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miss.mesmerized
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Deutschland
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Bewertungen

Insgesamt 1245 Bewertungen
Bewertung vom 30.07.2020
Spring
Smith, Ali

Spring


sehr gut

Just as the years moves on so does Ali Smith with the third volume of her seasonal quartet. Now, its spring time, the time of the year between death and re-birth, between the end and a new beginning. A promising time, but also a time which can surprise and is hard to foresee. This time, we meet Richard, an elderly filmmaker who is still shaken by his former colleague and friend Patricia Heal’s death. He remembers his last visits when she was already between here and there. Richard is standing on a train platform with clearly suicidal intentions when a girl and a custody officer rush by. Florence and Brittany are headed for a place which they assume somewhere in Scotland, on their journey this unusual couple also addresses the big questions of life and humanity which Brittany can hardly find in the prison she works where the detainees are dehumanised and not even granted the least bit of privacy.

Just like the two novels before in this quartet, Ali Smith captures the mood of the country at a very critical point. In my opinion, “Spring” is absolutely outstanding since it has several layers of narrative, it is philosophical, literary, sociological, psychological, political – an eclectic mix of thoughts and notions that come together or rather have to be put together by the reader. While, on the one hand, being were close to an archaic understanding of the concept of time and the natural course of a year, there are many references to artists and the imaginary world.

Underlying the whole novel is a certain despair - Richard’s grieve, Britt’s disillusion with her job, Florence’s detachedness from humans which makes her almost invisible – in a time of political shaky times: Brexit, migration crisis, an overall suspicion in society about what (social) media and politics tell them and more importantly what they do not tell. Will there come a summer? And if so, what will it be like? As spring always is a new beginning, something might be overcome or left behind and something has the chance to flourish, at least the hope remains.

I found it a bit harder this time to find my way in the novel, therefore, “Autumn” remains my favourite so far and I am quite impatient to see, what “Summer” will bring.

Bewertung vom 27.07.2020
American Spy
Wilkinson, Lauren

American Spy


ausgezeichnet

Als eines nachts ein Mann in ihr New Yorker Apartment einbricht und versucht, sie zu töten, weiß Marie, dass es Zeit ist zu fliehen und ihre Zwillingssöhne außer Landes zu bringen, da sie dort nicht mehr sicher sind. Als ehemalige FBI Mitarbeiterin weiß sie, wie sie sich selbst verteidigen kann, sie hat schlimmeres erlebt, aber nicht ihre Kinder. Sie flieht in ein kleines Dorf auf Martinique, wo ihre Mutter schon seit Jahrzehnten lebt. Sie hofft, dass sie dort Zeit und Ruhe findet, um alles, was schon vor Jahren geschah, für ihre Söhne aufschreiben zu können, damit diese verstehen werden, wenn sie einmal alt genug dafür sind. Sie denkt an ihre Anfangszeit zurück, als sie den Eindruck hatte in einer Sackgasse festzustecken und dann die unerwartete Gelegenheit auf etwas Größeres, etwas Gutes – was jedoch in einem afrikanischen Blutbad endete und sie zum Untertauchen zwang.

Nach einigen kürzeren Texten ist „American Spy“ Wilkinsons erster Roman. Faszinierend sind an dem Thriller neben der actionreichen Handlung vor allem die unzähligen Aspekte, die sich diskutieren lassen würden. Die Handlung ist während des Kalten Krieges angesiedelt und legt so natürlich die Betrachtung der beiden Großmächte nah, die in Afrika ihre Stellvertreterkriege führten. Man kann das Buch jedoch auch unter feministischer Sicht betrachten, da die Protagonistin Schwierigkeiten hat, ihren Platz in einer Männer dominierten Behörde zu finden, wo sie auch mit offenem Sexismus konfrontiert wird. Marie und ihr Hintergrund als karibische Einwanderin lassen den Roman auch im Rahmen der Diskussion um PoC in der Literatur interessant werden.

Der Thriller ist spannungsreich und erlaubt einen Einblick in die Arbeit von Agenten: die komplexen politischen Situationen, in denen sie sich wiederfinden und die Tatsache, dass die Welt häufiger voller Grauschattierungen ist denn schwarz/weiß, zwingt sie bisweilen dazu, ihre Ideale über Bord zu werfen oder ihren Job zu quittieren. Besonders gut gefallen hat mir auch Maries Familiengeschichte und die Geister, die sie verfolgen, in Kombination mit der Weltpolitik, die letztlich ebenfalls im Freund-Feind-Schema oszilliert. Da man leicht Sympathien für die Protagonistin entwickelt, fällt das Eintauchen in die Geschichte auch nicht schwer und ganz nebenbei wird auch noch eine Menge an Wissen über Burkina Faso transportiert, ein mir bis dato völlig fremdes Land.

Bewertung vom 25.07.2020
Verschollen in Palma
Kallentoft, Mons

Verschollen in Palma


sehr gut

Tim Blanck konnte es nicht ertragen. Spurlos ist seine Tochter Emme auf Mallorca verschwunden und die Polizei scheint nicht gerade bemüht nach dem 16-jährigen Mädchen zu suchen. Also kündigt er seinen Job und reist selbst auf die Balearen-Insel. Drei Jahre sind inzwischen vergangen und Spuren gibt es keine. Als Privatermittler verdient er inzwischen sein Geld, sein neuer Fall schein einfach: der deutsche Unternehmer Peter Kant hat ein anonymes Schreiben erhalten, demzufolge ihn seine Frau Natascha betrügt. Es dauert nur wenige Stunden, bis Tim den Beweis dafür hat. Als er dem Auftraggeber die Fotos vorlegt, scheint dieser relativ gefasst, gewillt, mit Natascha wieder alles ins Reine zu bringen. Doch nur kurze Zeit später wird Kant verhaftet: seine Frau ist spurlos verschwunden und ihr Liebhaber tot. Ein klassischer Fall von Eifersuchtsmord. Doch Kant beteuert glaubhaft seine Unschuld und Tim will diese beweisen, vor allem nachdem Kant in der Zelle scheinbar Selbstmord begangen und einen Abschiedsbrief mit Geständnis hinterlassen hat. Doch die Schrift ist sicher nicht seine. Tim beginnt zu wühlen und ahnt nicht, mit wem er sich anlegt.

Mons Kallentoft ist seit vielen Jahren eine bekannte und vielfach ausgezeichnete Größe unter den schwedischen Krimiautoren, mich konnte er vor allem mit seinen Malin Fors und Zack Herry Reihen begeistern, die beide mit starken Figuren und komplexen Handlungen überzeugen. „Verschollen in Palma“ ist der Beginn einer womöglich neuen Reihe um den schwedischen Privatermittler auf der Mittelmeer-Insel.

Zunächst scheint völlig klar, worum es bei der Handlung geht: ein verzweifelter Vater ist auf der Suche nach seiner Tochter, hofft auch nach Jahren noch auf ein Lebenszeichen und will diese nicht aufgeben, solange es keine Gewissheit über ihren Tod gibt. Sein Job als Privatermittler scheint nur ein Nebenschauplatz, der sich dann jedoch rasant zu einem komplexen Fall ausweitete, der schlichtweg nichts auslässt: Korruption in allen Bereichen der Verwaltung und Polizei, Vetternwirtschaft schlimmster Sorte, Drogen, zwielichtige Partys, bei denen die High Society der Insel nicht nur alle Arten von Drogen konsumiert, sondern vor allem auch sehr junge Mädchen misshandelt. Es ist ein wahrer Sumpf, in den der Protagonist förmlich hineinfällt. Glaubwürdig wird das Ausmaß der Verstrickungen und des Abgrunds immer weiter ausgedehnt, bis es zu dem notwendigen Showdown kommt.

Geschickt hat der Autor den Kriminalfall aufgezogen und vor allem völlig unerwartet in eine gänzlich andere Richtung entwickelt. Das Tempo nimmt in der Erzählung stetig zu und die Geschichte wird routiniert zu einem passenden Ende geführt. Einzig, es fehlt der Schlusspunkt. Ein interessanter Aspekt, der offen lässt, was an dieser Stelle gesagt wird – auch wenn man es sich denken kann – aber auch, ob die Handlung fortgeführt werden wird. Gewohnt routiniert erzählt, aber im Vergleich zu den beiden Reihen um Malin Fors und Zack Herry für mich nicht ganz so stark.

Bewertung vom 24.07.2020
Find Me Finde mich
Aciman, André

Find Me Finde mich


ausgezeichnet

Die ruhige Zugfahrt, die Samuel nach Rom zu seinem Sohn Elio führen soll, wird durch die Ankunft einer jungen Frau mit Hund, die sich zu ihm setzt, jäh gestört. Was der Professor nicht ahnt, ist, dass diese Begegnung sein ganzes Leben auf den Kopf stellen wird. Vorsichtig beginnt das Gespräch mit Miranda, doch bald schon merken sie beide, dass sie sich viel zu sagen haben, ebenso viel aber auch gar nicht gesagt werden muss, weil sie sich blind verstehen, fast so als würden sie sich schon ewig kennen. Sie könnte seine Tochter sein, Zurückhaltung ist geboten, doch am Ende des Tages werden sie gemeinsam durch Rom schreiten. Elio wird gleichermaßen durch eine zufällige Begegnung bei einem Konzert in einer Pariser Kirche von Amors Pfeil getroffen und genau wie sein Vater findet auch er den Mut, scheinbar vorhandene Schranken zu ignorieren und dem Herzen zu folgen.

„Find me/Finde mich“ führt die Geschichte fort, die André Aciman in „Fünf Leben lang“ begonnen hat. Wieder geht es um die Liebe und wieder sind die einzelnen Kapitel nur lose miteinander verwoben und auch in diesem Roman schreibt der Autor über Grenzen, die die Figuren wahrnehmen, die sie jedoch überschreiten, ohne Rücksicht darauf, wie ihr Umfeld reagieren wird. Die beiden ersten, langen Kapitel sind detailreich, emotional, intensiv und lassen damit die beiden kürzeren etwas verblassen.

„Die Liebe ist einfach“, sagte ich. „Was zählt, ist der Mut zu lieben und der Mut zu vertrauen, und nicht jeder hat beides.

„Tempo“ und „Cadenza“, die beiden ersten Kapitel, weisen viele Parallelen auf: beide Male eine zufällige Begegnung, beide Male eine unmittelbare Vertrautheit, zwei ungleiche Partner, die sich zu einander hingezogen fühlen und merken, dass sie jetzt mutig sein müssen, wenn sie nicht wollen, dass diese einmalige Begegnung verpufft und nur Erinnerung bleibt. Beide Male sind es auch die Beziehungen zwischen Vater und Sohn, die ganz wesentlich für die Entwicklung der Charaktere sind. Samuel gibt Elio das Vertrauen, das er benötigt, um offen mit seiner Liebe umzugehen. Michel hat diese tiefe Verbundenheit zu seinem Vater ebenfalls gespürt, wenn ihre auch durch ein Geheimnis, von dem nicht einmal die Mutter etwas ahnt, für immer besiegelt wurde.

Diese literarisch saubere Struktur wird durch das musikalische „Capriccio“, Kapitel drei, unterbrochen. Das Kapitel folgt dem, was der Titel ankündigt: ein Ausbruch aus der Norm, der erwartbaren Struktur, das eigensinnig das Gegenteil berichtet: Elios früherer Geliebter, Oliver, erkennt plötzlich, dass er sich nicht für die richtige Liebe entschieden hat, dass seine Wahl für ein bürgerliches Leben falsch war und er nur das Leben eines toten Mannes führt. Kapitel vier, „Da Capo“ kehrt zurück an den Anfang, den Moment, als die eigentliche Geschichte begann.

Erzählerisch wie sprachlich schlichtweg wundervoll. Um bei den Metaphern aus der Musik zu bleiben: ein großes Stück, das viele Variationen eines einzigen Themas aufweist, mal beschwingt, mal melancholisch daherkommt, ausbricht und wieder zurückkehrt. Es kommt mit zarten Noten wie sie Streichinstrumente leise produzieren, die einem förmlich die Vibrationen der Saiten erleben lassen, und ebenso mit großem Paukenschlag. Man muss am Ende einen Schritt zurücktreten, um das Ganze in Augenschein nehmen zu können und sich nicht in den einzelnen Teilen zu verlieren und noch den Nachhall dessen, was man gelesen hat, spüren zu können.

Bewertung vom 22.07.2020
Am Rand der Dächer
Just, Lorenz

Am Rand der Dächer


sehr gut

1990er Jahre in Berlin. Andrej wächst mit seinen beiden Brüdern und den Eltern in einer Ost-Berliner Altbauwohnung auf. Gemeinsam mit seinem Freund Simon streif der Junge durch das Viertel und beobachtet die Veränderungen, die mit der Wende langsam auf bei ihnen ankommen. Häuser stehen leer, Menschen sind einfach gegangen und haben alles so stehen und liegen lassen, wie es gerade war. Dafür kommen jetzt Besetzer, die sich dort einrichten als sei dies das Natürlichste der Welt. Die Jungen werden älter und mutiger, die abendlichen und nächtlichen Streifzüge werden zu Einbrüchen, bei denen sie auch erfahren, dass das Leben in den heimischen vier Wänden ganz anders aussehen kann. Erste Liebe und große Träume. Amerika, das Sehnsuchtsland, aber weniger konkrete Vorstellungen denn mehr Phantasien, ein Land, das sie sich in ihren Gedanken erschaffen. Die Tage, Monate, Jahre fließen gleichförmig dahin und lassen sich bald schon nicht mehr unterscheiden.

Lorenz Just schildert in seinem Debütroman eine recht typische coming-of-age-Geschichte der 1990er Jahre. Die Eltern durch die großen Umwälzungen im Land selbst überfordert und mit sich beschäftigt, tauchen nur am Rande auf. Als die Kinder noch klein sind, gibt es noch die Angst, dass sie einfach verschwinden und in das andere Land gehen könnten, wie so viele andere, dann aber werden sie zunehmend unbedeutend für die Entwicklung. Die Freundschaften sind es, die Andrej und seinen Bruder Anton prägen, sowie der Traum von dem unbekannten Land, der sie immer weiter von den Eltern entfremdet, wie dies ohnehin in diesem Alter der Fall ist.

„Amerika blieb ein Phantom, das sich ewig entzog. Auf Breakdance und BMX folgte ein jämmerlicher Versuch, Graffiti zu sprühen. (...) Unser Amerika, dem wir mit Basketball, zu groß gekaufter Kleidung und Musik näher zu kommen versuchten, war eher der Modus, den wir uns erwählt hatten, um wir selbst zu bleiben.“

Ein Lebensgefühl von Freiheit einerseits, die jedoch auf die wenigen Straßen um die elterliche Wohnung begrenzt bleibt. Die Sehnsucht nach echter Freiheit, die sich in dem diffusen Traum von Amerika und der Hoffnung auf ein Austauschjahr dort scheinbar realisiert. So intensiv die Zeit erlebt wurde, so wenig ist jedoch von ihr hängengeblieben. Einzelne Episoden, darüber hinaus nur mehr ein nicht greifbares Gefühl, das jedoch immer geprägt war von einer großen Ich-Bezogenheit.

Rückblickend stellt der Erzähler fest, dass er quasi nichts von vielen Freunden wusste, obwohl sie Stunden täglich miteinander verbrachten; dass ihn die Magersucht der eigenen Freundin völlig überrascht hat, als wenn diese aus dem nichts auftauchen habe können; dass eine gespielte Coolness sie daran hinderte über das zu reden, was wichtig gewesen wäre. Ein recht resigniertes Fazit, das jedoch für mein Empfinden zu hart ist. Die Teenagerzeit ist nun einmal so, es ist nicht die Zeit, in der Jungs über Gefühle reden oder ihre Träume hinterfragen würden.

Genau hier liegt für mich die Stärke des Romans, er wirkt unglaublich authentisch und ist nah bei den Figuren. Trotz der rückblickenden Distanz des Erzählers urteilt er nicht über sie, sondern lässt sie genau das sein, was sie sind und das hat der Autor hervorragend eingefangen. Der Roman ist nicht urkomisch, wie es Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ bisweilen ist, auch nicht so traurig wie Carmen Buttjers Roman „Levi“, der eine ähnliche Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte eines Jungen, der in einer Blase lebt, einer Zeit, die es so nie mehr geben wird und die er auch nie mehr erleben kann, die intensiv war, aber von der vieles nur noch bruchstückhaft in Erinnerung geblieben ist – genauso ist es, das Leben. Aber immerhin kann man über literarische Leben nochmals in diese Zeit der Sorglosigkeit und des Glaubens an die eigenen unbegrenzten Möglichkeiten eintauchen und das ermöglicht einem Lorenz Just auf ganz eindrucksvolle Weise.

Bewertung vom 21.07.2020
Kein Ort ist fern genug
Amigorena, Santiago

Kein Ort ist fern genug


ausgezeichnet

1928 verlässt Vicente Rosenberg seine Heimat Warschau Richtung Südamerika. In Buenos Aires gründet er mit Rosita eine Familie und eröffnet ein Möbelgeschäft. Sie bekommen drei Kinder und alles entwickelt sich prächtig in der lebendigen Stadt. Doch dann werden die Briefe der Mutter zunehmend besorgniserregend. Juden hatten es schon lange nicht mehr leicht, aber nun scheint sich die Lage doch zu verschlimmern. Während die Nazis in Europa die Endlösung vorbereiten, sitzt Vicente machtlos 12.000 Kilometer entfernt. Nachrichten erreichen ihn nur spärlich und verzögert, bald schon kann und will er diese nicht mehr ertragen und zieht sich zurück in sein inneres Ghetto. Wie die Mauer, die Warschau umschließt, verschließt er sich vor der Welt und seiner Familie. Fragen nach der Identität – was ist er: Pole, Argentinier, Jude? – und Schuld – hätte er mehr tun müssen, um seine Mutter zur Auswanderung zu bewegen, bevor es zu spät war? – plagen ihn bis er nur noch einen einzigen Ausweg für sich sieht.

Santiago Amigorena schildert die Geschichte seines Großvaters, seiner Familie, die Vertreibung auf beide Seiten des Atlantiks erlebt hat. Viele Sprachen fließen in seinen Adern, Vicente wächst mit dem Jiddischen auf, lernt dann Polnisch für die Schule, ist begeistert von der deutschen Sprache und Kultur und eigentlich sich dann das argentinische Spanisch an, sein Enkel muss später im französischen Exil erneut eine andere Sprache erlernen. Doch alle Sprachen der Welt können nicht das Entsetzen zum Ausdruck bringen, dass mit der Shoa verbunden ist und das am Beispiel Vicentes greifbar wird.

Es sind nur wenige Jahre, die Amigorena schildert, von Ende 1940 bis zum Waffenstillstand 1945, diese jedoch sind entscheidend für Vicente Rosenberg und machen aus dem lebendigen und energischen jungen Vater einen gebrochenen Mann. Der kurze Roman ist dicht und voller essentieller Fragen, die nachdenklich stimmen.

„Wie alle Juden hatte Vicente geglaubt, vieles zu sein, bis die Nazis ihm zeigten, dass ihn tatsächlich nur eines charakterisierte: sein Jüdischsein.“

Weder war er besonders religiös, noch war das Jiddische seine Alltagssprache, in verschiedenen Ländern und Sprachen zu Hause wurde plötzlich etwas zum Distinktionsmerkmal, das Hitler und seine Gefolgsleute brauchten, um sich selbst zu rechtfertigen. Die Definition des Ichs obliegt jetzt nicht mehr dem Individuum, sondern ihm wird zugeschrieben, was er/sie ist und trotz der Entfernung merkt auch Vicente, dass er sich zunehmend als Jude identifiziert und Mitglied der Leidensgemeinschaft wird, ohne jedoch unmittelbar selbst Leid zu erfahren.

Genau dieses treibt ihn in den emotionalen Ausnahmezustand. Er fühlt eine Schuld, fühlt sich als Verräter, denn er ist weit entfernt von der Gräuel, muss nicht erleben, was seine Familie und Freunde durchmachen müssen. Dabei verfügt er nur über wenig Belastbares, was das Ausmaß der Schandtaten angeht. Wie alle anderen ahnt er, dass unbegreifliche Dinge geschehen, aber erst nach der Befreiung wird die Welt begreifen und einen Begriff dafür finden, was die Nazis in Europa angerichtet haben. Doch das wenige Wissen reicht schon, um Vicente zur inneren Migration zu veranlassen und das Reden einzustellen. Nicht dass er nicht wollte, er kann nicht mehr. Das, was er durchlebt, ist sinnbildlich für das, was sich in den Lagern abspielte, und was nicht in Worte zu fassen ist.

Amigorenas Roman war nach Erscheinen 2019 für alle großen französischen Literaturpreise nominiert, was einem nach der Lektüre nicht verwundert. Die Geschichte ist intensiv, jedes Wort passt hier und lässt den Ausnahmezustand des Protagonisten greifbar werden. Der Aufbau in der Parallelität zwischen den inneren und äußeren Vorgängen ist schlicht genial. „Kein Ort ist fern genug“ ist eines dieser ganz wenigen Bücher, die man liest und denkt: so geht große Literatur.

Bewertung vom 19.07.2020
Alter Hund, neue Tricks / Sean Duffy Bd.8
McKinty, Adrian

Alter Hund, neue Tricks / Sean Duffy Bd.8


ausgezeichnet

Teilzeitpolizist Sean Duffy ist schon auf dem Weg zur Fähre zurück zur Familie, als sein Chef ihn bittet, sich um einen Mord zu kümmern. Lawson ist im Urlaub und so bleibt nur Duffy, allerdings ist es keine große Sache, ein Autodiebstahl, der scheinbar aus dem Ruder lief. Am Tatort wird Duffy jedoch schnell klar, dass der Fall wohl ganz anders gelagert ist, denn der Tote hat in seinem Haus nichts, was auf seine Identität schließen ließe. Die Nachbarn kennen ihn nur als vermögenden Maler, seine Telefonverbindungen lassen jedoch schlimmes ahnen: regelmäßig rief er eine Telefonzelle in der Republik Irland an, die ziemlich eindeutig einem IRA Funktionär zugeordnet werden kann. Duffys Ehrgeiz ist geweckt, auch wenn sich die Zeiten verändern, ein Bulle bleibt ein Bulle und muss nun einmal tun, was er tun muss. Also rennt er wie immer Mitten in die lebensgefährliche Katastrophe.

Auch in seinem achten Fall wird der Detective der nordirischen Polizei nicht müde und kämpf unermüdlich gegen das Böse an, das dieses Mal aus einer völlig unerwarteten Ecke kommt. Erwartungsgemäß bedient der Ich-Erzähler die liebgewonnenen Klischees, ärgert sich über die Veränderungen der modernen Zeit und gelangt mit Scharfsinn, guter Beobachtungsgabe und dem notwendigen Quäntchen Glück auf die Spur der Täter. Ein routiniert erzählter Thriller, der wieder einmal einiges an Action bietet, aber dahinter eine komplexe und überzeugend konstruierte Geschichte zu bieten hat.

Als Reservist hat sich Duffy schon an die gemütlichere Gangart gewöhnt, an den wenigen Tagen im Revier geht er mit Routine seinen Tätigkeiten nach, in der Coronation Road erzählt er mit dem Kater, auch wenn dieser im schottischen Zuhause weilt, genießt seine Plattensammlung und lässt es ruhig angehen. Da ist der Reiz eines echten Mordfalles natürlich groß und so stürzt er sich kopfüber hinein. Wie immer kommentiert er scharfzüngig und selbstironisch sein eigenes Vorgehen, eher selten nach Handbuch und oft sogar weit jenseits der gesetzlichen und moralischen roten Linie. Aber im Nordirland von 1992 herrschen immer noch kriegsähnliche Zustände und die erfordern nun einmal besondere Maßnahmen.

„Und jetzt kommt kein Milchmann mehr?“
„Nein, nie wieder“, sagte sie.
„Und die Flaschen?“
„Flaschen gibt es jetzt nicht mehr, glaube ich. Jetzt gibt es Milch nur noch im Karton.“
„Und was nehmen die Kinder dann für die Molotow-Cocktails?“

Es fällt einem schwer diese Protagonisten nicht zu lieben. Trotz seines, euphemistisch ausgedrückt, unkonventionellen Vorgehens folgt er doch einem gewissen Ehrenkodex und schafft es sogar, übelste Burschen dieser seltsamen Logik folgend ordentlich zu behandeln. Er hat das Herz am rechten Fleck und lässt sich trotz zwanzig Jahre zermürbender Polizeiarbeit nicht von der Idee von einem Minimum an Recht und Ordnung abbringen.

Die Troubles leben in den Büchern der Reihe wieder auf, es ist nur schwer vorstellbar, unter welchen Bedingungen die Menschen lebten, so dass brennende Autos, Gewehrsalven und hin und wieder auch Explosionen nur noch mit einem Schulterzucken quittiert wurden. McKinty gelingt es diese dunkle Seite europäischer Geschichte begreifbar zu machen und daran zu erinnern, wie tief Vorbehalte sitzen und wie fragil womöglich der Friedensprozess aus ist. Das Ganze wird wieder einmal brillant in einen spannenden Kriminalfall mit hohem Tempo eingebettet, der fern eines simplen schwarz-schweiß/Freund-Feind-Schemas in der ganz oberen Liga der Thriller spielt.

Bewertung vom 17.07.2020
Die Nanny
Macmillan, Gilly

Die Nanny


sehr gut

Nach dem plötzlichen Unfalltod ihres Mannes kehrt Jo mit ihrer Tochter Ruby zurück nach England. Eigentlich wollte sie nie mehr einen Fuß in ihr Elternhaus Lake Hall setzen, nur schlechte Erinnerungen hat sie an die kaltherzige Mutter und den ebenso wenig empathischen Vater. Nur ihre ehemalige Nanny, die hat sie geliebt, doch Hannah verschwand eines Tages plötzlich und die Eltern sagten ihr, ihr schlechtes Benehmen sei der Grund dafür. Das Verhältnis zwischen Jo und ihrer Mutter Virginia ist angespannt, die Dame der Oberschicht scheint an allem etwas zu kritisieren zu haben und pflegt einen Lebensstil, wie man ihn nur noch auch Fernsehserien wie Downton Abbey kennt. Beim Spielen entdecken Jo und Ruby zufällig einen Schädel im Teich des Anwesens, Virginia ist entsetzt, kommt jetzt etwas ans Licht, das sie seit vielen Jahrzehnten sicher im Wasser versteckt dachte? Jo hat einen bösen Verdacht und dieser befeuert ihr Misstrauen gegenüber der eigenen Mutter noch mehr. Doch dann steht eine unerwartete Besucherin vor der Tür.

Gilly Macmillans Roman merkt man an, dass die Autorin Kunst studiert hat, denn diese spielt eine wichtige Rolle in der Geschichte auf dem herrschaftlichen Landsitz. Dieser schafft auch die passende Atmosphäre für einen Kriminalfall, der mit erstaunlichen Wendungen aufwartet. Das große alte Haus mit seinen vielen Zimmern und geheimen Gängen bietet die passende Kulisse für ein Familiendrama, in dem der äußerliche Schein wichtiger zu sein scheint, als echte Emotionen und Zuneigung, wo angemessenes Verhalten – gemessen an einer seit Jahrhunderten tradierten Etikette – über echtem Empfinden steht und somit die Figuren keine Bindung eingehen und schon gar kein Vertrauen zueinander aufbauen kann. Darin liegt der größte Reiz: keine der drei Frauen kann den anderen trauen und auch als Leser weiß man nicht, welcher Perspektive man folgen soll.

Zugegebenermaßen sind alle drei gleichermaßen unsympathisch. Virginia als grantige alte Hausdame, die auf den Pöbel herabschaut und dies auch offen zeigt; Jo, die ziemlich naiv nach dem Tod ihres Mannes hilf- und mittellos dasteht und ganz offenkundig mit eigenständiger Lebensführung und Kindererziehung maßlos überfordert ist und sich in ihrer grenzenlosen Vertrauensseligkeit wirklich jeden Bären an die Backe binden lässt; und zuletzt die Nanny Hannah, die lange in ihrer Motivation mysteriös bleibt. Unausgesprochene Vorbehalte, Erinnerungen, die mal richtig, bisweilen aber auch falsch sind, und ein grundlegendes Misstrauen befeuern den subtilen Kampf – ja, worum eigentlich? Auch das wird erst nach und nach klar und ist dann doch ganz anders als man vermutet hätte.

Ein clever konstruierter Plot, der geschickt mit Sein und Schein spielt. Ein paar Brüche in der Figurenzeichnung lassen diese für mich nicht ganz authentisch wirken, die unerwarteten Wendungen machen dies aber locker wieder wett.

Bewertung vom 14.07.2020
Mexican Gothic
Moreno-Garcia, Silvia

Mexican Gothic


ausgezeichnet

A worrisome letter from her cousin Catalina brings Noemí to a remote place called „High Place“. Only a year ago, Catalina married Virgil Doyle and moved with him in the mansion close to a former mine where the British family made a fortune. Even though it is 1950, there is still no electricity in the house and Noemí feels like being in a British novel of the 19th century. Her cousin is in an awful state, not only physically, but also mentally and she does not only rely on the medication of the family doctor but also got some tincture from a local healer. Strange rules make it difficult for Noemí to adapt to life in the house and it does not take too long until she herself feels that something strange is going on in there. She has very lively nightmares and cannot get rid of the impression that the walls are talking to her. Is she also going mad like Catalina?

Quite often you open a novel and while reading you have the impression that the title and the plot do hardly have any connection. In Silvia Moreno-Garcia‘s book „Mexican Gothic“, however, the title perfectly announces what you will get: a wonderful Gothic horror story in the style of the 18th and 19th century. A spooky old mansion in a remote place without any available help close by, a mysterious cemetery whose inhabitants seem to wander about, nightmares, terror and morbidity accomplish it.

Noemí is presented as an educated yet a bit shallow young woman who cares more about partying and having fun than worrying about her family. Therefore, she only reluctantly follows her father‘s orders to put an eye on Catalina‘s situation. When she arrives at High Place, she continues her slightly contemptuous behaviour towards the Dolye family. Only after having talked to Catalina is she moved a bit and willing to help her cousin. Her stubbornness prevents her from being absorbed by the strange activities in the house.

Soon, however, the fine line between reality and insanity becomes more and more blurry, not only is neither the protagonist nor the reader sure if Noemí‘s dreams are only very vivid or if there are frightening things under way. And then, the horror show really begins.

I totally adored how the author gradually drags the young woman and the reader into this story which oscillates between fascinations and abhorrence. Even though you are well aware that most of what happens cannot be real, it is easy to imagine that in such an old house, ghosts could roam and walls could talk. A magnificent read which transports you to a time long gone and a world where much more is possible.