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Raumzeitreisender
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Ahaus
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 739 Bewertungen
Bewertung vom 26.08.2016
Die Zeit, die Zeit
Suter, Martin

Die Zeit, die Zeit


gut

"Das, was wir als das Verstreichen von Zeit empfinden, ist in Wirklichkeit nur die Entstehung von Veränderung." (287)

Mit dem Phänomen Zeit haben sich Generationen von Physikern, Psychologen, Biologen und Philosophen beschäftigt, ohne eine abschließende Antwort zu finden. Zeit ist relativ, Zeit ist subjektiv, Zeit ist Veränderung, Zeit ist im Sinne von Kant eine a priori Denkkategorie. Das Bewusstsein erzeugt die Illusion der Zeit. Martin Suter beschäftigt sich literarisch mit der Zeit und so kommt sein Protagonist Knupp zu dem Ergebnis: "Die Zeit existiert nicht." (88) Um diesen Gedanken kreist der Roman. Ein Augenblick soll festgehalten werden. Die Realität wird dem Augenblick angepasst.

Ort der Handlung ist eine kleine Wohnsiedlung, die Protagonisten sind Peter Taler und der Sonderling Albert Knupp. Beide haben ihre Frau verloren. Martha Knupp-Widler starb vor zwanzig Jahren, Laura Wegmann wurde vor einem Jahr ermordet. Taler ist von der Polizei enttäuscht und versucht den Fall selbst aufzuklären, Knupp arrangiert sich auf seine spezielle Art und Weise mit der Situation. Er hat eine individuelle Theorie zur Zeit und versucht diese empirisch zu beweisen. Taler wird in seinem eigenen Interesse sein Helfer. Damit ist der Handlungsrahmen abgesteckt. Wie wurde der Plot umgesetzt?

Der Leser spürt die Zeit. Sie scheint gedehnt zu sein. Die Handlungen drehen sich um Fotos und um Angleichung der Außenwelt an diese Fotos. Dieser Prozess macht wesentliche Teile des Romans aus. Abwechselung bieten die Szenen auf Talers Arbeitsstätte. Zu guter Letzt wird der Mordfall geklärt. Es handelt sich aber nicht um einen Krimi, sondern eher um einen psychologischen Roman. Mir fehlen in diesem Werk tiefergehende philosophische Betrachtungen zur Zeit, die eine so zentrale Rolle spielt. So wirkt die Geschichte phasenweise recht fad.

Fazit: Der Plot ist genial; die Umsetzung mäßig.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.08.2016
Magisches Denken (eBook, ePUB)
Grüter, Thomas

Magisches Denken (eBook, ePUB)


sehr gut

Magie versus Naturwissenschaft

Während der Büchermarkt mit esoterischer Literatur überschwemmt wird, fristen Bücher, die sachlich aufklären und die Spreu vom Weizen trennen, ein Schattendasein. Warum ist das so? Diese und viele ähnliche Fragen werden in „Magisches Denken“ behandelt. Thomas Grüter, Arzt und Softwareunternehmer, klärt die Leser über die Grundlagen des magischen Denkens und seine Auswirkungen auf.

Grüter bringt das Thema im Vorwort auf den Punkt. Der Mensch nutzt zwei Denksysteme. „Das nur beim Menschen voll ausgeprägte analytisch-rationale und das entwicklungsgeschichtlich sehr viel ältere Erfahrungssystem.“ (8) Wenngleich das analyisch-rationale System sich im Hinblick auf das Überleben der Menschheit auf der Überhohlspur bewegt, existiert das unsere Gefühle steuernde Erfahrungssystem weiter. „Im Spannungsfeld dieser beiden Systeme entsteht das magische Denken.“ (8)

Das magische Denken bietet die Grundlage für sämtliche esoterische Glaubensrichtungen. Esoterik funktioniert, weil sie an das Gefühl appelliert. Daher ist eine vernunftgeführte Widerlegung dieses Glaubenssystems auch nicht möglich. Um die Prinzipien der Esoterik zu verdeutlichen, entwirft Grüter kurzerhand eine eigene esoterische Lehre. „Die Esoterik lebt von schönen Träumen, von Harmonie und Liebe.“ (195). Wenn zentrale Aussagen esoterischer Modelle zutreffen, muss die heutige Physik in wichtigen Aspekten falsch oder zumindest grob unvollständig sein.

Der Autor schreckt auch nicht vor einer kritischen Analyse seiner eigenen Zunft, der Medizin, zurück. Dabei findet er klare Worte, wenngleich seine Kritik nicht soweit geht, wie die von Dr. Gunter Frank in „Schlechte Medizin“. Grüter schlägt einen Bogen von der Naturmedizin bis in die Neuzeit, wundert sich über den Glauben an uralte Praktiken und relativiert den Erfolg medizinischer Therapien. Manche Erfolge beruhen auf einer „therapeutischen Illusion“. (182)

Auch zwischen Religionen und magischem Denken besteht ein Zusammenhang. Aus dem Blickwinkel der Evolution muss Religion den Mitgliedern einer Gruppe einen Überlebensvorteil gebracht haben. Sonst wären Religionen heute nicht kulturübergreifend so verbreitet. Grüter erläutert die Entstehung anhand des Cargo-Kults, geht mit seiner Kritik aber nicht soweit, wie Richard Dawkins in „Der Gotteswahn“. „... sein Buch [Der Gotteswahn] bringt die Diskussion nicht recht voran. Es hat formal und inhaltlich … gravierende Schwächen ...“. (243)

In „Naturwissenschaft und magisches Denken“ widmet sich Grüter den Vertretern des analytisch-rationalen Denkens und macht deutlich, dass es sich letztlich, aufgrund der Methodik, um das erklärungsmächtigste Denksystem der Menschheit handelt. Aber auch Wissenschaftler sind nur Menschen. „Sie haben Vorurteile wie andere Menschen auch, und sie neigen durchaus zum magischen Denken.“ (273)

Thomas Grüter beschreibt in diesem Buch Hintergründe und Folgen des magischen Denkens. Seine Ausführungen sind sachlich, teilweise humorvoll und insbesondere sehr verständlich. Magisches Denken ist ein uraltes Erbe der Menschheit und damit unvermeidlich. Es kann aber durch analytisch-rationales Denken überlagert werden. Das Buch dient dazu, über entsprechende Zusammenhänge aufzuklären.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.08.2016
Denkanstöße 2014

Denkanstöße 2014


sehr gut

Erkenntnisse, Einsichten, Erfahrungen

Der Mathematiker John Casti beschäftigt sich in „Wie wird ein Ereignis zum X-Event“ mit der Anfälligkeit komplexer Systeme. Gemeint sind insbesondere die komplexen Systeme, die unsere hoch entwickelte Wirtschaft am Leben erhalten und uns Wohlstand ermöglichen. Die derzeitige Überversorgung in weiten Teilen der Welt wird wie selbstverständlich hingenommen, dabei gibt es Abhängigkeiten, die sehr schnell zum Kollaps führen können. So führte eine Blockade der Autobahnauffahrten in Italien 2007 dazu, dass nach 2 Tagen die Supermärkte leergeräumt waren und Tankstellen kein Benzin mehr verkaufen konnten. Der Club of Rome hatte sich bereits 1972 mit den Abhängigkeiten in modernen Gesellschaften beschäftigt und Grenzen des Wachstums aufgezeigt; geändert hat sich seitdem nichts.

Die Innenansichten der Soldaten der Wehrmacht sind Thema in Felix Römers Beitrag „Kameraden. Die Wehrmacht von innen“. Als Quelle dienten u.a. Abhörprotokolle der Amerikaner aus den alliierten Vernehmungslagern des Zweiten Weltkriegs. Die Gespräche der einfachen Soldaten untereinander wurden in großem Stil abgehört. Diese Quelle ist aussagekräftiger als die meist zensierte Feldpost. Deutlich wird anhand dieser Protokolle, dass der Politisierungsgrad der Soldaten trotz Diktatur geringer war, als allgemein angenommen. „Dem Klischee von fanatischen Weltanschauungskriegern entsprach indes wohl nur eine kleine Minderheit.“ Für weitergehende Untersuchungen fehlt es an Quellen. Insofern ist auch kein Vergleich zwischen dem deutschen Landser, dem amerikanischen GI oder dem Rotarmisten möglich.

In weiteren Beiträgen geht es um Nächstenliebe (Beatrice von Weizsäcker), die Bedeutung von „christlich“ (Hans Küng), um die Zukunft der Energie (Robert B. Laughlin) und um die Krebsforschung (David Agus). Zu letztgenanntem Beitrag hätte ich mir, entsprechend dem Titel „Das Ende der Krankheit“ mehr Inhalt gewünscht. Primär wird angedeutet, dass ein systemischer (ganzheitlicher) Ansatz weiterführen kann, ohne diesen jedoch zu konkretisieren.

Der letzte Teil des Buches ist zwei markanten Frauen gewidmet, die sich gegen den Mainstream gestellt haben und selbstbewusst ihre eigenen Positionen vertreten haben. Eva Rieger beschreibt die Konflikte, die Friedelind Wagner, Enkelin von Richard Wagner, mit dem Nationalsozialismus hatte und Ursula Ludz und Thomas Wild erläutern Hannah Arendts Ausführungen zur Gerichtsverhandlung des NS-Verbrechers Adolf Eichmann. Arendts Ansichten und Einsichten prägten den Begriff „Banalität des Bösen“, welcher auf heftigen Widerstand stieß.

Auffallend ist, dass fast alle Beiträge auf die Verantwortung des Einzelnen abzielen. Die „Denkanstöße 2014“ sind weniger reine Informationen aus verschiedenen Disziplinen, dafür mehr (im wörtlichen Sinne) Anstöße zu mehr Selbstverantwortung. Wer neue Themen sucht (aus Wissenschaft und Forschung), braucht das Buch nicht zu lesen. Es liegt an der Struktur dieser Schriftenreihe, dass Themen nicht ausführlich behandelt werden können. Ein kleiner Einblick in die Thesen der Autoren ist dennoch möglich.

Bewertung vom 23.08.2016
Der Meister des Jüngsten Tages
Perutz, Leo

Der Meister des Jüngsten Tages


ausgezeichnet

Perutz ist immer für eine Überraschung gut

Wer Bücher von Leo Perutz kennt, weiß, dass diese perfekt konstruiert sind und die Lösung bis zum Schluss offen lassen. Seine Plots sind ausgefallen, mehrdeutig und erstklassig. „Der Meister des Jüngsten Tages“ ist ein psychologischer Krimi mit mystischem Einschlag. Er enthält reale und fantastische Anteile. Um das Werk besser zu verstehen, empfiehlt es sich, die Geschichte, nachdem man die Hintergründe kennt, ein zweites mal zu lesen.

Das Buch beginnt mit einem „Vorwort statt eines Nachworts“ und endet mit „Schlussbemerkungen des Herausgebers“, womit eine fiktiver Bekannter von Freiherr von Yosch, dem Ich-Erzähler des Romans, gemeint ist. Das Vorwort stammt von Freiherr von Yosch. Der Herausgeber kennt nach eigener Aussage die wahren Zusammenhänge und veröffentlicht die Erinnerungen von Freiherr von Yosch, die dieser zu Papier gebracht hat. Damit ist neben der Erzählebene eine Metaebene definiert.

Wenngleich mein persönlicher Favorit von Perutz „Der schwedische Reiter“ ist und bleibt, handelt es sich bei „Der Meister des Jüngsten Tages“ um einen exzellenten Roman. Daran ändert auch die etwas antiquierte Sprache nichts. Perutz eignet sich als Orientierung für junge Literaten und sollte aufgrund seiner Originalität, Kreativität und Stringenz nicht in Vergessenheit geraten.

Bewertung vom 22.08.2016
Luhmann leicht gemacht
Berghaus, Margot

Luhmann leicht gemacht


ausgezeichnet

Eine strukturierte Einführung in Luhmanns Systemtheorie

Luhmanns Systemtheorie ist keine leichte Kost. Sie ist selbstreferentiell, was bedeutet, dass sie auch auf sich selbst angewendet werden kann. Die Soziologie als Teil der Gesellschaft liefert eine Beschreibung der Gesellschaft, zu der sie selbst gehört. Es entsteht eine zirkuläre, paradoxe Situation, die Maturana und Varela in „Der Baum der Erkenntnis“ (für die Biologie, aber letztlich allgemeingültig) treffend illustriert haben.

Um Luhmanns Systemtheorie verstehen zu können, ist eine intensive Auseinandersetzung mit seiner Begriffswelt erforderlich. Hierzu gehören Definitionen für System, Organisation, Kommunikation, Ego und Alter, Interaktion und Autopoiesis, um nur Beispiele zu nennen. So bestehen Systeme nicht aus Dingen, sondern aus Operationen. Diese folgen den Prinzipien „System/Umwelt-Differenz“ und „Autopoiesis“. Ein autopoietisches System produziert und reproduziert sich selbst und ist damit operativ geschlossen.

Das Buch ist wohl strukturiert. Erläuterungen der Autorin Margot Berghaus, Einschübe von Zitaten Luhmanns und zahlreiche Karikaturen wechseln sich ab. Das Buch ist in 21 Kapitel untergliedert, was dazu führt, dass den Lesern neue Begrifflichkeiten in überschaubaren Portionen serviert werden. Für die Vertiefung gibt es die (zahlreichen) Originalwerke von Niklas Luhmann, der die Systemtheorie für sich selbst zur Lebensaufgabe erklärt hat. Seine Theorie ist in der Wissenschaft etabliert; die Systemtheorie erhebt den Anspruch, universell zu sein.

Luhmann ist gleichzeitig Systemtheoretiker und Konstruktivist. Wenn man bislang verschiedene Werke über Konstruktivismus gelesen hat, wirken seine Ausführungen zum Thema erhellend. Er war überzeugt davon, dass Systeme real in der Wirklichkeit existieren und dass man die Welt nur durch beobachten erkennen kann. Da nichts in der Welt der direkten Erkenntnis zugänglich ist, entsteht eine Beobachterabhängigkeit und damit eine Konstruktion der Wirklichkeit. Dabei bleibt immer ein „blinder Fleck“, etwas was der Beobachter nicht sieht, weil er selbst in das zu Beobachtende eingeschlossen ist. Maturana und Varela haben das Phänomen in „Der Baum der Erkenntnis“ am Beispiel des Auges verdeutlicht. Luhmann stellt, ebenso wie Heinz von Foerster, die Abbildbeziehung zwischen Welt und Erkenntnis in Frage. Es können immer nur von Beobachtern konstruierte Realitäten verglichen werden. Ob es im Zuge der Evolution eine Annäherung an die wirkliche Welt gibt, also an das „Ding an sich“ (im Sinne von Kant), wie in der evolutionären Erkenntnistheorie angenommen und von Hoimar von Ditfurth beschrieben, ist für die Systemtheorie irrelevant.

Margot Berghaus vermittelt einen verständlichen Einblick in Luhmanns Systemtheorie. Auf den letzten Seiten erläutert sie weitergehende Zusammenhänge und beschreibt das Verhältnis zwischen Gesellschaft, Kommunikation und Evolution. Das Buch beinhaltet mehr Erläuterungen zur Theorie und weniger kritische Auseinandersetzung. Letztere setzt voraus, dass die Grundzüge der Theorie verstanden wurden, wozu das Buch einen wichtigen Beitrag leistet.