Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Juti
Wohnort: 
HD

Bewertungen

Insgesamt 631 Bewertungen
Bewertung vom 26.09.2019
14. Juli
Vuillard, Éric

14. Juli


gut

Die Geschichte des kleinen Mannes

Eigentlich mag ich Vuillards Stil. Ein historisches Thema herunter gebrochen auf das Niveau des einfachen Menschen. Leider war die französische Revolution bisher nicht mein Hauptthema. So war mir nicht immer klar, wozu das Thema wichtig ist.

1789 war ein warmer Sommer nach einem kaltem Winter und die Menschen hatten Hunger, saßen in der Bastille, weil sie Schulden hatten. Der Sturm erfolgte dann spontan.

Ich habe das Buch auf der Reise und im Zug gelesen. Man wird häufiger abgelenkt, dennoch lassen die kurzen Kapitel einen immer wieder zurück in den Stoff kommen. 3 Sterne

Bewertung vom 16.09.2019
De Amore / Über Liebe
Capellanus, Andreas

De Amore / Über Liebe


gut

Mittelalterliche Moralpredigt

Eigentlich sollte der Leser in diesem Buch fromme, christliche Sprüche erwarten, doch weit gefehlt. Nicht die Ehe als Ort der Liebe steht im Mittelpunkt, sondern wie Mann und Frau gleichen oder unterschiedlichen Standes sich beim ersten Date kennenlernen. Flirten möchten wir heute sagen. Das alles ist kurzweiliger als erwartet, da allgemeine, heute noch wichtige Themen angesprochen werden.

Im zweiten Buch ,gemeint ist Kapitel, werden Regeln der Liebe kurz betrachtet bevor zum Schluss alles in Frage gestellt wird und klar gestellt wird, dass die christlichen Moralvorstellungen Vorrang haben. Sonst wäre dieses Buch wohl verbrannt worden und wir wüssten nichts von ihm.

Insgesamt zwar interessant, aber nicht mitreißend, deswegen nur 3 Sterne.

Zitat: Ich weiß […], daß die Frauen Quellen und Ursprung alles Guten seien (108)

Bewertung vom 15.09.2019
Magnus Carlsen
Sivertsen, Aage G.

Magnus Carlsen


sehr gut

Warum Carlsen Schachweltmeister wurde

Das Herz eines Schachspielers schlägt höher, wenn er eine Biographie über den Weltmeister lesen darf. Mir war neu, dass Carlsen in jungen Jahren mit dem Familienbus durch Europa reiste. Als er besser wurde, bekam ich seine Erfolge durch Schachzeitung mit.

Als Schachtrainer interessiert mich natürlich, ob er von seinem Verband gefördert wurde. Die Antwort ist zunächst nein, erst als die Familie Geld brauchte, um Kasparow als Trainer zu bezahlen durfte Magnus für die Schach-Olympiade in Norwegen werben.

Gut gefallen hat mir der Vergleich mit den Polgar-Schwestern aus Ungarn, deren Vater seine drei Töchter zu Großmeisterinnen machen wollte. Bei Carlsen lief und läuft vieles im skandinavischen Stil freiwillig auf spielerischer Basis, ganz anders als die sowjetische, jetzt russische Schachschule, die ein festes Trainingsprogramm vorsah.

Im letzten Kapitel wird Carlsen mit seinen Vorgänger Fischer und Kasparow verglichen. Nicht die Frage wer der beste Schachspieler aller Zeiten ist, hätte im Mittelpunkt stehen sollen, sondern dass Fischer und Kasparow ohne Vater aufgewachsen sind, während Carlsen Vater Henrik als sein Manager stets in seiner Nähe ist. Dieser Gegensatz wird kaum herausgearbeitet.

Mein Herz erfreut hat aber die Berichte aus dem Innenleben der Weltspitze durch Gespräche mit den Spielern der Weltspitze. Die Weltmeisterschaftskämpfe sind immer interessant zu lesen. (Ich erinnere an Glavinic: Carl Haffners Liebe zum Unentschieden), vor allem wenn Insinderwissen aus einem Lager dazu kommen. Der Kampf gegen Karjakin ist ein wenig angeklebt, die beiden Kämpfe gegen Anand dagegen ausführlich.

Schade ist auch, dass das Buch Ende Mai 2015 endet, 2017 erst in Deutsch erschien und erst 2019 von mir gelesen wurde, als Carlsen seinen Titel bereits gegen Caruana verteidigt hatte. 4 Sterne

Lieblingszitat:
Leko war außerdem als Remis-Spezialist bekannt. Es wurde geulkt, man könne ein Buch mit dem Titel „Lekos fünfzig beste“ Remispartien“ veröffentlichen. (S.139f)

Bewertung vom 13.09.2019
Die geheime Mission des Kardinals
Schami, Rafik

Die geheime Mission des Kardinals


gut

Aufklärerischer Syrien-Krimi

300 Seiten braucht es bis das Unerwartete passiert. Ansonsten das im Krimi übliche:
Ein Kommissar der genau aufpasst, stets besserwisserische Kommentare abgibt, allein lebt, weil der Beruf keine Zeit für Beziehungen lässt – in diesem Fall ist die Geliebte gestorben, aus Liebe zu einem Kind krank geworden und kein Interesse hat, innerhalb der Polizei befördert zu werden. Schimanski also, nur höflich wie Derrick.

Die Leiche könnte dem Münsteraner Tatort entspringen, ein Kardinal für die italienische Botschaft in Damaskus in einem Olivenfass angeliefert, leichter Humor würzt dieses Buch. Um die Beziehungen zu Italien nicht zu gefährden bekommt unser Kommissar Barudi Schützenhilfen von Mario Mancini, einem italienischen Kommissar, der auch verdeckt als Journalist arbeitet. Der Geheimdienst hat seine Finger auch im Spiel, aber möglichst wenig, wenn nicht der karrieregeile Chef nicht wäre.

Unklar bleibt für mich das Tagebuch von Barudi. Es wirkt wie ein Steinbruch für Reste, die der Autor sonst nicht in seinem Krimi erzählen könnte. Wer schreibt denn in sein Tagebuch seine Familiengeschichte? Manchmal finden sich dort witzige Kurzgeschichten, wofür ich den Autor auch kenne, aber in diesem Krimi wirkt es fehl am Platze.

Ich hätte das Buch vermutlich nicht gelesen, wenn es nicht auf der Bestsellerliste stehen würde und wenn es nicht, wie der Titel schon klar macht, um Religion ginge.
Leider ist die ganze aufgeklärte Kriminalpolizei dem Wunderglaube der Bevölkerung so abgeneigt, dass dieser stets als Aberglaube dargestellt wird. Selbst der Kardinal, der durch Hand auflegen des Bergpredigers Arabisch gelernt haben soll, konnte schon vorher Arabisch. Das aber wäre spätestens bei seiner Rückkehr aufgefallen. Ich wünsche mir zu diesem Thema mal eine Diskussion zwischen Schami und Andreas Englisch, dem Maschinengewehr Gottes. Herr Lanz, laden Sie mal beide in eine Sendung!

Ein Zitat des Buches ist: „Die Liebe vereint die Menschen, die Religion trennt sie.“ Das stimmt, wenn man Religion so definiert wie der Autor es macht. Aufgeklärte Menschen sind stets Atheisten. Allein im Vatikan gibt es Kardinäle, die die Wunder skeptisch sehen.


Am besten gefällt mir, dass dieses Buch in einer Art Länderstudie aus Syrien 2010 zeigt, wie eine korrupte Diktatur, die nur eine Konfession unterstütze in einen Bürgerkrieg schlittert, der gegen den Islamismus inoffiziell schon begonnen hatte. Selbst ein Islamist und warum er es geworden ist, kommt zu Wort. So gerade noch 3 Sterne.

Bewertung vom 25.08.2019
Schäfchen im Trockenen
Stelling, Anke

Schäfchen im Trockenen


ausgezeichnet

Jammern auf hohem Niveau

„Berlin-Roman“ schreibt die SZ. Kreuzberg-Friedrichshain-Roman wäre besser, weil es ums grün-alternative Milieu geht. Reiche Jugendfreunde aus dem Schwabenland, mittlerweile verheiratet und Mutter oder Vater gründen in Berlin, genauer am Prenzlauer Berg eine WG, allerdings nicht als Mieter, sondern als Eigentum, da das Studentenleben vorbei ist und man Geld, viel Geld verdient.

So viel Geld, dass Ingmar sich erlauben kann, der Künstlerin und Ich-Erzählerin Resi Geld für die Erdgeschosswohnung zu leihen, aber Resi lehnt ab. Immerhin zieht sie mit ihrem Mann Sven und 4 Kindern in die alte Mietwohnung von Frank, der aber später seine Wohnung kündigt, weil Resi einen Essay über die WG veröffentlicht hat und Geheimnisse verraten hat.
Das war bereits die Handlung, die aus der Sicht von Resi erzählt wird, die ihre älteste Tochter Bea warnen will, dass es ihr später nicht so ergeht, wie die Ich-Erzählerin es erleben muss.

Auch aus Heidelberg kenne ich das grün-alternative Milieu, gehöre vielleicht selbst dazu, aber endlich schreibt jemand, dass die Toleranz in diesem Milieu nur Fassade ist. Welche Werte oder ob es überhaupt Werte gibt, bleibt auf der Strecke. Jedenfalls dass Resi über die Wohnsituation, über einen begehbaren Kleiderschrank, über Reichtum schreibt, ohne vorher darüber zu reden, das geht nicht.

Das alternative Milieu scheint die Ideologie des Neoliberalismus aufgesogen zu haben. „Selberschuldschicksale“ (S.147) sagt das aus. Jeder kann alles erreichen, wenn er nur genug leistet. Dass aber die Ausgangssituation schon unterschiedlich ist, erkennen gerade die Kinder aus reichem Elternhaus nicht. Schon die Mutter der Ich-Erzählerin musste erleben, dass ihre Beziehung zu Werner aus dem Pastorenhaushalt scheiterte, weil sie die Etikette nicht kannte.

Ist die Ich-Erzählerin auch wütend auf ihre Mutter? Ein wenig vielleicht, weil sie von ihr nicht vor den Gefahren des Lebens gewarnt wurde, aber die Welt ändert sich. Die Mutter glaubte noch, dass man mit Bildung alles erreichen kann und ermöglichte Resi als erste in der Familie das Studium, während die Reichen ihr Küchenpersonal entlassen mussten.

Auch die Kindheit der Ich-Erzählerin im Schwabenland, im Ferienlager der christlichen Jugend erzeugte ein Gefühl der Solidarität, während später Skiurlaube in der Schweiz die unterschiedliche soziale Lage verdeutlichten. Mit dem Umzug nach Berlin verlieren die Jugendfreunde auch ihre Bindung zur Religion.

Ich frage mich, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn die Ich-Erzählerin im Schwabenland geblieben wäre. Hätte sie dann auch Schriftstellerin werden können? Vermutlich hätte sie einen bürgerlichen Beruf ausgeübt, Auto und Eigenheim angeschafft und wäre zur biederen CDU-Wählerin mutiert.

Das ist bereits Spekulation. Meines Erachtens richtet sich die Wut der Ich-Erzählerin gegen die Auswüchse des Neoliberalismus und fehlende Solidarität in der Gesellschaft. Reiche Menschen geben zwar gern für wohltätige Zwecke, bestimmen dann aber auch die Regeln. Zu Kohls Zeiten mussten sie noch mehr Steuern zahlen und der Staat konnte für Gleichheit sorgen und auch die Meinungsfreiheit sichern.
Anfangs vielleicht ein wenig mühsam, da man nicht weiß, wohin die Reise geht, trotzdem 5 Sterne, da mehr als nur Unterhaltung.

Lieblingszitat (einziger Limerick):
War einst ein Pärchen aus Biberach/ das ging im VW der Liebe nach/ Und sie waren sehr froh/ denn es ging ja auch so/ Aber hinterher klemmte das Schiebedach. (142)

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.08.2019
Eine Odyssee
Mendelsohn, Daniel

Eine Odyssee


gut

Königs Erläuterungen

In meiner Schulzeit - und wohl auch heute noch – gab es für die deutsche Pflichtlektüre die Königs Erläuterungen. Aber nicht für die Odyssee, da bei Fremdsprache die Übersetzung wichtiger als die Interpretation ist. Dieses Buch leistet das und noch mehr.

Selbst über Friedrich August Wolf wird berichtet. Aus dem heutigen Sachsen-Anhalt stammend gilt er als Gründer der Philologie. Er glaubte als erster, dass die Odyssee erst Jahrhunderte lang mündlich gesungen wurde bevor sie aufgeschrieben wurde. Weiter lernen wir noch Johann Karl Simon Morgenstern kennen, der den Begriff „Bildungsroman“ prägte. Außerdem hören wir, dass die Odyssee als eine Ringkomposition komponiert wurde.

Der Autor ist ein guter Erklärer und Hochschuldozent, der im Seminar mit seinen Schülern über die Interpretation der Gesänge der Odyssee diskutiert. Auch sein alter Vater nimmt teil.
Gelungen fand ich, dass die beiden nach dem Seminar eine Kreuzfahrt zu den Orten der Odyssee unternehmen, auch wenn Ithaka wegen eines Streiks in Griechenland nicht besucht wird.


Einen Stern abziehen muss ich aber, weil die Diskussionsführrung zu lehrerzentriert wirkt, zustimmende Bewertungen mich nicht interessieren und Unsinn ohnehin nicht ins Buch gehört. Außerdem langweilten mich die Bemerkungen, wie sich der Autor, der wohl als Ich-Erzähler auftritt, die Namen seiner Schüler merkt.

Einen weiteren Stern muss ich abziehen, weil die Familiengeschichte des Autors viel zu lang erzählt wird. Zweifellos ist die Odyssee auch eine Vater-Sohn Beziehung, insofern müsste es passen. Wenn aber noch über die Großeltern erzählt wird oder wir lesen, dass das Auto auf die Auffahrt fährt, nein, das ist nicht wichtig.
Das Seminar ist 50 Seiten vor dem Schluss des Buches beendet. Was noch erzählt wird, ist die Krankengeschichte des Vaters in epischer Länge mit allen medizinischen Details.

Mendelsohn ist als fiktiver Erzähler bisher nicht bekannt und das merkt man auch. Bleiben also 3 Sterne.


Zitat: Spöttisch fragte Locke, […] warum ein Arbeiter Latein lernen müsse. Wolfs Antwort: Weil es um den Menschen geht. (S.50)

Bewertung vom 14.08.2019
Ein Auftrag für Otto Kwant
Schmidt, Jochen

Ein Auftrag für Otto Kwant


ausgezeichnet

Wir sind hier nicht in Baristan

2015 hat Schachweltmeister Garri Kasparow sein Buch „Warum wir Putin stoppen müssen geschrieben. Dort wird erzählt, wie er auf der einen Seite eines Platzes ohne Mikrofon Wahlkampf machen soll, während auf der anderen Seite ein Volksfest mit lauter Musik veranstaltet wird.

Solche Geschichten wären auch in Mangana der Hauptstadt Urfustan denkbar. Sein Staatspräsident sagt sogar: „Wer einen Staat lenken will, sollte Schachspieler sein - Zültan Tantal“ (133). Auf S.229 hören wir von einem Gefängnisinsassen, der durch Blindschachsimultan verrückt wurde.

Joachim Meyerhoff hat dieses Buch im literarischen Quartett als urkomisches Buch vorgestellt. Wer aber Schenkelklopfer erwartet, der wird enttäuscht sein (außer der Witz von S.334).

Dieses Buch ist eine gute Satire in 3 Kapiteln, die jeweils eine andere Form des Zeitgeistes auf Korn nimmt.
Anfangs befinden wir uns in Berlin. Das Leben im westlichen Neoliberalismus wird kritisiert, allein schon, weil unser Architekturstudent Otto Kwant am liebsten Kinderspielplätze bauen würde (64). Das oberflächliche Leben auch der Liebe wird thematisiert.

Volker Weidermann war im Quartett der einzige, der auf den politischen Gehalt der Satire hinwies. Der Besuch in Urfustan, das verblüffende Ähnlichkeit mit Kasachstan hat, wird zu einem Besuch in einer Demokratie, die sich als Überwachungsstaat entpuppt. Die Architektur allein aus Hochhäusern ermöglicht kein lebenswertes Leben. Dreimal loben aber mit „Wir sind hier nicht in Baristan“ Einwohner von Urfustan ihre Demokratie. Einmal weil Otto trotz Schwarzfahrens in der U-Bahn nicht ins Gefängnis muss (130), einmal sagt das der Staatspräsident, weil Otto den Rat für Kunst überstehen musste (138) und schließlich als Otto trotz der Sympathie des Staatspräsidenten ins Gefängnis muss (228), weil er den Rasen im Park betreten hat und die Justiz unabhängig ist.

Als man denkt, jetzt reicht es aber mit den misslungenen Fluchtversuchen aus Mangana, beginnt denn auch der dritte Teil. Otto flüchtet doch, trifft auf Russlanddeutsche, deren Oma noch mit Hitler Geburtstag feiern will und auf deutsche Rentner, die als Touristen von „Curiosus“ den See der Weltraumfahrer besichtigen.

Im Gegensatz zu Christine Westermann habe ich kein Google benötigt. Vieles, was satirisch klingt, gibt es tatsächlich. Etwa verrückt werden durch Blindschachsimultan. Auch die neue Hauptstadt Kasachstan sieht so aus wie Mangana beschrieben wurde. Nur-Sultan heißt die kasachische Hauptstadt seit diesem Jahr und trägt damit den Vornamen des ehemaligen Staatspräsidenten, also Realität kann Satire auch einholen.

Thea Dorns Einwand, man können nicht erkennen, was Realität und was Fiktion ist, halte ich demzufolge für irrelevant.
Mein Einwand ist, dass das Buch gut mit dem Frankfurt-Witz aufhören könnte, die letzten 10 Seiten sind zu viel, aber 10 von 345, das sind trotzdem noch 5 Sterne.

Soll ich den Witz verraten? Nein lest selbst.

Bewertung vom 12.08.2019
Wie wir begehren
Emcke, Carolin

Wie wir begehren


sehr gut

Die deutsche Annie Ernaux

Manchmal fragt man sich, wieso gerade dieses Buch auf dem Nachttisch gelandet ist. Aber schon in den ersten Sätzen wird klar: Die Autorin schildert ihre Kindheit und Jugend in den 80er Jahren genau so, wie es Annie Ernaux in ihren Büchern in Frankreich gemacht hat.

Emcke hat ein anderes Thema: Homosexualität. Dieses wird in alle Facetten gespiegelt. Von dem ehemaligen Mitschüler Daniel, der sich vielleicht wegen seiner Homosexualität umgebracht hat, Besuche in Bars, Reisen in den Gaza-Streifen, wo Homosexualität verboten ist, bis hin zu einer Hochzeit eines Freundes bei der alle Schwulen und Lesben an einen Tisch gesetzt wurden, so dass ihre Orientierung ihnen quasi auf der Stirn stand.

Exkurse wie die Misshandlung von Micha im Ferienlager ist eine Stärke des Buches. Die andere Stärke ist die Darstellung der Gesellschaft. Ausführlich berichtet sie von der veklemmten Bravo und von der Kießling-Affäre 1984. Ein General sollte wegen angeblicher Homosexualität aus der Bundeswehr entlassen werden. Erst der biedere Kohl beendete die Affäre.

Gegen Ende wurde mir die Musikvergleiche ein zu viel. Während ich bei Wiglaf Droste sofort die fehlende Aktualität bemerkte, hatte ich hier lange das Gefühl, Emcke könne ihr Buch heute genau so schreiben. Aber gegen Ende bezieht doch klar Stellung für eine Gleichbehandlung von Homosexuellen, auch im Adoptionsrecht (hat sich das nicht durch die "Ehe für alle" geändert?). Dieses geschieht aber in Form von rhetorischen Fragen, die bis auf ein misslungenes Kauder-Zitat Gegenargumente wie etwa das Kindeswohl nicht berücksichtigen, womit ich aber nicht gesagt haben will, dass ich so denke.

Das Hasen-Enten-Bild gefällt mir hingegen wieder. Ein heute noch lesenswertes Buch. 4 Sterne

Zitat:
...immer, wenn das Pärchen endlich irgendwo in einem Keller oder auf einer Wiese eng aneinandergedrückt stand, […] immer, wenn der Junge die Hand unter ihrem BH oder in ihre Hose schob, aber niemals wenn das Mädchen die Hand in die Hose des Jungen schob. Die „Bravo“ stoppte, wie ein Filmriss, kurz bevor die Lust sich richtig entladen konnte. (S.87)

Bewertung vom 10.08.2019
Das deutsche Krokodil
Mangold, Ijoma

Das deutsche Krokodil


ausgezeichnet

Ein Heidelberger „Heimatroman“

Ich gebe ja zu, dass ich bei diesem Buch einen Heimvorteil habe. Ijoma Mangold wuchs in Dossenheim auf und ging in Heidelberg ans KFG. Kontakt zur Heidelberger Elite habe ich nicht. So fand ich es spannend, wenn er von seinen Mitschülerinnen mit Villen am Philosophenweg und Schloss erzählt.

Vorher liegt seine besondere Kindheit, weil er einen afrikanischen Vater hat, zu dem er aber in der Kindheit keinen Kontakt hatte. Er selbst erlebt keinen Rassismus, erst gegen Ende wird klar, dass seine Mutter ihn beschützt hat, obwohl auch die genannten Fälle im Vergleich zu Pirincci harmlos erscheinen. Gut gefällt mir, dass in der Kindheit immer von „der Junge“ spricht und erst ab der Jugend als Ich-Erzähler auftritt, also erst wenn man von einem freien Willen sprechen kann.

Die Mutter wurde als 7jährige aus Schlesien vertrieben, lernte in Bagow im Fontane-Land schwimmen, bevor es weiter nach Westen ging. Die Großmutter musste die Flucht mit ihren Kinder alleine bewältigen, da sich der Großvater noch im letzten Kriegsjahr entschloss an der Front zu kämpfen und vermisst wird. Der Gedanke, dass der Großvater als Reichsbahnmitarbeiter an der Judenverfolgung beteiligt war und deswegen den Ausweg an der Front suchte, ist plausibel, war mir aber neu. Seine Frau durfte lebenslang umsonst mit der Bahn fahren, was den Jungen begeisterte. Deswegen wünschte er sich auch die Märklin-Lok „das deutsche Krokodil.“

Über kirchliche Stellen sich hocharbeitend, kam seine Mama in die USA, arbeitete dort mit Schwarzen, wurde dann in Heidelberg Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, was Maurer eines Nachbarhauses witzig finden. Sie lernte seinen Vater bei politischen Treffen kennen. Im Gegensatz zu seinen Mitschülern wuchs der Autor aber nicht im Reichtum auf, im Gegenteil seine Mutter musste sich manchmal sogar Geld leihen.

Wir erfahren noch, dass er sich mit dem SDR-Redakteur „Tenno“ in Heidelberg traf, Thomas Mann und Wagner liebte und in der Theater-AG groß wurde. Was aus der eigenen Theatergruppe wurde, erfahren wir leider nicht.

All das ist erst die Hälfte des Buches, denn als 22jähriger erhält der Ich-Erzähler in München beim Studium der Literaturwissenschaft einen Brief seines Vaters aus Nigeria. Er kommt nach Deutschland. Bald darauf reiste der Autor nach Nigeria. Es wird klar, dass sein Vater den Kontakt suchte, weil seine Halbbrüder kurz zuvor an einer Erbkrankheit starben und er einen männlichen Erben haben will. Doch die nigerianische Kultur behagt den Autor nicht. Er lehnt das Angebot des Vaters ab und reist nicht wieder nach Nigeria.

Zwei Themen habe ich noch nicht genannt: Zum einen spielt die Religion immer wieder eine Rolle. Obwohl Mama für die Kirche arbeitete, entschiedet sie ihr Kind nicht zu taufen, da er es selbst entscheiden soll. Dennoch lernt Ijoma im KFG Hebräisch, vielleicht weil er mit einer Israel-Reise geködert wurde. Seine afrikanische Familie gehören der Freikirche an und können seinen Unglauben nicht verstehen, eine spontane Taufe lehnt er ab.

Zum anderen spielt die Erinnerung eine große Rolle. In den USA findet er durch einen Lexikon-Eintrag heraus, dass sein Vater nach seiner Geburt nicht direkt nach Nigeria zurückging, sondern noch in Bochum studierte und seine Frau von seinem Stamm zu ihm geschickt wurde. Nach dem rührende Tod seiner Mutter liest er Jahre später ihre Briefe, um noch herauszufinden, ob sie das wusste. Mangold meint, je öfter man sich an Dinge erinnert, desto mehr verfälsche man die Erinnerung, weil man sich nicht ans Geschehen, sondern an die letzte Erinnerung erinnert.


Ein Heimatroman ist dieses Buch für mich, weil ich hier wohne. Dennoch mag ich das witzige Buch allen ans Herz legen, auch ohne afrikanische Vorfahren. Ich habe nicht alles erzählen können, z.B. die Veränderungen in der Gesellschaft und die Parallelen zu Obama. 5 Sterne

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.08.2019
Grenzbezirke
Murnane, Gerald

Grenzbezirke


gut

Wie ein Katholik seinen Glauben verlor

Grenzbezirke ist ein meditatives Buch, dass vom Sehen handelt, vom Sichtbaren und Unsichtbaren. Farbfenster sind das Leitmotiv. Im Schreibtil Peter Handke ähnlich scheint der Autor auch im Lebensstil ein komischer Kauz zu sein.

Anfangs war ich begeistert. Der Ich-Erzähler wuchs in einer katholischen Schule unter Ordensleu­ten auf. „Wenn ich mich in dem unvorstellbaren Umstand befände, ein fiktionales Werk zu schrei­ben, in dem ich einen ehemaligen Kollegen darstelle, würde ich mich verpflichtet fühlen, meinen mutmaßlichen Leser darüber in Kenntnis zu setzen, warum jener eine Berufung aufgab, der lebens­lang zu folgen er förmlich gelobt hatte.“ (27) Er konnte stets in einer Kapelle das Allerheiligste anbeten.

Es folgt die witzigste Geschichte, wo ein Priester dringend urinieren muss und nichts besseres findet als die Flasche für den Messwein, was weitaus harmloser ist, als der Missbrauch, der später bekannt wurde. Aber das waren nicht die Gründe des Ich-Erzählers seine Kirche zu verlassen.
„Ich hatte wahllos gelesen und folglich meinen frommen Glauben verloren.“ (41) Es war ein Roman von Thomas Hardy.
Was passiert aber ohne Glauben mit den Bildern, die der Glauben schafft. Ein Pater träumt von einer jungen Maria, wie stellt man sich die Dreifaltigkeit vor?

Anstatt Religion erzeugt später die Literatur die Bilder, wobei ich die nur beschriebenen Autoren und namentlich nicht genannten Autoren nicht erkannt habe und mich mehr und mehr langweilte.
Ich-Erzähler und Autor haben gleiche Eigenschaften. Murnane ist tatsächlich aufs Land gezogen, wobei ich lange brauchte, um zu verstehen, wo ein Australier eine Grenze findet. Auch wenn der Text es nicht nennt, so ist das Land der Bundesstaat Victoria mit der Hauptstadt Melbourne. Victoria hat Murnane in seinem Leben nicht oder sehr selten verlassen.

Grenzbezirke ist aber vor allem in Bildern zu sehen, über das Sichtbare und was in Erinnerung bleibt. So endet er zum Schluss wieder bei seinen Mönchen. Auf einem Gebetszettel hatte ein junger geschrieben: „Hüte deine Augen, wenn du in der Stadt bist.“ (225)


Trotz des gutes Anfangs hat mich das Buch in der Mitte mit den Murmeln, dem Buchcover, den Buntstiften, Pferderennen und den schottischen Namen auch gelangweilt. Der Freund mit der Cousine, die Beschreibung seines Hauses war auch überflüssig. Insgesamt 3 Sterne.