarton durchgedrückt werden könnten.
Mir sind positiv das Perlenkapitel und die Kreativwerkstatt aufgefallen. Das Arbeiten mit Perlen steht häufig auf der Wunschliste von Jugendgruppen und man kann sich hier einen Überblick verschaffen, welche Anforderungen Perlenobjekte an die Geschicklichkeit stellen. Windowcolor, Fimo usw. sind Themen, die in mancher Einrichtung und manchem Team etwas frischen Wind vertragen können und mit neuen Anregungen wieder Spaß bringen.

Fazit
Für den geforderten Preis finde ich das Angebot an Ideen in Ordnung.

Bewertung vom 04.01.2017
Kaspar, Opa und der Monsterhecht / Kaspar & Opa Bd.1
Engström, Mikael

Kaspar, Opa und der Monsterhecht / Kaspar & Opa Bd.1


ausgezeichnet

Kaspar lebt bei seinem Opa in einem kleinen Dorf in der Nähe des schwedischen Siljarnsees, weil seine Eltern sich in fernen Ländern um arme Menschen kümmern. Der Opa hält die Arbeit der Eltern für sinnlos, weil man gegen das Elend der Welt sowieso nichts ausrichten könne. Den Lebensunterhalt verdient Kaspars Opa mit dem Schnitzen von rohen Holzpferdchen, die er an den Ladenbesitzer verkauft. Von Atom-Ragnar, dem Ladenbesitzer und begnadeten Verschwörungstheoretiker, ist der Opa abhängig; denn Ragnar setzt die Preise für die Pferdchen fest. Was Opa im Laden kauft, wird angeschrieben und vom Guthaben aus dem Holzpferdchen-Verkauf abgezogen. In einer Umgebung wie aus einem Buch Astrid Lindgrens führt aus unserer Erwachsenensicht der Opa ein Leben in Armut und Freiheit. Im letzten Sommer, bevor Kaspar im Herbst eingeschult wird, muss der Junge eine Vorstellung entwickeln vom Wert des Geldes, aber auch davon, wie weit jeder Einzelne zu gehen bereit ist, um seine Träume und Wünsche zu verwirklichen. Opas Bootsmotor haucht röchelnd sein Leben aus und ein neuer Motor ist in seinen Verhältnissen völlig unmöglich. Mit unmöglich kostspieligen Dingen ist in Ragnars Laden eine komplette Vitrine gefüllt. Darin Kaspars Herzenswunsch - ein Fernglas. An ein Fernglas ist nicht zu denken, solange Opa und Enkel im Laden noch Schulden haben. Eine Lösung scheint der Hecht-Angelwettbewerb der Zeitung zu versprechen. Dem Gewinner winkt ein neuer Motor. Mehrere Dorfbewohner kämpfen in diesem Wettbewerb sehr verbissen um den Sieg. Ragnar verdient offensichtlich bestens am Verkauf teuren Angelzubehörs. Birger behauptet steif und fest, in seinem See gäbe es überhaupt keine so großen Hechte und Kaspar müsste sich geirrt haben. Für Kaspar zeigt sich das Projekt Hecht noch komplizierter; denn er will nicht nur die zwei Jahre ältere Lisa beeindrucken, sondern ist mit der Frage konfrontiert, ob der Zweck die Mittel heiligt, ob man für einen guten Zweck lügen, klauen oder betrügen darf.

In einer für Kinder im Grundschulalter klug gewählten Sprache erzählt Mikael Engström ein Sommerabenteuer, dessen philosophische Fragestellungen - auch - vorzüglich in die Weihnachtszeit passen. Kaspars Sinnieren regt jugendliche Leser zum Nachdenken an, was wirklich wichtig ist im Leben, ob Besitz glücklich macht, wie es um das Rechthaben steht, woher Geiz kommt und wie sich Nächstenliebe ausdrückt. Problemstellung und Sprache können bereits von wissbegierigen Siebenjährigen bewältigt werden. Ein gelungenes Kinderbuch wie dieses eignet sich zum Selbstlesen ebenso wie zum gemeinsamen Lesen mit einem Erwachsenen.

Bewertung vom 04.01.2017
Zusammen werden wir leuchten
Williamson, Lisa

Zusammen werden wir leuchten


gut

David Piper ist seit der 1. Klasse mit Felix und dem Mädchen Essie befreundet. Dass seine besten Freunde mittlerweile ein Paar sind, hat der Zuneigung offenbar nicht geschadet. Davids Eltern sorgen sich um ihren pubertierenden Sohn wie um einen Nerd; denn mit nur zwei besten Freunden scheint David in ihren Augen ein Sorgenkind zu sein. Davids Interessen sind speziell - Mode, Design und Castingshows. Dass der junge Mann sich im falschen Körper eingesperrt fühlt und schon immer ein Mädchen sein wollte, wundert deshalb nicht. Den üblichen Qualen der Pubertät lädt Davids Wunsch nach Genderwechsel noch eine zusätzliche Last auf. David misst und dokumentiert regelmäßig sein körperliches Wachstum. Seine größte Sorge scheint zurzeit die Aussicht zu sein, als großer Mann mit großen Füßen rein körperlich aus der Masse herauszuragen und zukünftig keine Frauenkleider zu finden. Doch zunächst hat er sich das Ziel gesetzt, seinen Eltern die Entscheidung für ein Leben als Frau zu eröffnen.

In diesem Schuljahr wechselt aus einem anderen Stadtteil Leo in den Jahrgang über Davids Schulklasse. Den Schulwechsel umweht Leos Aura des schweigsamen Bad Boys, zusätzlich angefeuert von dem Gerücht, Leo hätte angeblich keinen Facebook-Account. An seiner alten Schule muss mehr als nur ein Jugendstreich vorgefallen sein; denn Leo ist seit frühester Kindheit in therapeutischer Behandlung. Die Geschichte der beiden Geheimnisträger wird abwechselnd von Leo und David aus der Ichperspektive erzählt, so dass man beide Sichtweisen und beide Familien kennenlernt. Neben Schulklatsch, Mobbing und weiteren Alltagsproblemen Jugendlicher scheint die Transgender-Problematik über eine längere Strecke nur eins von mehreren Problemen zu sein. So leidet Leo darunter, dass er seinen Vater nie kennengelernt hat und seine verplante Mutter nicht gerade einen Preis für die Organisation einer Patchwork-Familie erringen würde.

Ein Jugendroman soll seine Leser fesseln, ihnen Identifikationsmöglichkeiten oder Rollenmodelle bieten und er darf gern zusätzlich durch Sprachwitz und Tiefe brillieren. Mit dem zusätzlich zur Transgender-Frage geschaffenen Problemmix des Buches scheint die Autorin sich stark verzettelt zu haben, so dass sie keinen dieser Wünsche erfüllen kann. In der ersten Hälfte der fast 400 Seiten bleibt zunächst unklar, wer die Hauptfigur/en ist/sind und welches der zentrale Konflikt des Buches ist. In einem Jugendroman für Leser ab 14 finde ich einen ausufernden Handlungsbogen wie diesen zu wenig gradlinig. Wie genau es sich in Davids als falsch empfundenem Körper lebt, bleibt für eine zentrale Romanfigur nur vage angedeutet. Ich hatte den Eindruck, dass Lisa Williamson an den körperlichen Fakten einer Transgender-Pubertät entweder verschämt vorbei laviert oder diese ihr fremde Gefühlswelt nur beschreiben, aber nicht zeigen kann. Empfindlich vermisst habe ich größere Tiefe in der Darstellung der Nebenfiguren. Leos Verhältnis zu seiner Zwillingsschwester Amber z. B. hätte gerade in der Perspektive eines Icherzählers breiteren Raum verdient.

Wer sich mit der Aussicht auf ein Transgender-Thema geduldig durch Nebenhandlungen zu arbeiten bereit ist, dem sei der Roman trotz einiger Abschweifungen empfohlen.

Bewertung vom 04.01.2017
Not Forgetting The Whale
Ironmonger, John

Not Forgetting The Whale


ausgezeichnet

Oft bleiben Bücher besonders intensiv in Erinnerung, die sich nur schwer einem Genre zuordnen lassen. Bei John Ironmongers Azalea Lewis war das bereits so. "Not forgetting the Whale" fügt der britische Autor aus einem beschaulichen Schauplatz an der Küste Cornwalls, dem Leviathan-Mythos, der mathematischen Prognose menschlichen Verhaltens und einer dystopischen Handlung in unserer nahen Zukunft zusammen. Erzählt wird diese skurile Mischung rückblickend als mündliche Überlieferung des Ortes. Offenbar haben die handelnden Figuren überlebt und konnten die Geschehnisse ihren Enkeln erzählen.

In St. Piran wird halbtot ein junger Mann an der Küste angespielt, von dem anzunehmen ist, dass er sich das Leben nehmen wollte. Joe hat als Mathematiker für eine englische Bank eine Formel entwickelt, um menschliches Verhalten in die Zukunft fortzuschreiben und so maximalen Profit am Aktienmarkt erreichen zu können. Doch Joe ist offenbar für die Welt der Formeln und Algorithmen nicht gemacht und flieht vor seinen persönlichen Dämonen mit dem Auto aus der Hauptstadt - bis die Straße am Meer irgendwann nicht mehr weiterführt. Joe wird von den Dorfbewohnern gerettet und herzlich aufgenommen. Fernab der Hamsterräder der Metropolen hat der kleine Fischerort wie in einer Schneekugel überdauert. In St. Piran vergeht die Zeit in gemächlichem Tempo und Handyempfang braucht hier sowieso niemand.

Als ein Wal hilflos an der Küste angespült wird, zeigt sich bei der Rettung des gewaltigen Tiers den Bewohnern zum ersten Mal Joes beeindruckende Fähigkeit, andere Menschen zu gemeinsamem Handeln zu motivieren. Joe gelangt durch die Rettungsaktion zu ungewohntem Ansehen im Ort. Als weltweit eine Grippe-Epidemie ähnlich der Spanischen Grippe von 1918 ausbricht, muss die kleine Gemeinde in der Realität eine Ausnahmesituation schultern, wie sie zuvor schon Mathematiker simuliert hatten. Wenn ein bestimmter Prozentsatz der arbeitenden Bevölkerung schwer krank wird oder stirbt, fällt in diesen apokalyptischen Szenarien zuerst die Stromversorgung aus, gleichzeitig mit der Wasser- und Treibstoffversorgung, für deren Pumpen Elektrizität nötig ist. Am Beispiel Joes, der keinen blassen Schimmer hat, ob das Dorf lieber normales Mehl oder "selfrising flour" als Notvorrat bunkern soll, zeigt sich, wie unfähig moderne Menschen bereits zu den einfachsten Überlebenstechniken sind. Doch in St. Piran gehen, wie gesagt, die Uhren anders und es gibt genug Menschen, die sich an alte Zeiten vor dem technischen Fortschritt erinnern können. In der Krise kann z. B. selbst ein betagter Arzt die Menschen beraten und versorgen. Wenn keine Lieferungen mehr von außen eintreffen, muss man sich auf das konzentrieren, was die Gegend selbst hervorbringt: Fisch, Rindfleisch und Milch. Auf archaische Ängste vor Seuchen, Sturmfluten und hungrigen Menschenmassen reagieren Joe und St. Piran unerwartet - und das zum Weihnachtsfest.

John Ironmonger deckt im Nachwort die Anregung zu seinem dystopisches Seemannsgarn auf: der sinngemäße Ausspruch "They say that every society is only three meals away from revolution. Deprive a culture of food for three meals, and you'll have an anarchy. And it's true, isn't it? You haven't eaten for a couple of days, and you've turned into a barbarian," dessen Quelle noch nicht überzeugend geklärt ist. Ironmongers Figuren (z. B. Kenny, der Treibgutsammler) zeigen sich so skurril wie liebenswert, allein seine Erzählweise lohnt die Lektüre des Buchs. Das Nachdenken über die Weltwirtschaft in Form eines gestrandeten Wals und die nahenden hungrigen Massen aus anderen Landesteilen wirkt für ein Anfang 2015 veröffentlichtes Buch geradezu beunruhigend weitblickend. Auch wenn ich kein passendes Genre für Ironmongers äußerst liebenswerte dystopische Weihnachtsgeschichte um einen gestrandeten Wal und die Flucht aus der täglichen Tretmühle finde, sie lohnt sich zu lesen.

Bewertung vom 04.01.2017
1946
Sebestyen, Victor

1946


ausgezeichnet

Victor Sebestyen wurde in Ungarn geboren, stammt damit von der anderen Seite des "Eisernen Vorhangs" und berichtete für englischsprachige Leser hauptsächlich aus Osteuropa. Für den Autor eines populären historischen Sachbuchs ist das eine viel versprechende Ausgangsposition, die sich u. a. mit den Wurzeln des Autors befassen könnte. Sebestyen erzählt vom ersten Nachkriegsjahr 1946, in dem er markante Persönlichkeiten und deren Entscheidungen darstellt und Beziehungen zwischen Staaten aufrollt, über die man zum Verständnis heutiger Konflikte informiert sein sollte. Zur Verarbeitung der Fülle von Namen und Bezügen im Kopf des Lesers halte ich das für einen sehr wirksamen Ansatz.

Politik und Geschichte der Nachkriegszeit betreffend, zähle ich zu den "weißen Jahrgängen", die im Geschichtsunterricht hauptsächlich Jahreszahlen paukten. In einem Schülerleben konnten sie mehrfach erleben, dass die Nachkriegszeit zwar formal im Geschichtsbuch enthalten war, rätselhafterweise aber jedes Mal das Schuljahr zu kurz war, um dieses Kapitel durchzunehmen. In den Jahren 1975 oder 1985 hätte ich mich für Sebestyens Stoff vehementer interessiert als heute, um seine Darstellung mit der von Zeitzeugen abzugleichen. Doch ein Buch wie dieses konnte vermutlich nicht eher geschrieben werden, weil Augenzeugenberichte über Flucht, Vertreibung und an Zivilpersonen noch nach Kriegsende begangene Gräueltaten der Besatzungstruppen für Jahrzehnte in Archiven verschwanden. Diese Berichte waren lange nur Historikern gegen Nachweis eines wissenschaftlichen Interesses zugänglich.

Sebestyens Ansatz, Geschichte als Geschichten über historische Persönlichkeiten zu erzählen, lässt sein Buch leicht lesbar und unterhaltsam wirken. Ihm waren offenbar verstärkt Quellen zur britischen Besetzung Norddeutschlands zugänglich, was die Vielseitigkeit der angeschnittenen Themen jedoch nicht beeinträchtigt. Zumindest bei mir ist es Sebestyen gelungen, die Sicht "der anderen Seite" anzuregen, die Seite der Besatzungstruppen und ihrer Heimatländer. Dass auch die britische Bevölkerung im Jahr Null nach dem Krieg hungerte und fror, machte sich in den besetzten Gebieten wohl niemand bewusst, der mit der Militärregierung um Rückgabe beschlagnahmter Gebäude und Autos rang, um z. B. endlich wieder seinen Beruf ausüben zu können. Der Autor nennt direkt und ungeschminkt, wer nach dem Krieg von Vertreibung und dubiosen Geschäften profitierte und hält dabei besonders osteuropäischen Staaten den Spiegel vor die Nase. Durchaus kritisch geht er ebenfalls der Frage nach, ob die Amerikaner sich nicht mit dem Plan übernommen haben, ganze Völker umerziehen zu wollen. Knappe und treffende Kapitel über die Ursachen des Israel-Konflikts, die Nachkriegsgeschichte Griechenlands oder das Ringen um persische Ölquellen tragen erheblich zum Verständnis der heutigen Zustände in den genannten Ländern bei. Auch Kenntnisse über das Verhältnis zwischen den USA und China, den USA und Japan oder Deutschland und der Tschechoslowakei sollten zur Allgemeinbildung gehören. Schließlich schreckt Sebestyen nicht davor zurück, die mangelnde Vergangenheitsbewältigung z. B. in Polen und dort speziell den Antisemitismus der katholischen Kirche beim Namen zu nennen.

Als sein Buch verfasst wurde, ahnte vermutlich niemand, dass es in Europa aktuell wieder Displaced Persons und Übergangslager geben würde und sich daraus die Frage ergibt, was wir aus jener Zeit für die Gegenwart gelernt haben. "Gemeinsames Leiden macht nicht zu Brüdern," (Seite 294) hat Tadeusz Nowakowski treffend festgestellt. Sein Zitat zeigt beispielhaft, wie geschickt Sebestyen seine Quellen und Zitate für dieses Buch ausgewählt hat. Speziell die Frage, ob man ganze Völker umerziehen und deren Werte abwählen kann, ist heute in Deutschland aktueller als je zuvor.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Papier-Objekte aus alten Büchern
Brüggemann, Anka

Papier-Objekte aus alten Büchern


ausgezeichnet

Sehr gut strukturiert
Anka Brüggemanns verschwenderisch illustriertes und methodisch vorbildliches Buch bietet vier Gruppen von Werkarbeiten mit alten Büchern. Aus ganzen Hardcoverbänden werden durch Herausschneiden von Öffnungen und Hervorklappen von Scherenschnitten Buchskulpturen gefertigt. Himmelis sind geometrische Objekte aus Papierröllchen, die man früher aus Stroh- oder Trinkhalmen fertigte. Papierporzellan nennt die Autorin dünnwandige Objekte, die mit bedruckten Buchseiten und Kleister überzogen werden. Optisch besonders ins Auge fallendes Thema sind Rotunden aus den aus fadengehefteten Hardcover-Bänden herausgetrennten Buchblöcken (siehe Titelbild) und Skulpturen aus gefalteten Buchseiten ganzer Bücher. Die aus dem Buchschnitt herausgearbeitete Origami-Faltung nennt Dominik Meissner, ein weiterer Experte dieser Kunst, Orimoto.

Alle vier Kapitel öffnen einerseits den Blick dafür, wie upgecyceltes bedrucktes Papier wirken kann und helfen bei der Entscheidung, ob die einzelne Technik sich überhaupt für den interessierten Leser eignet. Bei den Buchschnitt-Skulpturen wird die Hürde vergleichsweise am höchsten sein. Hier empfiehlt die Autorin Anfängern zuerst ein sich wiederholendes Parabel-Muster, um die Technik des Vorzeichnens auf Millimeterpapier, des Übertragens der Faltpunkte in eine Tabelle und Anzeichnens auf jeder einzelnen Buchseite zu erlernen. Man muss sich hier klar sein, dass gerade für Skulpuren aus einem oder mehreren Wörtern Bücher mit mehreren hundert Seiten verarbeitet werden und pro Buchstabe bis zu 6 Faltpunkte pro Seite abzuarbeiten sein können. Über die einzelnen Objekte kann man sich auf der Verlagswebseite ein sehr gutes Bild machen. Kopiervorlagen und eine kleine Buchkunde sind im Anhang zu finden.

Mit ganzseitigen Fotos und Schritt-für-Schritt-Abbildungen ein sehr gut strukturiertes Werkbuch, das den Blick auf Schrift und Papier schult.

Bewertung vom 04.01.2017
Rain Dogs / Sean Duffy Bd.5
McKinty, Adrian

Rain Dogs / Sean Duffy Bd.5


ausgezeichnet

Nach irischer Zeitrechnung ist das Jahr 1987 das 19. Jahr der Troubles, des gewaltsamen Konflikts zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland. Polizeiseargent Sean Duffy lebt als Katholik privat in Carrickfergus in einem rein protestantischen Wohngebiet. Nach der Trennung von seiner aktuellen Partnerin ist Duffy wieder Single. Er scheint seit dem vorigen Duffy-Band noch misanthropischer und zynischer geworden zu sein. Die Bedrohung der Polizei durch die militante IRA wird durch die tägliche Routine jedes Polizisten symbolisiert, vor dem Starten stets zuerst unter dem Auto nach einer Bombe zu suchen. Im Jahr 1987 werden 20 Polizisten in Nordirland im Dienst ums Leben kommen, eine der höchsten Todesraten im Polizeidienst weltweit.

Duffy hat aktuell in einem verdächtigen Todesfall zu ermitteln. Eine junge britische Journalistin wird morgens tot in der Burg von Carrickfergus gefunden. Der Verwalter versichert, dass er das Gelände am Abend zuvor wie immer sorgfältig abgesucht und verschlossen hat und außer ihm niemand Zugang zum Gelände gehabt haben kann. Die Außenmauern werden über Nacht angestrahlt und liegen im Aufnahmebereich der Überwachungskamera anderer Gebäude. Für Duffy und sein Team stellt sich die Frage, ob die junge Lily Bigelow sich das Leben genommen hat oder ob hier jemand einen Selbstmord inszenieren wollte. Wie kam Lily in die Burg, wer hätte die Gelegenheit gehabt, sie zu töten und vor allem mit welchem Motiv. Die Autopsie der Toten trägt eher zur Verwirrung der Ermittler bei als zur Aufklärung der Todesumstände. Da Duffy bereits in "Die verlorenen Schwestern" in einem Locked-Room-Fall ermittelt hat, fragt er sich natürlich, wie wahrscheinlich es sein kann, dass ein Polizist im Laufe seiner Berufstätigkeit mit zwei derart ähnlich gestrickten Fällen konfrontiert wird.

Wie in Adrian McKintys Nordirland-Krimis gewohnt, ist der Tod der jungen Frau nur die Spitze des Eisbergs. Hinter der Tat verbergen sich Verstrickungen einflussreicher Kreise aus Politik und Wirtschaft und die Entschlossenheit dieser Kreise, die Ermittlungen mit allen Mitteln zu verhindern. Duffys Arbeit wird zudem nicht nur durch ineffektive Strukturen innerhalb der Polizei ausgebremst, sondern auch durch die spezielle Situation behindert, dass die Burg und das darin beschäftigte Personal als ehemaliges Militärgelände britischen Behörden untersteht. Über Duffys aktuellen Fall soll nicht mehr erzählt werden, um die Spannung nicht zu verderben. Nur so viel: der Autor greift einen erst kürzlich bekannt gewordenen Fall aus jener Zeit auf, über den zum damaligen Zeitpunkt im katholischen Irland der Mantel des Schweigens gebreitet wurde und zu dem bis heute noch nicht alle Akten für die Öffentlichkeit freigegeben wurden.

"Office. Window. Lough. Coal Boats. Rain." (ebook bei 41%) Adrian McKinty setzt auch hier Wetter- und Landschaftsbeschreibung als stilistisches Mittel ein, mit denen er im Februar-Schneeregen Nordirlands eine Melancholie verbreitet, die zusammen mit Duffys psychischer Verfassung bei manchem Leser eine Winterdepression auslösen könnte. Seine Handlung wird von stichwortartigen Regieanweisungen eingeleitet, sowie neben der genannten Wetterspur auch von der Tonspur aus Duffys Musikkonsum begleitet.

Ein atmosphärisch starker Krimi mit raffiniertem Plot, sympathischen Figuren und einer intelligent gewählten Aha-Situation, die Duffy auf die Lösung des Falls bringt.

Bewertung vom 04.01.2017
Das zerstörte Leben des Wes Trench
Cooper, Tom

Das zerstörte Leben des Wes Trench


ausgezeichnet

Unausgesprochen hat Wes seinem Vater die Schuld daran gegeben, dass seine Mutter während des Hurricans Kathrina (2005) ertrunken ist. Wäre der Vater nicht so starrsinnig gewesen, dann hätten die Trenchs sich wie alle anderen Bewohner des Sumpfgebiets Barataria Bay südlich von New Orleans rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Das Bajou ist eine Landschaft, in der sich Inseln, Sandbänke und Sümpfe ständig verändern. Ursprünglich durch Thomas Jefferson von Napoleon für ein paar Cents pro Hektar gekauft, entwickelte sich die Region zum Fluchtziel geflohener Sklaven, zum Revier der Piraten, Schmuggler, Shrimpsfischer, Schatzsucher und weiterer durchgeknallter Typen. Durch den Hurrican und die durch den BP-Konzern verschuldete Ölpest im Golf von Mexiko verlieren die kleinen Shrimpsfischer, die Restaurants und der Tourismus ihre Lebensgrundlage. Wes Trench trifft der wirtschaftliche Zusammenbruch besonders empfindlich, weil er mit 17 gerade an seinem eigenen Boot baut und dringend Abstand von seinem schwierigen Vater sucht. Wenn der Verkaufspreis des Fangs unter den Spritkosten liegt, ist das genau der falsche Moment, um sich mit dem Vater zu überwerfen und Arbeit zu suchen. Wes kommt zunächst bei Lindquist unter, dem alten Hagestolz, dem gerade jemand aus purer Bosheit seine teure Armprothese gestohlen hat. Als Kapitän und Fischer mit einem einfachen Piratenhaken statt eines Arms hat Lindquist allein kaum Überlebenschancen. -
Neben Vater und Sohn Trench und dem alten Lindquist sind in den Sümpfen einige weit schrägere Vögel unterwegs. Ein Zwillingspaar ist im gesamten Bayou dafür bekannt, auf einer der Inseln Marihuana feinster Qualität anzubauen, der Dachdecker Cosgrove schlägt sich als kleiner Gauner durch und Brady Grimes ist von BP angeheuert worden, um die Einwohner beim Abtreten ihrer Schadenersatzansprüche über den Tisch zu ziehen. Grimes stammt selbst aus dem Bayou, nur deshalb hat BP ihn überhaupt eingestellt, und soll seiner eigenen Mutter das unmoralische Angebot einer geringen Abfindung vorlegen. Erst die Begegnung mit seiner Mutter macht Grimes klar, dass der gesamte Sumpf verseucht und es nur eine Frage der Zeit ist, wann die Bewohner an umweltbedingten Krankheiten sterben werden. Eine Reihe von Personen in wechselnder Team-Zusammensetzung gehen im Sumpf und auf dem Wasser ihren Geschäften nach und man kann sich leicht vorstellen, dass es in einem Setting mit Alligatoren, Schlangen, wertvollen Schätzen und begehrten Drogen zum komischen und für einige auch lebensbedrohlichen Showdown kommen kann. Wenn nachts in einem Sumpf mehrere durchgeknallte Parteien aufeinandertreffen, kann das wohl nur grandios schiefgehen. Dass Lindquist dabei mit seiner Armprothese in einer vergleichsweise miesen Position sein würde, wurde mir erst allmählich klar. - Tom Cooper hat für seinen ersten Roman das beeindruckende Setting einer bedrohten Landschaft und ihrer Bewohner geschaffen. Das damit perfekt harmonierende Buchcover der deutschen Ausgabe wirkt wie ein Stich aus Zeiten von Humboldts. Da es um mögliche Wasserleichen und befürchtete Alligator-Angriffe geht, sollten Leser des Buches nicht zu zart besaitet sein. Für die vielen beteiligten Personen, deren Wege sich hier kreuzen, deren Vater-Sohn, Vater-Tochter, Kapitän-Matrose, Jäger-Gejagter-Beziehungen habe ich mir eine Personenliste notiert und neben das Buch gelegt und die Lektüre damit sehr genossen. Die Personenzeichnung der dreisten bis verbohrten Gestalten wirkt sehr gradlinig; zusammengehalten wird das Ganze durch eine Rahmenhandlung aus Wes Schicksal und seiner Sicht der Ereignisse. Den zurückhaltenden Siebzehnjährigen mochte ich sofort. 'Das zerstörte Leben des Wes Trench' hat mich begeistert und ich hätte einem so großartigen Buch in einigen Details ein aufmerksameres Lektorat gewünscht.

Bewertung vom 04.01.2017
Ein Haus mit vielen Zimmern
Atwood, Margaret; Blixen, Tanja

Ein Haus mit vielen Zimmern


ausgezeichnet

Dieser Band scheint leider der in der Gestaltung abweichende Abschlusspunkt der früher edlen in rotes Leinen gebundenen Reihe herausragender Texte von Frauen in der edition fünf zu sein.

Enthalten sind Texte von
Margaret Atwood, Tania Blixen, Janet Frame, Nora Gomringer, Siri Hustvedt, Tove Jansson, Clarice Lispector, Annette Pehnt, Sylvia Plath, Judith Schalansky, Anna Seghers, Ali Smith, Antje Rávic Strubel, Virginia Woolf.

Hinter großen Namen wie Atwood (2005), Plath (dt: 2012) oder Seghers (1948, 2008) stehen hier teils bekannte Texte. Antje Rávic Strubel setzt sich (in einem aktuellen Text von 2015) mit dem Mädchen- und Frauenbild von Journalisten und Literaturkritikern auseinander und hinterfragt, warum es bei einer AutorIN offenbar so wichtig sein muss, ihre Texte auf einer Ebene des Getuschels ihrer Biografie und ihrem Aussehen zuzuordnen. Eine Frage, die Margaret Atwood bereits (in früheren Texten) beschäftigt hat. Judith Schalansky vermittelt, wie sie Bücher "macht" und dabei Vollkommenheit anstrebt. Eine Entdeckung als Autorin feministischer Texte ist Tove Jansson (1978), vielen bisher nur als Autorin der Mumins bekannt. Als jüngere Stimme ist Nora Gomringer (2011, 2015) mit mehreren Texten vertreten.

Wie gewohnt ist dieser Band mit Quellenverzeichnis und Angaben zu Autorinnen und ihren Übersetzern sorgfältig und liebevoll editiert. Ein passendes Geschenk für lesende "Mädchen".