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Insgesamt 577 Bewertungen
Bewertung vom 15.09.2007
Allerseelen
Nooteboom, Cees

Allerseelen


ausgezeichnet

Jeder Mensch verarbeitet einen Verlust anders. Artur Daane benutzt seine Kamera dazu, Stimmungen, Bilder in einer verschneiten Stadt einzufangen, um so ein Abbild seines Innern zu erschaffen. Allerseelen trifft als Titel des Romans wie selten einer sonst die Gemütslage, die Cees Nooteboom beschreibt. Ein Feiertag, ein Tag, an dem man aussetzt, in sich kehrt, Gräber aufsucht, sich dem Vergangenen stellt. Es ist ein Sinnieren über den Tod ins Leben hinweg, ein Innehalten im ständigen Fluß des Alltags, eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, der Daane durch seinen Beruf ausgesetzt ist. Und doch bewahrt ihn der Rückzug nicht davor, einer Frau zu begegnen, die ihn wegen ihrer Geheimnisse fasziniert. Arthur Daane ist niemand, der sich auf Grund eines tragischen Schicksal aufgibt, er bleibt nur mitten in der Bewegung stehen, schaut sich um, schaut genauer hin und findet sich wieder, indem er verschüttete Gefühle freilegen kann. Fast ein Liebesroman, ein Roman, der den großen Fragen unserer Zeit nicht ausweicht. Zu Ende gelesen bedauert man es fast.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 15.09.2007
Das wahre Leben des Sebastian Knight
Nabokov, Vladimir

Das wahre Leben des Sebastian Knight


ausgezeichnet

Bei der Qualifizierung Künstlerroman zuckt man normalerweise zusammen, weil man sich ihm in der Erwartung nähert, belehrt und gelangweilt zu werden. Nabokovs Suche nach dem wahren Leben eines Bruders ergibt jedoch ein Bild wie in einem Prisma. Es setzt sich aus vielen Stimmen, vielen Blickwinkeln zusammen. Lebensabschnitte werden zusammengetragen. Seine Geliebten, sein Schaffen, seine Sehnsüchte und seine Niederlagen vereinen sich in einer einzigen Person: In dem Mann, der ihn sucht. Inwieweit er ihn am Ende wirklich gefunden hat, müßte Sebastian Knight uns schon selber beantworten. Für Vladimir Nabokov ist es ein Spiel auf mehreren Ebenen. Das Leben eines Menschen ist halt nicht so simpel einzukreisen, läßt sich nicht mit wenigen Fakten einfangen. Nabokov spiegelt es lieber an der Erscheinung des Erzählers, weil es die letztendliche Wahrheit über keinen von uns gibt. Und dadurch ist es keineswegs eintönig.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 15.09.2007
Die Korrekturen
Franzen, Jonathan

Die Korrekturen


ausgezeichnet

Es könnte alles so schön sein. Die Familie Lambert besitzt alles, was man zu einem glücklichen Leben braucht. Keiner muß Hunger leiden, sie alle haben ihr Schicksal selber in der Hand. Und doch ist es wie in vielen Familien. Irgendwie, irgendwo ist was schiefgelaufen. Die Krankheit des Vaters, Parkinson, ist fast ein Synonym für die gesamte Familie. Sie wird durchgeschüttelt, ist dabei so mit sich beschäftigt, daß man nicht unbedingt davon ausgehen darf, daß sie dabei wachgerüttelt werden wird. Wie Jonathan Franzen mit viel Humor von der Tragik der bürgerlichen Familie erzählt, dabei rechts und links auf unsere Gesellschaft blickt, ist wunderbar leicht, lesenswert. Er versinkt nicht in die Versuchung eines Familienschmökers, sein Blick auf die Figuren ist schonungslos. Er verzeiht ihnen trotzdem, aber ob sie mit sich selbst Nachsicht verüben werden, das wird sich im Verlauf der Geschichte zeigen müssen. Wall Street, Internet, Osteuropa und die familiy values, die Hoffnung der Mutter, die Familie zu Weihnachten Zuhause um sich zu versammeln, die Gegenwart ist in diesem Roman fest verankert. Sie träumen alle auf ihre eigene Art. Und nicht nur sie müssen sich fragen lassen, warum alles so schwierig ist. Ein umfangreicher Roman voller poetischer Stellen, bizarren Momenten und selbst die Liebe fehlt nicht. So glaubt man halt mit ein paar Korrekturen bestens zurechtzukommen.
Polar aus Aachen

6 von 8 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.09.2007
Zwei Fremde im Zug
Highsmith, Patricia

Zwei Fremde im Zug


ausgezeichnet

Wäre es nicht schön, so leicht seine Probleme zu lösen? Man steigt in einen Zug, trifft einen Unbekannten und der schlägt vor, einem ein Problem abzunehmen. Schwierig daran ist nur, daß es sich bei der Problemlösung ausgerechnet um Mord handelt. Daß das Abkommen, das die beiden Männer miteinander schließen, darauf beruht, sich das perfekte Alibi zu verschaffen, indem man den Mord, den man selber begehen will, einen anderen verüben läßt. Patricia Highsmith hat mit diesem Roman den Durchbruch geschafft. Er wurde sogar von Hitchcock verfilmt. Sie hat ihn wieder und wieder überarbeitet, bis er veröffentlicht wurde. Er hat nichts von seiner Faszination verloren, was an der Tiefe liegt, mit der die Autorin ihre Protagonisten ausstattet. Das eine schlechte Gewissen, Unvermögen, sich über Skrupel hinwegzusetzen, bringt den anderen zu Fall. Ein wunderbares Kammerspiel, in dem gezeigt wird, wie man zum Mörder werden kann, wenn man nicht auf sich aufpaßt.
Polar aus Aachen

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.09.2007
Lügen in Zeiten des Krieges
Begley, Louis

Lügen in Zeiten des Krieges


ausgezeichnet

Als Europäer müßte man vor dem 21. Jahrhundert auf die Füße fallen und ihm danken, nicht im 20. festgesteckt zu haben. Das Leben Macieks ist wohlbehütet bis zu jenem Tag 1939, der den Schrecken nach Polen brachte. Die Familie zerrissen, ihres Schutzes beraubt, das ganze Augenmerk gilt nur noch dem Überleben. Sei es, indem man mit dem Feind sich einläßt, sei es, daß man durch ein Wechselbad der Lügen marschiert, die allesamt so schwach sind, daß man es manchmal überhaupt nicht fassen kann, wenn sie greifen. Der Krieg erreicht auch die Kleinstädte, er findet längst nicht mehr nur auf den Schlachtfeldern statt. Er kriecht in die Seelen. schürt die Angst trotz falscher Papiere entdeckt, deportiert oder gleich erschossen zu werden. Wie Tanja und Maciek die Katastrophe überleben, ist ein Lehrstück menschlichen Willens, niemals aufzugeben, sich durchzubringen, auf bessere Zeiten zu hoffen. Daß nach dem Wahn der Deutschen dann die Sowjets vor der Tür stehen und die Odyssee weitergeht, mag angesichts der Opfer wie eine sarkastische Laune des Schicksals wirken. Bücher wie das von Louis Begley sollten schwankende Europäer zur Hand nehmen, wenn ihnen die Kosten für ein geeintes Europa zu hoch erscheinen.
Polar aus Aachen

2 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.09.2007
Die schöne Frau Seidenman
Szczypiorski, Andrzej

Die schöne Frau Seidenman


ausgezeichnet

Über den Holocaust zu erzählen, den Schrecken leise und verwerflich an die Wand zu werfen, so daß er trotz aller Poesie Klage erhebt und ganz nah bei den Menschen bleibt, schaffen nur wenige Autoren. Andrzej Szczypiorski war ein politischer Autor, aber er verstand es, Geschichten wie jene der schönen Frau Seidenmann zu erzählen, Momente zu schildern, in denen ein Leser sich fragt, wie hättest du gehandelt, wärst du Opfer gewesen, Täter? Hättest du beiseitegeschaut? Gute Bücher konfrontrieren uns mit diesen Fragen, erlassen uns die Antworten nicht, sie erziehen uns dazu, bei Verbrechen, die wir allzu gerne in die Geschichtsbücher verbannen würden, nicht wegzusehen. Vor allem wenn sie mit einer solchen Liebe für die Menschen wie in diesem Buch erzählt werden.
Polar aus Aachen

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.09.2007
Wer die Nachtigall stört ...
Lee, Harper

Wer die Nachtigall stört ...


ausgezeichnet

Es gibt Geschichten, die halten sich. Mögen sie ruhig mit Gregory Peck in Schwarzweiß verfilmt worden und zu einem modernen Klassiker aufgestiegen sein, so bleiben doch vor allem die Worte zurück, die uns in den Bann schlagen. Was Lee Harper zu erzählen hat, ist noch heute von Bedeutung, sonst würden nicht so viele Menschen nach ihrem Buch greifen. Vor allem lehrt sie uns in einer Welt, die zunehmend gewaltbereit zu sein scheint, eins: man kann Kinder zu tolerant denkenden Menschen erziehen. Die Bereitschaft einen unschuldigen Farbigen zum Tode zu verurteilen, ist in unserer modernen Welt nicht annähernd gebannt. Galt früher der Unschuldsverdacht bis zum Beweis des Gegenteils, geraten wir heute zwischen die Fronten derjenigen, die Geld mit falschen, wie echten Beschuldigungen scheffeln. Harper Lees Buch führt uns in den Süden der USA, versteht es mit Poesie, eine kindliche Welt zu schildern, die naiv von außen zusieht, wie die Welt der Erwachsenen an sich zerbricht. Eine Geschichte, die immer wieder weitergegeben, gelesen werden muß, damit wir nicht in Intoleranz abrutschen.
Polar aus Aachen

6 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.09.2007
Das fünfte Kind
Lessing, Doris

Das fünfte Kind


sehr gut

Da hat eine Familie vier Kinder und wünscht sich ausgrechnet noch ein fünftes, um das zuvor verspürte Glück vollkommen zu machen. In Zeiten, in denen vielen ein Kind wie das Paradies erscheint, mag der Anblick von vier Kindern schon Anlaß genug zum Aufschrei sein. Hätten Harriet und David sich nicht begnügen sollen, wie alle anderen auch? Hätten sie ihr Glück nicht überstrapazieren dürfen? Doch wer rechnet schon damit, daß Ben die ganze Familie durch seine Gegenwart sprengen wird. Doris Lessing beschreibt den Wunsch dieser Familie und ihren Untergang so minutiös, daß jeder, der Kinder hat, sich fürchten sollte, noch eins in die Welt zu setzen. In dem Nachfolgeroman Ben in der Welt schildert sie Bens weiteren Werdegang nicht so überzeugend, doch in Das fünfte Kind läßt sie einen Leser miterleben, was es bedeutet, an sich selbst, an einem Kind zu scheitern, das man einzig und allein nur noch in die Welt hinausschicken kann.
Polar aus Aachen

1 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.09.2007
Als sie über den Tisch kletterte
Lethem, Jonathan

Als sie über den Tisch kletterte


weniger gut

Jean Paul Sartre wäre sicher überrascht wie vom Nichts in diesem Roman erzählt wird. Es hat nichts mehr mit der Form seiner philosophischen Betrachtungen des Seins und des Nichts zu tun. Der Existenzialismus ist im neuen Jahrhundert tot, es lebe die Unterhaltung! Jonathan Lethem ist für seine Überzeichnungen bekannt. In Motherless Brooklyn gelingt dies, indem er einen Außenseiter mit dem Toutette-Syndrom ausstattet und zu seinem kriminalistischen Helden erkürt, in Als sie über den Tisch kletterte jedoch verliert die anfängliche Idee eines physikalischen Wunders der Leere, die sich im Verlauf des Romans philosophisch zum Nichts erhöht, viel an Reiz je länger die Geschichte fortschreitet. Einzig und allein das burleske Blindenpaar Garth und Evan bringt Farbe in die sonst bemühte Dreiecksliebesgeschichte zwischen Philp Engstrand, seiner angehimmelten Alice und dem "Leck", dem Nichts. Zu wenig, um zu fesseln. Auch wenn der Autor sich sicher ausgiebig mit Physik und ihren Auswucherungen hinsichtlich des Nobelpreises beschäftigt haben muß. Als Satire eher mißlungen.
Polar aus Aachen