Bewertungen

Insgesamt 577 Bewertungen
Bewertung vom 16.09.2007
Halloween
O'Nan, Stewart

Halloween


ausgezeichnet

Stewart O'Nan ist ein Vielschreiber. Seine Geschichten reichen vom Zirkusbrand, über Familienromane wie Sommer der Züge oder Abschied von Chautauqua bis zu kleineren Romanen wie Engel im Schnee oder Speed Queen. In ihnen zeigt sich seine wahre Meisterschaft. Kein Wort zuviel, eher wird auf Sätze verzichtet, die wir Leser in uns aufspüren sollen. Auch bei Halloween handelt es sich um ein solches Kabinettstück. Was bei der Kurzusammenfassung an Stephen King erinnern mag, entwickelt einen Sog der unterschiedlichen Stimmen, die den Hintergrund eines verhängnisvollen Unfalls schildern, der einem lange im Gedächtnis haften bleibt. Es ist die Frage nach Schuld, das flüchtige Gefühl von Freiheit, die die Helden dieser Geschichten umtreibt. Avon in Connecticut kommt einem dabei vor, als rase man hindurch und habe etwas gesehen, über das man sich den Kopf zerbricht, was es denn gewesen könnte. Bis einem klar wird, daß man von sich etwas dort zurückgelassen hat. Lesen!
Polar aus Aachen

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.09.2007
Die Brücke vom Goldenen Horn
Özdamar, Emine Sevgi

Die Brücke vom Goldenen Horn


ausgezeichnet

Wenn man kein Wort Deutsch spricht, sieht man den deutschen Alltag abseits der Villen und Belletage anders. Man muß sich die Worte gleichermaßen erfinden, verstehen lernen, was einem fern liegend erscheint. Özdamar führt uns an den Rand der Gesellschaft, wo sich, was einst als Gastarbeiter bezeichnet, dann das Gast gestrichen und es durch Fremd ersetzt wurde, ein Auskommen, ein Leben verdient. Es ist die Geschichte eines wachsenden Bewußtseins, des allmählichen Herausbildens eines eigenen Blicks zwischen Tradition und modernen 68er Umbruch. Es ist auch der Versuch verschiedenen Kulturen in sich zu vereinen, um sich nicht völlig entwurzelt vorzufinden. Kraftvoll in seinem poetischen Ansatz, der Sprache, der Hoffnung, es versuchen zu müssen, um nicht verloren zu gehen.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 16.09.2007
Das Glück der anderen
O'Nan, Stewart

Das Glück der anderen


sehr gut

In seinen kürzeren Roman schafft es Stewart O'Nan eine Art Kammerspiel des Schreckens zu entwerfen, in das ein kleiner Ort verstrickt ist und an seinem Dilemma verzweifelt. In Halloween waren es die Stimmen der bei einem Unfall getöteten Kinder, die die Lebenden verfolgten. In Das Glück der anderen bricht eine Seuche über die Bewohner herein, schleicht sich eine Katastrophe an, wird verharmlost, verdrängt und greift mit entschlossenem Wahnsinn um sich. Eine Geschichte, die leicht in den Horror hätte abdriften können, wenn sie nicht von einem Könner wie O'Nan geschrieben worden wäre. Sein Jacob Hansen muß miterleben, wie sein Privatleben, wie die Menschen, für die er sich verantwortlich fühlt, mit der Seuche untergehen. Dabei ist O'Nan weniger am Schauer, am Schrecken gelegen als an der Schilderung, wie schnell sich unser Leben als gelebt herausstellen kann und wie wenig wir womöglich am Ende in der Hand halten.
Polar aus Aachen

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.09.2007
Der englische Patient
Ondaatje, Michael

Der englische Patient


ausgezeichnet

Schriftsteller werden oft davor gewarnt, in Rückblenden zu erzählen. Ein Leser brauche eine lineare Erzählung, an der sich die Ereignisse wie Perlen aneinanderreihen. Ondaatje beweist in diesem Roman, daß vom Leben der Gestrandeten, der in einem Krieg Ausgespuckten nur noch eines Bestand hat: der Erinnerungsfetzen, das Puzzle, was einem geblieben ist, das Aussparen wollen von Bitterem, vom Schrecken, wie von Liebgewonnenem, daß man in seiner Abwesenheit nicht mehr erträgt. Was in Italien wie ein Kammerspiel mit vier Personen daherkommt, öffnet sich in den Rückblenden zu einem breiten Kosmos der Welt vor und zu Zeiten eines Kriegs, entführt uns in die Wüste zu den Nomaden und in die ausgelagerte englische Gesellschaft im Ausland mit ihren halbseidenen Intrigen. Das Leben in der Nachkriegszeit ist nur unter Morphium für den Patienten zu ertragen. Er stirbt und sieht darin eine gerechte Strafe für eine zurückgelassene Liebe. Während der Dieb seinen Folterer sucht, sich zwischen Bombenentschärfer und Krankenschwester verstohlene Liebe ohne Zukunft regt. Sie alle werden weiterziehen, entwurzelt leben. Sie klammern sich nur für einen Moment aneinander, um wieder zu Kräften zu kommen. Kräfte, die ihnen entzogen wurden und von denen sich nicht wissen, ob sie in alter Stärke zu ihnen zurückkehren. Wo wollen sie hin? In die Heimat zurück? Wo liegt die? Ondaatje hat die Zerrissenheit der Menschen, die einen Krieg erlebt haben, ein literarisches Denkmal gesetzt. Es läßt niemanden unberührt zurück.
Polar aus Aachen

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.09.2007
Stücke III
Bernhard, Thomas

Stücke III


ausgezeichnet

Der Band versammelt vier der besten Stücke Thomas Bernhards. In Vor dem Ruhestand setzt er sich mit der Vergangenheit eines ehemaligen unverbesserlichen SS-Offiziers auseinander, der es nach dem Krieg zum Gerichtspräsident gebracht hat und dabei Frau und Schwester zu Himmlers Geburtstag mit seinen Wortgetümen drangsaliert. In Der Weltverbesserer ist nicht nur durch Bernhard Minettis Darstellung zu einer brillanten Komödie in Erinnerung geblieben, es ist auch eine Farce über Ehrungen an sich und das Leben für die Philosophie. In Über allen Gipfeln ist Ruh heißt die Hauptfigur Moritz Meister ist Verfasser einer Tetralogie und dem Irdischen in den Literaturhimmel entschwebt und als viertes Der Schein trügt. Was mancher als Rollenprosa bezeichnen mag, ist die Kunst den Monolog so zu verfeinern, daß er mit sich selbst in den Dialog tritt. Wer Thomas Bernhards Sprache noch nicht verfallen ist, mag sie sich in seinen Stücken gesprochen vorstellen. Es ist ein Rasen der Wiederholungen, gesprenkelt mit tieferen Einsichten, es ist ein Bespiegeln seines Selbst umgeben von Stichwortgebern. Vor allem sind die Stücke große Tragikkomödien, die lediglich an der Oberfläche unpolitisch erscheinen. Provokant im Privaten wie in der Bloßstellung.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 16.09.2007
Frühstück bei Tiffany
Capote, Truman

Frühstück bei Tiffany


ausgezeichnet

Es gibt Romane, die haben es schwer. Wer mag sich Frühstück bei Tiffany ohne Audrey Hepburn vorstellen. Doch was wäre Audrey ohne Holly? Selten haben Roman- wie Filmfigur so gut zueinander gepaßt. Obwohl die Kurtisane im Roman aus Rücksicht auf die prüden Gefühle der Kinogänger hinter dem Charme des Zweideutigen entschwindet. Flaubert hat behauptet: Madame Bovary, c'est moi. In Anlehnung daran hätte Capote durchaus darauf bestehen können, daß er Holly Golighty ist. Nicht nur der Name verweist auf ihr Leben: Nimm's leicht. Das Leben als Spiel. Mit den Augen ihres Nachbarn folgen wir ihnen. Er wie wir können uns nicht so auf die leichte Schulter nehmen. Holly ist Neunzehn, die Zukunft bricht an, die Männer verfallen ihr. Es ist ein einziges kokettieren, parlieren, flanieren. Party. Und läßt das Schicksal einmal seine dunkleren Seiten aufscheinen, muß man sie ja nicht unbedingt annehmen. Sie sind da, na und? Eine Frohnatur, sie bringt Glanz in das Leben jener, die sie haben kennen lernen dürfen und dann verschwindet sie, was besser zu ihr paßt, als das tränenreiche Hollywoodende. Und wie sehr der Leser sich von ihr zum Leben hat verführen, spürt er, wenn sie einem fehlt. Truman Capote hat auf sie aufgepaßt und sich mit ihr unsterblich gemacht.
Polar aus Aachen

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.09.2007
Total Cheops
Izzo, Jean-Claude

Total Cheops


ausgezeichnet

Wie viel muß ein Autor von einer Stadt verstehen, wenn er einem Leser nicht nur das Postkartenbild nahe bringt, ihm vielmehr Einblick in die Schwachstellen, die Brennpunkte verschafft? Italiener, Spanier, Nordafrikaner bevölkern diesen Roman, indem natürlich auch Franzosen vorkommen. Izzo führt uns in die Welt der Banlieus ein, dort, wo der beste Freund schon mal Polizist wird, während der andere eine Karriere als Gangster zurücklegt. Fabio Montale und seine Freunde haben ihre Jugend nicht überlebt. Sie verbindet gemeinsame Erinnerungen, und sie trennt die Liebe zu einer Frau. Als einer von ihnen ermordet wird, nimmt Montale die Ermittlungen auf und fürchtet sich vor dem, was er womöglich herausfinden wird. Ein melancholischer Blick, auf das, was Menschen ausmacht: Familie und Freunde, auf Heimat und Vertreibung, auf Rassismus wie Verbrechen, auf die Liebe zu dem, was einmal war. Auch Montale wird dorthin nicht zurückfinden, aber er wird sich ein wenig mit sich selbst aussöhnen. Ihm bleibt das gute Essen und das Wissen um das Schicksal der Einwanderer. Egal in welcher Generation, egal ob legal oder illegal. Schwermütig angesichts der Aussichtslosigkeit.
Polar aus Aachen

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.09.2007
Kim Novak badete nie im See von Genezareth
Nesser, Hakan

Kim Novak badete nie im See von Genezareth


ausgezeichnet

Fast schon ein Jugendroman, wäre da nicht ein Mord geschehen. Hakan Nesser verläßt sich diesmal nicht auf die Routine seines Kommissar Van Veeteren. Er beschreibt eher eine Familiengeschichte als einen Krimi. Das Problem besteht darin, wenn etwas aus Kindersicht erzählt wird, treten oft die Gedanken des Erwachsenen dahinter hervor. Nesser umschifft diese Klippe gekonnt und schafft das schwedische Panorama von Sommerhaus, See, Mücken und dem obligatorischen Dorftfest. Daß die von vielen angehimmelte Schönheit dann ihren Verlobten verliert, der Bruder des jugendlichen Helden in Verdacht gerät, hat etwas von Enid Blyton, auch wenn Nesser der bessere Erzähler ist. Wer die Seelandschaft mag, im Sommer gerne mit dem Fahrrad unterwegs ist, der wird sich abends kurz vorm Schlafengehen sicher von diesem Roman fesseln lassen. Verbunden mit Dietmar Bärs einfühlsamer Stimme trägt er einen wohlig in eine andere, wenn auch nicht ganz idyllische Zeit.
Polar aus Aachen

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.09.2007
Schule der Gewalt
Niemann, Norbert

Schule der Gewalt


ausgezeichnet

Die Medien überschlagen sich in Berichten über die Gewaltbereitschaft der jungen Generation, ihrer Entfremdung auf Grund der neuen Medien, denen sie sich ausschließlich verschreiben und deren Möglichkeiten, die sich ihnen dort ungefiltert darbieten. Es ist nicht mehr zu kontrollieren, was sie sich ansehen, sie sind zum Geschäft geworden, bei dem der FSK versagt. Sie finden Ausdrucksmöglichkeiten, die nur sie verstehen, nehmen mit dem Handy Videos von sich auf und stellen sie ins Netz. Dabei überschreiten sie jeden Selbstschutz. Norbert Niemans Roman zielt in deren Mitte, stellt sich der Gewalt, die sein Held lostritt, indem er mit Vorstellungen antritt, die für die Jugendlichen antiquiert sind. Er verfällt einer Art platonischer Liebe von Lehrer zu Schülerin, die in diesem Umfeld einen weitaus größeren Sprengstoff findet, als er ihn aus moralisch-ethischen Gründen schon immer darstellte. Ein wichtiges Buch. Vor allem ohne Scheuklappen geschrieben, nicht dozierend, sondern erzählerisch. Frank Beck ist um sein Leben nicht zu beneiden. Aber so sprachlos wie er steht die alte vor der neuen Generation.
Polar aus Aachen

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.