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Volker M.

Bewertungen

Insgesamt 397 Bewertungen
Bewertung vom 02.04.2022
Stobwasser Lackdosen und -Etuis

Stobwasser Lackdosen und -Etuis


sehr gut

Die Firma Stobwasser war von der Mitte des 18. bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts ein führender Hersteller hochwertiger Lackobjekte, bevor sich der Fokus auf andere Geschäftsbereiche legte. Um 1900 war Stobwasser dann der bedeutendste Lampenhersteller Deutschlands.

Die Objekte erfreuen sich aufgrund ihrer Qualität unter Sammlern großer Wertschätzung, auch wenn das Interesse in den letzten Jahren etwas abnimmt. Daran mag auch die etwas freizügige „Zuschreibung“ an die Manufaktur durch Händler und Auktionatoren eine gewisse Mitschuld haben, was insofern verwundert, als dass Stobwasser ein besonders frühes Beispiel für Markenpflege ist. Schon der Gründer erhielt ein Privileg, seine Waren zu kennzeichnen und somit Nachahmer fernzuhalten. Ein weiteres markttechnisches Problem der Stobwasserschen Arbeiten ist die Unmöglichkeit, sie zu datieren oder einzelnen Miniaturenmalern zuzuordnen. Unter den Künstlern waren sogar Größen wie Karl Friedrich Schinkel, der in seiner Jugend ebenfalls für Stobwasser arbeitete. In ihrer Glanzzeit hatte die Firma mehrere hundert Mitarbeiter.

Der Bauunternehmer und Sammler Michael Munte hat seine über Jahrzehnte zusammengetragene Stobwasser-Sammlung bei Hirmer publiziert. Sie übersteigt zahlenmäßig sogar deutlich die öffentliche (aber nicht ausgestellte) Sammlung des Städtischen Museums in Braunschweig, wodurch der Katalog die derzeit umfangreichste Darstellung zum Thema ist. Die Objekte sind in der Regel etwa in Originalgröße, manchmal auch leicht vergrößert abgebildet und werden in Motivgruppen und Malträger sortiert. Wo eine künstlerische Vorlage identifiziert werden kann, ist dies vermerkt. Da die Motive über einen längeren Zeitraum produziert wurden, lassen sie leider keine Rückschlüsse auf die Datierung zu. Nur die verschiedenen Manufakturmarken lassen ansatzweise eine zeitliche Rangordnung ableiten, aber auch hier gibt es keine so trennscharfe Datierung wie z. B. bei den Porzellanmarken. Es besteht noch erheblicher Forschungsbedarf, den der Katalog leider auch nicht leistet.

Die einleitenden Kapitel sind relativ kurz und oberflächlich und haben keinen kunstwissenschaftlichen oder wirtschaftshistorischen Anspruch, was angesichts der wirklich erstaunlichen Fülle an Objekten eigentlich bedauerlich ist. So ist der Band „nur“ eine Leistungsschau der Manufaktur Stobwasser, die eine motivische und auch qualitative Bandbreite dokumentiert, die von serieller Miniaturmalerei für den gehobenen Bürgerhaushalt bis hin zu allerhöchstem künstlerischen Niveau reicht, das sogar in königlichen Sammlungen vertreten war. Eine dennoch visuell eindrucksvolle Monografie, die Initialzündung für eine zukünftige, tiefergehende wissenschaftliche Bearbeitung sein kann.

Bewertung vom 01.04.2022
Hamdraht
Parker, Martina

Hamdraht


gut

Das Personalkarussell dreht sich schnell in Martina Parkers zweitem „Gartenkrimi“. Lokaljournalistin Vera besucht ein neueröffnetes Wellnesshotel im Burgenland, um darüber einen Artikel zu schreiben. Im Schlepptau ihre Mutter, die mit Veras Tochter Letta den Platz getauscht hat (Lettas Begründung: Wer will schon mit seiner Mutter in Urlaub fahren?). Hotelier Arno, ein Zuagroaster aus dem exotischen Wien, lässt derweil alles auffahren, was eine ordentliche Wellness zu bieten hat, von Schischi-Küche bis zu psychedelischen Badevergnügen. Die Landschaft ist idyllisch, die Lage des Hotels einsam am Rand eines Sees, es könnte nicht schöner sein. Und dann treibt plötzlich ein Gast tot im Waschzuber. Gleich dreimal umgebracht: Erwürgt, ertränkt und die Pulsadern aufgeschnitten. Na, da war mal einer gründlich. Nur wer war’s? Ins Visier der Ermittlerin kommt bald der Gartenclub, wo man gerade über Friedhofsbepflanzungen referiert. Wenn das mal kein verdächtiger Hinweis ist.

Martina Parker schreibt äußerst routiniert, mit einem guten Gespür für Details und ausgesprochen gründlicher Recherche. Was sie über gehobene Küche und pseudomedizinische Wellnessbehandlungen weiß, ist schon bemerkenswert. Das muss eindeutig auf eigener Erfahrung beruhen, so authentisch wie sie das zu Papier bringt. Auch die Landschaften und ihre Natur beschreibt sie mit Zuneigung und viel zoologischem Hintergrundwissen, das sie elegant in die Geschichte einfließen lässt. Man lernt Interessantes über Wasserkalb, Salamander oder Stichling im allgemeinen und Kriminalbiologisches über Wasserleichen im besonderen. Außerdem erfindet Martina Parker gerne schillernde Lebensläufe ihres Personals, die sie dann kunstvoll miteinander verwebt. Das ist ohne Frage unterhaltsam, allerdings verliert sie doch ab und zu den Faden. Bis zum ersten Mord ist ein Drittel des Buches schon gelesen und bis der Gartenclub auftaucht (immerhin heißt es „Gartenkrimi“) bereits die Hälfte. Vor lauter Ambiente, Atmosphäre und Fabulierkunst habe ich wirklich sehr lange nicht gewusst, wo die Geschichte eigentlich hin will. Wäre nicht das vielfältige, manchmal etwas schräge Personal, ich hätte wahrscheinlich aufgegeben.

Catharina Ballan liest den Text als österreichische Muttersprachlerin, was der Sache sehr zuträglich ist. Ich bin immer wieder überrascht, wie weit sich unsere beiden Sprachen mittlerweile auseinanderentwickelt haben, im Satzbau und den Vokabeln. Wenn beim Vorlesen der österreichische Zungenschlag fehlt, kann so ein Text schnell peinlich werden. Leider gibt es zahlreiche Timingfehler, bei denen ich manchmal nicht sicher bin, ob es an der Sprecherin oder dem Schnitt liegt. Zu lange oder zu kurze Pausen zwischen den Sätzen oder falsche Satzmelodien erschweren in jedem Fall das Verständnis. Außerdem neigt Catharina Ballan zu einer etwas monotonen Stimmführung. Ich kenne jedenfalls bessere Sprecherinnen, auch aus Österreich.

„Hamdraht“ ist ordentliche Unterhaltung, mit Phantasie und auch Witz, aber der Geschichte fehlt leider streckenweise der Fokus, der für einen echten Krimi zwingend erforderlich ist. Es plätschert, aber reißt nicht mit.

Bewertung vom 30.03.2022
Wildes Land
Tree, Isabella

Wildes Land


ausgezeichnet

Die Autorin heißt Isabella Tree und ihr Name ist Programm: Mit ihrem Mann Charles Raymond Burrell, der als 10. Baronett das 1400 Hektar große Landgut Knepp Castle in Sussex erbte, hat sie ein revolutionäres Renaturierungsprojekt realisiert, das viele liebgewonnene Lehrmeinungen widerlegte und bisher noch in jeder Saison für neue Überraschungen sorgte. Bis ins Jahr 2000 wurde auf Knepp Castle konventionelle Landwirtschaft betrieben, die Böden wurden überdüngt und trotzdem ausgelaugt, Flora und Fauna befanden sich im ökologischen Sturzflug, die Gewässer waren verseucht, Bäume starben ab. Trotz immer „effizienterer“ Agrarnutzung und Zusammenlegung zu immer größeren Flächen war das Gut wirtschaftlich nicht mehr rentabel und man entschloss sich zu einem gewagten und aus damaliger Sicht hochriskanten Schritt: Die Burrells legten ihren gesamten Hof still, 1400 Hektar wurden sukzessive der Natur zurückgegeben, die sich in atemberaubendem Tempo erholte. Zusammen mit vielen klugen Beratern wurden innovative Konzepte entwickelt, die dafür sorgten, dass das Land nicht großflächig verbuschte, sondern zu einem biodiversen Hotspot wurde. Das ganze Gebiet wurde umzäunt und naturnahe Weidetiere eingeführt, all das gegen den erbitterten Widerstand der benachbarten Bauern und lange Zeit auch ohne die Unterstützung der britischen Naturschutzbehörden, die sich eher als Verhinderer denn als Hilfe erwiesen (und bis heute immer noch erweisen). Dabei sind die Erfolge unübersehbar: Extrem seltene Schmetterlinge, Käfer, Fledermäuse und Vögel sind nach Jahrzehnten der Abwesenheit zurückgekehrt und einige davon bilden mittlerweile die größten Populationen auf der Insel.

Der Weg dahin war lang und steinig, wie Isabella Tree in ihrem exzellent geschriebenen Buch erzählt. Sie erklärt wunderbar anschaulich die ökologischen Zusammenhänge und widerlegt ganz nebenbei Lehrmeinungen, die bis heute an den Universitäten verkündet werden. Eine sich eine selbst überlassene Landschaft entwickelt sich in unseren Breiten nämlich nicht zum kronendichten Wald und Isabella Tree kann sogar sehr überzeugend begründen, warum die paläobotanischen Daten in der Vergangenheit falsch interpretiert wurden. Diese Mischung aus Experiment, Beobachtung und fundierter wissenschaftlicher Kritik hebt dieses Buch meilenweit aus der großen Masse von „Naturschutzbüchern“ hervor, die oft vor Ideologie und falschen Vorstellungen triefen. Auch in Deutschland verwalten Behörden ihre Naturschutzgebiete nur statt sie sinnvoll zu entwickeln. Dass dafür keine Unsummen investiert werden müssen, zeigt Knepp Castle in eindrucksvollen Beispielen.

Wir können etwas für unsere Natur tun, damit sie sich erholt. Wir werden deshalb nicht verhungern und es wird auch nicht ein unbezahlbares Unterfangen. Knepp Castle hat sich in weniger als 20 Jahren zu einem ökologischen Paradies entwickelt, wie es unsere Urgroßeltern zuletzt gesehen haben, mit Wolken aus Schmetterlingen und Horden von Fledermäusen. Auf Knepp leben Seeadler, Seiden- und Purpurreiher, die dort seit 70 Jahren niemand mehr gesehen hat.
Es wäre schön, wenn unsere bürokratischen Naturschutzverwalter mit der gleichen Ausdauer und Professionalität vorgingen, wie Isabella Tree und ihr Mann. Wir müssen es nur wollen. Dass es funktioniert, weiß jeder, der dieses Buch gelesen und keine Scheuklappen hat. Man darf doch noch hoffen, oder?

Bewertung vom 08.03.2022
Dark Rome
Sommer, Michael

Dark Rome


ausgezeichnet

Die römische Geschichte hat gegenüber allen anderen antiken Kulturen einen unschlagbaren Vorteil: Wir wissen über sie unfassbar viele Details, die sich in zahllosen Briefen und Büchern überliefert haben oder bei archäologischen Grabungen ans Tageslicht kamen. Es gibt Zeitkapseln wie Pompeji und Herculaneum, ausführliche (Auto)biografien aus der Antike, Geschichtsbücher und authentische Quellensammlungen berühmter Persönlichkeiten, wie z. B. von Cicero.
Diese unerschöpfliche Fundgrube wird im Schulunterricht weiträumig umfahren, dabei findet man hinter verschlossenen Türen Dinge, die mindestens so spannend sind wie die große Weltgeschichte. Und nicht selten ist beides miteinander eng verflochten.

„Dark Rome“ ist eine Reise in die Hinterzimmer der Macht, in die verrufenen Viertel Roms, in Schlafzimmer und Folterkammern, zu Giftmischern, Geheimbünden und schwarzen Magiern, man erfährt etwas über Roms Spionageabwehr, Auftragsmörder und natürlich über das alltägliche Verbrechen. Das Reich war nämlich kein Staat in unserem Sinn: Rom besaß kein Gewaltmonopol, es gab keine Polizei und keinen Staatsanwalt, und wer sein Recht durchsetzen wollte, musste dies auf eigene Rechnung tun. Nach unserer Vorstellung segelte das Römische Reich ständig am Rand der Anarchie. Aber das war natürlich nicht so, wie Michael Sommer in seinem brillant geschriebenen Buch richtigstellt. Die römische Gesellschaft war über ein riesiges Netzwerk von Verpflichtungen und Abhängigkeiten miteinander vernetzt und dadurch erstaunlich resilient. Die Geschichten, die Sommer mit viel Detailwissen so lebendig zu erzählen weiß, dass man oft vergisst, wie viele Jahrtausende seitdem vergangen sind, haben Dramatik, Spannung und nicht selten liegt eine düstere Weltuntergangsstimmung über dem Ganzen, dass es so scheint, als bräche das Reich jeden Moment zusammen. Man erfährt viel über die römische Glaubenswelt, aber auch die Psychologie der großen Politik, die sich erstaunlicherweise in Nichts von der heutigen unterscheidet. Vor allem Fake News waren immer schon ein Mittel, das Volk zu lenken - oder wie Churchill es so schön formulierte: „Das erste, was im Krieg stirbt, ist die Wahrheit“.

All das verknüpft Michael Sommer stilistisch so virtuos miteinander, dass am Ende ein neues Bild vom Alten Rom entsteht. Weltgeschichte und der Alltag der „normalen“ Menschen lassen sich tatsächlich nicht voneinander trennen, wenn man wirklich verstehen möchte, wie eine so fremde und weit entfernte Gesellschaft funktionierte. Dann entdeckt man auch die vielen Parallelen zur Gegenwart und versteht am Ende vielleicht Mark Twains berühmten Ausspruch: Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.

„Dark Rome“ ist ein Schlüssel für die verschlossenen Türen, hinter denen Roms Geschichte so lebendig wird wie selten zuvor.

Bewertung vom 06.03.2022
Haiku. Gedichte aus fünf Jahrhunderten

Haiku. Gedichte aus fünf Jahrhunderten


ausgezeichnet

Haiku sind japanische Kurzgedichte, die sich aus der mittelalterlichen Tradition des Kettengedichts Haikai entwickelt haben. Der Begriff „Haiku“ ist erst im späten 19. Jahrhundert entstanden, als das Anfangsglied des klassischen Kettengedichts längst eine eigene Kunstform war, die sich bereits in viele Spielarten und Schulen aufgespalten hatte. Gemeinsam ist ihnen, dass sie eine strenge Versstruktur von 5-7-5 Silben und einen Jahreszeitenbezug besitzen, der sich aus den sogenannten Jahreszeitenworten ergibt, die man ggf. auch in umfangreichen Katalogen nachschlagen kann. Viele Haiku spielen auf japanische Traditionen, Feste oder handwerkliche Tätigkeiten an, die es heute nicht mehr gibt und die nicht selten auch für Japaner einer Kommentierung bedürfen. Entsprechend umfangreich ist die Kommentarliteratur, die in der Regel auch Biografisches berücksichtigt.

Ich erwähne das hier so ausführlich, um klarzumachen, dass eine Haiku-Sammlung ohne Kommentierung vielleicht einen gewissen sprachlichen Reiz darstellt, aber das Wesentliche nicht übermitteln kann: Die Interpretation vor dem kulturellen Hintergrund. Und erst da werden Haiku nach meiner Erfahrung erst so richtig interessant. Eduard Klopfenstein, der schon einige hervorragend kommentierte Haiku-Anthologien herausgegeben hat, und Masami Ono-Feller, die als einziges Mitglied der japanischen Renku-Gesellschaft außerhalb Japans auch aktiv in der zeitgenössischen Haiku-Szene vernetzt ist, haben über 300 Gedichte aus fünfhundert Jahren zusammengetragen und damit einen historisch-stilistischen Abriss geschaffen, wie es ihn nach meinem Wissen bisher in deutscher Sprache nicht gibt.

Jedes Gedicht wird zunächst auf Japanisch wiedergegeben, neben der Notation in Kanji und Hiragana (zwei japanischen Schriftsystemen) auch im Kunrei-Notationssystem, um auch dem deutschen Leser eine Klangvorstellung zu geben. Die entsprechenden Jahreszeitenworte sind markiert und werden aufgeschlüsselt.
Der Kommentar erklärt biografische und/oder (kultur)historische Hintergründe und legt besonderen Wert auf Probleme der Übersetzung. Grammatikalische Unschärfen, die im Japanischen absolut beabsichtigt sind, lassen sich oft nicht sinnvoll in die deutsche Sprache übertragen, ebenso wie die häufig vorkommenden „Türangelworte“, die sich in zwei Satzteile gleichzeitig erstrecken. Es gibt so etwas zwar auch im Deutschen, aber meistens kann man sie nicht mit dem Versmaß oder dem Sinn in Einklang bringen. Eduard Klopfensteins Übersetzungen versuchen so weit wie eben möglich das Versmaß zu erhalten und die dabei entstehenden Schwierigkeiten im Kommentar aufzulösen. Das ist äußerst spannend und fügt den Haiku gleich mehrere neue Ebenen hinzu.

Gerade wegen der umfassenden Erklärungen wird dem Leser schnell bewusst, dass Assoziationsketten, wie wir sie mit unserem westlichen Kulturhorizont erstellen, nicht unbedingt dieselben sind, wie sie Japaner mit dem ihren knüpfen. Ich will damit keinesfalls den (eindeutig falschen) Mythos aufwärmen, dass nur Japaner japanische Kultur verstehen, nur muss man sich an diese Denkweise schrittweise herantasten. Durch den chronologischen Aufbau der Sammlung bekommt man zunehmend ein Gespür für das Wesen des Haiku und damit in gewisser Weise auch für die Seele Japans.

Es sind alle bedeutenden Autoren der Haiku-Geschichte vertreten, sowohl mit ihren berühmtesten Werken als auch weniger bekannten. Außerdem sind auch einige Dichterinnen für diese Sammlung „entdeckt“ worden, die man hier im Westen fast überhaupt nicht kennt. Herausgekommen ist eine sehr umfangreiche, qualifiziert kommentierte Haiku-Sammlung für die breite Öffentlichkeit, die sich auch ohne Vorkenntnisse leicht erschließt.

Bewertung vom 04.03.2022
Malaga die Blinde
Lacombe, Benjamin

Malaga die Blinde


ausgezeichnet

In seinem neuen Buch verarbeitet Benjamin Lacombe ein traumatisches Erlebnis, das ihn zutiefst verunsichert hat: In einer außergewöhnlichen Stresssituation verlor er vorübergehend sein Augenlicht, was für einen Illustrator sicherlich das Schlimmste ist, was er sich vorstellen kann.

Im Buch erfährt die blinde Seiltänzerin das umgekehrte Schicksal: Nach einem Sturz vom Hochseil kann sie plötzlich wieder sehen, was durch dunkle Transparentpapiere dargestellt wird, die das darunterliegende Bild zunächst nur schemenhaft erkennen lassen, bevor man durch das Umblättern die Szene ganz aufdeckt. Es lässt dem Leser bewusst werden, was für ein Schock die bunten Farben sein müssen, nach einem Leben in Düsternis, aber auch welche Möglichkeiten sich daraus eröffnen. In seinem Nachwort beschreibt Benjamin Lacombe diesen Vorgang als die Resilienz, mit neuen Umständen positiv umzugehen, sie anzunehmen und als Chance zu begreifen.

Die Bilder sind im typischen Lacombe Stil gehalten, in märchenhaften Umgebungen, einer dezenten Farbigkeit und luftigen Figuren, die zu schweben scheinen. Wie auch in den anderen Büchern, die ich von ihm kenne, gibt es zahlreiche surrealistische und symbolistische Anspielungen, die aber leicht zu entschlüsseln sind.

Interessant ist vielleicht noch, dass es im 18. Jahrhundert tatsächlich eine blinde Seiltänzerin gab, von deren Existenz Lacombe zum Zeitpunkt des Schreibens aber noch nichts wusste. Ihr Name war Malaga.

Bewertung vom 01.03.2022
Tamons Geschichte
Hase, Seishu

Tamons Geschichte


sehr gut

Der Schäferhundmischling Tamon ist auf einer Reise, die er mit unerschütterlicher Ausdauer verfolgt. Auf dem Weg begegnet er verschiedenen Menschen, die ihm weiterhelfen und deren Leben er eine kurze Zeit begleitet. Bei allen hinterlässt Tamon einen bleibenden Eindruck, ja es scheint fast, als ob er in ihre Schicksale aktiv eingreift. Zumindest erleben alle Personen einen (meistens traumatischen) Einschnitt in ihrem Leben, während sie der zutiefst menschenfreundliche Vierbeiner begleitet.

Tamon ist ein Hund, wie ihn die Japaner lieben. Es gibt unzählige Geschichten von der unverbrüchlichen Treue des Hundes, davon ist Hachikos sicher die berühmteste. 7 Jahre lang wartete der Akita vergeblich an der Shibuya Station in Tokyo auf sein verstorbenes Herrchen. Heute erinnert eine Bronzestatue neben dem Eingang an das treue Tier.
Aber die Geschichte preist auch andere, sehr japanische Tugenden. So ist Tamon ein Musterbeispiel für Wohlerzogenheit und regelhaftes Verhalten. Als westlicher Leser kennt man Hunde mit einem derart ausgeglichenen, dabei blind gehorsamen Charakter kaum. Tamon ist einerseits aufopfernd unterwürfig, andererseits besitzt er einen starken Willen, der ihn von Sendai (wo kurz zuvor die Tsunamikatastrophe von 2011 stattgefunden hat) bis nach Kumamoto auf der Südinsel Kyushu führt. Ich möchte an dieser Stelle nicht mehr verraten, aber sein Ziel ist eine ganz bestimmte Person, mit der er auf übersinnliche Weise verbunden ist. Auch dieser Handlungsstrang ist absolut typisch für japanische Erzählungen, die nicht selten von einem starken buddhistischen Motiv durchzogen sind. Hier ist es das Thema der über den Tod hinaus verbundenen Seelen, die sich in jeder Stufe der Wiedergeburt erneut begegnen. Auch das schlägt bei Japanern zuverlässig Saiten der Rührung an.

Die Geschichte endet hochdramatisch in einem spektakulären Showdown, der ebenfalls bei vielen Japanern sehr junge Erinnerungen wachruft und auch erklärt, warum das Buch in Japan so extrem erfolgreich ist. Seishu Hase trifft hier genau den Zeitgeist und seine einfache, ungekünstelte Sprache erfordert auch kein literarisches Vorwissen, wie es bei japanischer „Hochliteratur“ vorausgesetzt wird. Vor diesem Hintergrund bietet sich der Roman für eine Übersetzung an.

Auch wenn der deutsche Text im Wesentlichen gelungen ist, übersetzt Luise Steggewentz manchmal knapp am richtigen Wort vorbei. Zumindest trifft sie in diesen Fällen im Deutschen nicht den richtigen Ton, wodurch der Lesefluss etwas ins Stocken kommt, wenn man über das möglicherweise richtige Wort nachdenkt.

„Tamons Geschichte“ gibt Einblicke in viele japanische Gesellschaftsschichten, aber auch in Japans Werte und Traumata und wie die Japaner sie verarbeiten. Es ist leicht zu lesen und vor allem der Schluss ist sehr berührend.

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