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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Die Birken wissen's noch
Mytting, Lars

Die Birken wissen's noch


ausgezeichnet

Solange sich Edvard erinnern kann, hat er mit seinem Großvater Sverre auf dem Hof bei Saksum im norwegischen Gudbrandstal gelebt. Als Edvards Eltern vor vielen Jahren verunglückten, nahm Sverre Hirifjell seinen Enkel an die Hand, adoptierte ihn offiziell und erzog ihn als Nachfolger für den Hof. Großvater Sverre hat im Dorf keinen leichten Stand, seit er im Zweiten Weltkrieg als Freiwilliger auf der Seite der Deutschen gekämpft hat. Auch Edvard bekam die Abneigung der Nachbarn zu spüren.

Der 23-Jährige ist ein etwas zu ernsthafter und pflichtbewusster Mann, als Sverre stirbt. Edvard lebt - getrennt von Sverre - im Altenteil, das für den Altbauern gedacht ist, nachdem der den Hof an seinen Nachfolger übergeben hat. Einzige bescheidene Vergnügen sind neben den Pflichten des Landwirts das Angeln und das Fotografieren mit einer Leica, zu der er sich jedes Jahr weiteres Zubehör kauft. Edvard kennt das Glücksgefühl, direkt hinter dem Hof bergan zu marschieren und vom Berg aus hinab auf das Land und den Hof zu blicken, dessen Namen er trägt. Er kennt aber auch die leise Unruhe, weil Großvater Sverre den Hof möglichst nicht verlässt, um ein Geheimnis zu bewahren, das er vor seinem Enkel verbirgt. Edvard fehlt ein Stück aus den Erinnerungen an seine Kindheit. Als seine Eltern verunglückten, tauchte der unverletzte kleine Edvard erst nach mehreren Tagen wieder auf. Nach Sverres überraschendem Tod ist für Edvard nun der Weg frei, die Familiengeheimnisse zu erforschen.

Beunruhigt ist Edvard, dass er so wenige Erinnerungen an seine Mutter hat, mit der er als Kind Französisch gesprochen hat. Spannend wird seine Spurensuche, als Edvard Widersprüche entdeckt in Sverres Erzählungen über Großonkel Einar, der angeblich 1944 im Zweiten Weltkrieg gefallen ist. Einar sollte als ältester Sohn den Hof erben, ging dann jedoch für seine Ausbildung als Kunsttischler nach Frankreich. Den Birkenwald, auf den sich der deutsche Buchtitel bezieht, hat Einar angelegt, um gezielt Flammenbirkenholz zum Kunsttischlern wachsen zu lassen. Edvard entdeckt, dass Einar für die Résistance in Frankreich aktiv war und noch lange nach dem Krieg als Tischler auf einem winzigen Inselchen der - ehemals norwegischen, heute schottischen - Shetland-Inseln lebte. Einar hinterlässt für den Jungen etwas unvorstellbar Kostbares, das er so raffiniert versiegelt und verriegelt, dass man als Leser daran zweifelt, ob Edvard den Weg zu Einars Vermächtnis überhaupt entschlüsseln kann. Dazu muss der junge norwegische Bauer tief ins Handwerk seines Onkels eintauchen und in Ereignisse auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs.

Edvards Spurensuche nach der eigenen Kindheit, sowie dem Schicksal seiner Mutter und seines Großonkels bettet Lars Mytting in eine raffinierte Schnitzeljagd durch mehrere Länder und nach Ereignissen fast des gesamten 20. Jahrhunderts ein. Mit Lars, Einar und Edvard schafft er wunderbare Figuren, deren Schicksale wohl kaum jemand unberührt lassen werden. In den Details zur Landwirtschaft, zum Tischlern und zu den historischen Ereignissen zeigt Mytting sich als akribischer Rechercheur. Zum Glück bin ich kein Kunsttischler und muss nicht beurteilen, ob die geschilderten Abläufe Hand und Fuß haben. Wenn Edvard fotografiert und entwickelt, haben die Dinge jedenfalls Hand und Fuß - und allein darin unterscheidet sich Lars Mytting von einer Reihe seiner Autorenkollegen. Stilistisch und mit seinem raffinierten Plot ist der Roman ein ganz großer Wurf. Dass Lars Mytting mit diesem Buch berühmt wird, wie das Dagbladet hofft, wünsche ich ihm aufrichtig.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Der Kaffeedieb
Hillenbrand, Tom

Der Kaffeedieb


sehr gut

Obediah Chabon wäre vermutlich elend im Zuchthaus von Amsterdam verhungert, wenn sein Auftraggeber nicht ein Schlitzohr wie ihn für ein aberwitziges Projekt gesucht hätte. Der Londoner, der im 17. Jahrhundert wegen Betrug und Fälscherei im Kerker gelandet war, hatte im Milieu Londoner Kaffeehäuser gelernt, buchstäblich das Gras wachsen zu hören. Wer zu Zeiten berittener Boten oder wochenlanger Schiffsreisen zuerst von Warenpreisen, Schiffsmeldungen oder drohenden politischen Konflikten erfuhr, konnte hohe Erträge erzielen. Einem so vielseitig interessierten Ganoven wie Obediah hätte man vermutlich sogar zugetraut, dass er selbst Gold herstellen kann. Nun soll er im Auftrag eines Mittelsmanns der Ostindien-Kompanie den Diebstahl einiger sorgfältig bewachter Kaffeesträucher organisieren, um das Kaffee-Monopol der Türken zu brechen. Bisher war jeder Versuch europäischer Händler fehlgeschlagen, selbst Kaffeesträucher anzubauen, etwa indem sie Setzlinge aus exportierten Kaffeebohnen zogen. Mit dem Plan, Pflanzen aus einem fernen Land auf dem Kamelrücken und auf dem Seeweg nach Europa zu transportieren, von deren Anbau in Europa kaum jemand etwas versteht, hat Obediah sich auf ein gefährliches Abenteuer eingelassen.

Superhirn Obediah interessiert sich für die sonderbarsten Wissensgebiete und scheint skrupellos genug zu sein für Ausrüstung und Durchführung des Kaffee-Raubzugs. Kenntnisse in Seefahrt, Botanik, Handel, Feinmechanik, Verschlüsselungstechniken, Fremdsprachen, Benimm in fremden Kulturen sind für das Projekt gefordert, ganz zu schweigen von der Landeskunde der zu durchquerenden Staaten. Mit seinem vielfältigen Netzwerk von Spezialisten war Obediah offenbar damals bereits ein Pionier des Netzwerkens. Auch wenn er seine Briefe aufwendig verschlüsselt, kann er nicht verhindern, dass seine Aktivitäten genau beobachtet und sein Schriftverkehr ausspioniert werden. Obediahs verdächtiges Treiben lässt seinen Verfolger eine raffinierte Verschwörung vermuten. Die Agenten- Berichte bieten in Form eingeschobener Briefe zusätzlich zum auktorialen Erzähler eine zweite Perspektive. Während dem Agenten als Basis seiner Verschwörungstheorien wie durch ein Fernglas gesehen nur Ausschnitte des Geschehens zugänglich sind, befinden sich Hillenbrands Leser dem Mann stets einige Schritte voraus. Die Zeit der Handlung lässt sich um das historisches Ereignis des Erdbebens von Smyrna am 7.11.1688 herum datieren.

Der Einblick in eine Vielfalt von Berufen, Fertigkeiten und Kulturen macht für mich den Reiz historischer Romane aus. Hillenbrands Held und sein gewagtes Projekt liefern mir diese farbenprächtige Vielfalt ferner Länder und vergangener Zeiten. Was genau Obediah organisiert und wie es sich anfühlt, im Gewand eines Gentleman-Gauners zu stecken, das wird für meinen Geschmack hier nicht tiefgehend genug dargestellt. Eine schillernde Gestalt wie Obediah Chabon weiß offenbar selbst nicht so genau, was seine Persönlichkeit ausmacht. Obwohl ich mich gut unterhalten fühlte, blieben für mich zu viele Fragen zu den Figuren offen und die eher flachen Nebenfiguren konnten mich wenig begeistern. Empfehlenswert finde ich Hillenbrands historischen Abenteuerschmöker für unerschrockene, geduldige Leser, die weniger Wert auf die Entwicklung der Personen legen

Bewertung vom 04.01.2017
Die Abschaffung der Mutter
Wilk, Denise;Bronsky, Alina

Die Abschaffung der Mutter


sehr gut

Kämpferischer Appell
Als Mütter von insgesamt 10 leiblichen Kindern, von denen 7 nicht im Krankenhaus zur Welt kamen, erhielten die Autorinnen umfassenden Einblick, was Müttern heute auf den Nägeln brennt. Ihr Buchprojekt muss bereits im Vorfeld auf Kritik gestoßen sein; denn in der Einleitung setzen sie sich bereits kämpferisch mit möglichen Kritikerinnen auseinander. Die Differenzierung, was derzeit Tenor in der Mütterszene ist und welche Ansichten die Autorinnen selbst vertreten, hätte dabei schärfer sein können, z. B. zu Formulierungen, die ein Kind als Schadensfall und materielle Einbuße werten (Seite 17). - Vollblutmütter scheinen für andere Menschen eine Provokation zu sein. Mütter in Deutschland sind heute bei der Geburt ihres ersten Kindes älter als je zuvor, aber offenbar auch dünnhäutiger, könnte man aus den Erkenntnissen der Autorinnen schließen. Mütter werden von Politik, diskriminierender Steuergesetzgebung und Kita-Zwang zunehmend unter Druck gesetzt, so die Autorinnen, und geben diesem Druck zu unreflektiert nach. Auch frühere Müttergenerationen mussten sich abfällige Bemerkungen anhören zum Zeitpunkt ihrer Schwangerschaft (egal wann ein Kind gezeugt wird, es ist der Umwelt nie recht) und der Zahl der Kinder (ob eins oder vier, auch das ist Außenstehenden nie recht). Im Unterschied zu den 60ern und 70ern schütteln Mütter von heute die unerwünschten Einmischungen Fremder offenbar schwerer ab oder werten sie durch sofortiges Twittern und Bloggen noch unnötig auf. - Die Bestsellerautorin und die Geburtsbegleiterin äußern sich zu diversen Aspekten von Schwangerschaft und Mutterschaft: der Gewinnorientierung von niedergelassenen Gynäkologen und Kliniken, dem Aussterben des Hebammen-Berufes, der Kommerzialisierung von Schwangerschaft und Kinderbetreuung durch fragwürdige Bildungsangebote, der Rolle der Väter und dem öffentlichen Stillen. Ihre Auseinandersetzung mit Auswüchsen der Fortpflanzungstechnologie und dem Wunsch nach dem perfekten Kind findet für meinen Geschmack nur auf Boulevard-Niveau statt, zu medizinischen Themen lese ich lieber Bücher von Fachautoren wie Andreas Bernards Kinder machen. Nicht jede Autorin muss sich zu jedem Aspekt des Mutterseins äußern, zu dem an anderer Stelle schon alles gesagt wurde. - Kritisiert wird das Bild von Promi-Mutterschaften in Boulevard-Medien, aus deren Angebot die Autorinnen sich jedoch nicht sehr konsequent für ihr Buch ausführlich bedienen. Beide beklagen eine Parallelgesellschaft (die einige der zitierten Mütter sich selbst schaffen, indem sie ihre Kommunikation auf die eigene Kohorte beschränken und kinderlose Frauen wie ältere Mutter zum Thema per se für inkompetent halten) und sehen das auffällige Bedürfnis von Müttern dieses Jahrhunderts, von allen für alles anerkannt und gelobt zu werden, m. A. weitgehend unkritisch. ...
"Die Abschaffung der Mutter" tritt als kämpferische Schrift auf, die besonders in den Passagen über die Situation Alleinerziehender und die frühkindliche Betreuung sauber recherchiert ist und plausibel argumentiert. Anregen kann das Buch dazu, selbst genauer zu hinterfragen, wer von derzeitigen Trends und gefühlten Zwängen profitiert und den eigenen Standpunkt dazu entschiedener zu vertreten.

Bewertung vom 04.01.2017
Du Miststück - Meine Depression und ich
Wendt, Alexander

Du Miststück - Meine Depression und ich


ausgezeichnet

Als Alexander Wendt sich endlich selbst stationär als Patient in die Psychiatrie einweist, hat er bereits eine Vorgeschichte depressiver Episoden hinter sich. Die Konfrontation mit Mitpatienten auf seiner Station bedeutet das endgültige Eingeständnis seiner Krankheit. Wendts Diagnose lautet: bipolar-affektive Störung; der Patient muss stationär auf Medikamente eingestellt werden. Um nicht erkrankten Lesern das Unvorstellbare begreifbar zu machen, muss Wendt zu Metaphern greifen. Die Krankheit, "das M..ststück und seine dumme kleine Schwester Paranoia" umschlingen ihren Wirt wie eine Schmarotzerpflanze. Würde man die Pflanze von ihrem Baum abreißen, könnte ein Baum ohne Umklammerung schlimmstenfalls nicht mehr frei stehen. Seine Medikamente empfindet der Patient schon bald als Gully, in dem seine intellektuellen Fähigkeiten verschwinden. Er zeigt sich deshalb seinen Therapeuten als "eingebildeter Gesunder", der dringend wieder schreiben will und der die Einnahme von Psychopharmaka für unvereinbar mit seiner Autorentätigkeit hält. Genau diese Einstellung sei ein Indiz für die bei ihm diagnostizierte Störung, wird ihm bedeutet. Recherchieren und Schreiben sind Wendts persönlicher Weg, um sich mit seiner Krankheit auseinanderzusetzen. Innerhalb seines Erfahrungsberichts kann man als Leser diesem Bericht bei seiner Entstehung zusehen. Während Wendt sich mit der "Melancholie" in Kunst und Literatur auseinandersetzt, dringt er von den Randbereichen allgemeinen Wissens über Depressionen vor zum Kern der eigenen Erkrankung. Er zeigt sich sehr belesen, kennt u. a. Werke von Oliver Sacks, Thomas Mann und Wolfgang Herrndorf, setzt sich mit Dürers Darstellung der Melancholie auseinander und mit Biografien berühmter Depressiver wie Churchill. Er sinniert über den Zusammenhang zwischen politischen Systemen und psychischen Erkrankungen, recherchiert, was Depressive in Zeiten vor der Entwicklung von Medikamenten zur Stabilisierung des Serotonin-Stoffwechsels zu erwarten hatten. Nach seiner Entlassung aus der Klinik kommt eine Recherche in Vietnam hinzu, wie andere Kulturen oder Religionen mit Depressionen umgehen.

"Du M..ststück. Meine Depression und ich" ist weder Ratgeber noch reiner Erfahrungsbericht, sondern das eloquente Buch eines Autors, der seine Krankheit mit den handwerklichen Mitteln seiner Profession bewältigt. Wendts Eloquenz hat seine Depression für mich sehr bizarr wirken lassen, wenn er z. B. scharfzüngig die Situation inverser Therapiegespräche entlarvt, in denen Therapeuten ihrem Patienten Privatangelegenheiten vorklagen und der sich verpflichtet fühlt, geduldig und verständnisvoll zuzuhören. Schließlich könnte jede eigene Äußerung in der Patientenakte landen. Vielleicht muss man selbst Kulturschaffender sein und ähnlich gestrickt wie der Autor, um aus Alexander Wendts persönlicher Kombination aus Recherche und eigener Betroffenheit Nutzen zu ziehen. Angehörige und Betroffene könnten sich durch Wendts Buch damit versöhnen, dass bei schweren Depressionen an stationärer Behandlung häufig kein Weg vorbei führt. Die recherchierte medizinhistorische Ebene stellt durch ihren Gehalt an Informationen einige Anforderungen an Leser des Buches. Ob Erfahrungsberichte anderen Betroffenen helfen können, darüber kann man streiten. Als nicht betroffene Person hat die Lektüre meine Wahrnehmung für die konkrete Vorgeschichte geschärft und für die erbliche Veranlagung zu Depressionen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
City on Fire
Hallberg, Garth Risk

City on Fire


ausgezeichnet

In der Silvesternacht des Jahres 1976 wird im New Yorker Central Park eine junge Frau durch Schüsse schwer verletzt. Der Vorfall ereignet sich in Sichtweite einer der besten Wohn- und Geschäftslagen der Stadt am Central Park West. Um den Fall zu klären, müssen Samanthas Verbindungen zu anderen Personen entwirrt werden ' aber niemand in dieser Geschichte hält alle Fäden in der Hand. Als einer der ersten Helfer erreicht Mercer Goodmann den Tatort, ein junger schwarzer Lehrer aus dem ländlichen Georgia, der vor kurzem erst frisch nach New York gezogen ist. Mercers Zeugenaussage bringt ihn in Schwierigkeiten; denn was hätte ein Afroamerikaner im Smoking dort nachts im Park zu suchen? Mercer lebt mit William Hamilton-Sweeney III. zusammen, einer schillernden Figur aus eben der wohlhabenden Unternehmer-Dynastie, die in dieser Nacht gegenüber dem Central Park feierte. William hat sich als homosexueller Punk-Musiker und Künstler diverser Kunstrichtungen bereits früh ausgeklinkt aus der für ihn vorgezeichneten Laufbahn im Familien-Konzern. Auch seine Schwester Regan hat sich von ihrer Familie abgewandt, abgesichert durch ein sicheres finanzielles Polster aus dem Erbe ihrer Mutter und arbeitet dennoch als Angestellte im Konzern. Der Spagat, sich nicht nur von der Familie loszusagen, sondern auch finanziell auf eigenen Beinen zu stehen, ist Regan noch nicht gelungen. - Zur Jahreswende ist endgültig klar geworden, dass der alte William II. Hamilton-S. der Führung der Geschäfte schon länger nicht mehr gewachsen ist. Ein Prozess gegen den Patriarchen wegen Insiderhandel steht bevor. Mehrere Figuren in dieser Geschichte begehen viel zu gutgläubig diesen fatalen Fehler. - Durch den Vorfall im Park wirkt der Roman wie eine Praline, deren Füllung (= Kriminalfall) der Hülle (= Familien- und New York-Roman) zusätzlich Pfiff gibt. Allein die auf das Wichtigste verkürzte Besetzungsliste des Romans umfasst 14 Namen. Außer Mercer treten auf: Keith Lamplighter, Ehemann von Regan Hamilton und Vater der Kinder Will und Cate, Charlie, ein junger Punk aus kleinstädtischen jüdischen Verhältnissen, Carmine, ein Feuerwerker italienischer Herkunft und seine Tochter, der Journalist Richard Groskoph als Chronist der Ereignisse, die Tochter vietnamesischer Einwanderer, der ermittelnde Polizist Larry Pulaski, der längst für dienstunfähig erklärt sein müsste, und uva eine WG von Hobby-Anarchisten. Einige Figuren könnte man für vertraute US-amerikanische Stereotypen halten (der behütet aufgewachsene junge Jude, der Quoten-Afroamerikaner in einem rein weißen Szenario, der idealistische Enthüllungs-Reporter), Hallberg entwickelt seine Figuren jedoch alles andere als stereotyp und nimmt sich dabei alle Zeit der Welt. In der Charakterisierung von Figuren aus unterschiedlichsten Milieus und Altersgruppen erweist sich Hallberg in seinem üppigen Roman-Erstling als überraschend souverän. - Kernfrage des Romans war für mich neben der Aufklärung des Anschlags auf Samie die Frage, was die Figuren zu dem machte, das sie heute sind. Den Sound der 70er zwischen Farfisa und Patti Smith finde ich ausgezeichnet getroffen. Hallberg vermittelt das Lebensgefühl der Generation seiner Eltern - und, was nachfolgenden Generationen nur schwer zu erklären ist, die 'grauen Jahre' der Carter- und Reagan-Regierung. Hallberg zeigt ausführlich Privates als politisch auf, verliert dabei jedoch neben der Schicht undankbarer Erben gewaltiger Vermögenswerte nicht die arbeitende Bevölkerung aus dem Blick (Mercer, Jenny, Carmine, Larry, Richard). Carmine, der in einer bankrotten Stadt auf einmal seinen Lebensunterhalt nicht mehr mit seinem Handwerk verdienen kann, war neben Samie für mich eine wichtige Figur im Buch. Wer bei 1080 Buchseiten nicht mit der Wimper zuckt, sollte hier zugreifen.

Bewertung vom 04.01.2017
Satin Island
McCarthy, Tom

Satin Island


sehr gut

Der Icherzähler U. ist auf dem Flughafen Turin gestrandet und vertreibt sich die Zeit, indem er Film-Berichte über Ölkatastrophen betrachtet. U. assoziiert zum Thema Flughafen und verliert sich in Vorstellungen vom Drehkreuz über die Radnabe bis zum Zahnkranz. U. arbeitet als Anthropologe/Anthropograf in einer international tätigen molochartigen Unternehmensberatungs-Gesellschaft. Sein Berufswunsch entstand in seiner Kindheit beim Betrachten von Fernsehdokus über fremde Länder. Er befasst sich nun mit Branding, mit der Beratung kompletter Regionen und erstellt Material für Regierungen, die es wiederum an die Öffentlichkeit und die Presse weitergeben. Als Wissenschaftler hat er praktisch die Seiten gewechselt von der hehren Forschung zur profanen Gewinnerzielungsabsicht. Statt über Firmen forscht U. jetzt für diese Firmen, erzeugt Fiktion in ihrem Interesse. Er überhöht bei seiner Tätigkeit u. a. alltägliche Gebrauchsartikel und gibt den Dingen so eine Bedeutung. Ein Kollege U.s arbeitet zu Verkehrsströmen in Lagos, ein absurdes Unterfangen in einer Stadt, der jemand ein Straßensystem für Linksverkehr aufgepfropft haben muss und in der trotz alledem weiter rechts gefahren wird.

U. soll seinem Arbeitgeber den "Großen Bericht" über unser Zeitalter abliefern, dessen Form sich im Laufe der Arbeit von selbst ergeben soll, eine Arbeit, an deren Sinn ein denkender Mensch sofort zweifeln müsste. Bisher konnte U. zwischen seinen Aufträgen noch immer eigenen Forschungsinteressen nachgehen ' ein paradiesisch klingender Zustand. Allein zum Thema Anthropologie, wem nützt sie, wen ernährt sie und was bezweckt eine Gesellschaft damit, kann man sich zwischen den kurzen Abschnitten in endlosen Assoziationen bewegen. U. steht für mich stellvertretend für die Sinnkrise moderner Gesellschaften zwischen Tätigkeiten, die ein Individuum gern ausüben möchte, und der Notwendigkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen. Wenn eine Person namens Daniel "Unter dem Pflaster liegt der Strand" zitiert, könnte ich dazu stundenlang assoziieren. Der Titel Satin Island selbst ist von U. ebenfalls assoziiert und aus Staten Island entstanden.

Fazit
Die einzelnen Abschnitte des Buches, in Form einer Dezimalklassifikation nummeriert, wirken wie ein Selbstbedienungsladen, aus dem sich jeder Leser Versatzstücke aussuchen kann, die bei ihm eigene Ideen in Gang setzen werden. Anfangs habe ich mich gefragt, ob die Kapitelnummerierung einem Mathematiker eine bestimmte Botschaft übermitteln könnte. Doch sie scheint hier eher als Werkzeug des Archivars zu stehen, der Artefakte sammelt und katalogisiert. U. selbst wirkt wie ein Archivar, der "ordnet, zähmt und katalogisiert". Die erforschten Artefakte wiederum werfen die Frage auf, weshalb Wissenschaftler und Kuratoren sich mit Dingen beschäftigen, die einmal Völkern gehörten, deren Lebensgrundlagen inzwischen endgültig zerstört wurden. Womit wir wieder bei den Ölkatastrophen wären, die U. sich aus warmer, sauberer und sicherer Position auf Bildschirmen ansieht. "Satin Island" hat auf mich wie ein in der Vergangenheitsform erzählter Remix gewirkt, der erstaunliche eigene Gedanken in Gang zu setzen vermag, wenn seine Leser Interesse an Anthropologie, Forschungs-, Planungs- und Organisationsprozessen haben.

Bewertung vom 04.01.2017
Altern - immer für eine Überraschung gut
Kast, Verena

Altern - immer für eine Überraschung gut


gut

Unter einem durch den Begriff "Überraschung" positiv besetzten Titel befasst sich Verena Kast mit der 7. Lebensdekade oder dem dritten Lebensalter, auf das durch unsere gestiegene Lebenserwartung noch ein viertes folgen könnte. Sie blick zunächst in einer persönlichen Einleitung kritisch auf negativ wirkende Botschaften anderer (wie lange willst du n o c h dies oder jenes tun?) und wehrt sich dagegen, ihre Generation von anderen in vorgezeichnete Bahnen pressen zu lassen. Trotz körperlicher Schwächen, Abnahme des Seh- und Hörvermögens und Verlangsamung der Reaktionen möchte sie das Altern als Herausforderung und nicht als Krankheit sehen. Das Prinzip SOK (Selektion, Optimierung, Kompensierung) empfiehlt sie zur Anpassung an bevorstehende Veränderungen. Eingeschoben werden Statements von älteren Personen, die die Autorin zu ihrer Sicht befragt hat. Themen sind neben positiven Seiten des Alters (Weisheitszuwachs, höhere emotionalen Stabilität) der Umgang mit fremden Ratschlägen, eigenen Erwartungen, Enttäuschungen, dem Scheitern und unvermeidlichen Trauerprozessen. Kast benennt selbst ihre eigenen Ängste als Lehrende und Referentin zu versagen. Einige ihrer Erklärungen ergänzen beim Leser das Mosaik des eigenen Wissens, so erfährt man z. B., warum alte Menschen mehr erzählen, während die Fähigkeit abnimmt, anderen zuzuhören.

Als Therapeutin und Dozentin führt die Autorin selbst ein privilegiertes Leben; denn Lehren, Schreiben und als Therapeut berufstätig sein sind bis ins hohe Alter möglich. Für viele andere Berufe trifft das leider nicht zu und entsprechend schwerer wird es sein, im Alter körperlich und geistig rege zu bleiben. Trotz seines klaren Stils und der übersichtlichen Länge von 160 Seiten wird Kasts Buch wohl nur Menschen nützen, die sich in einer vergleichbaren Situation wie die Autorin befinden.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Cyberpsychologie
Katzer, Catarina

Cyberpsychologie


ausgezeichnet

Kleine Kinder können inzwischen "wischen", noch ehe sie sprechen lernen. Nutzer zwischen 17 und 23 schalten ihr Smartphone 130x am Tag an. Während der Zeit, die sie wach verbringen, ist das circa alle 7 Minuten. Seit der Jahrtausendwende wird von uns 24-stündige Erreichbarkeit vorausgesetzt, das Smartphone macht sich neben dem Bett wie auf dem Esstisch breit. Folgen davon sind, dass nur wenige Menschen noch von der virtuellen Welt abschalten können und der Griff zum mobilen Endgerät längst die Form von Suchtverhalten angenommen hat. Catarina Katzer hat sich auf die psychologische Wirkung des Web 4.0 auf das menschliche Gehirn spezialisiert und herausgefunden, dass Multitasking an mobilen Endgeräten eine Illusion ist, da nur 2% der Menschen wirklich zum Multitasking in der Lage sind. Alle anderen sind vom ständigen Perspektivwechsel zwischen realer und virtueller Welt, zwischen privat und öffentlich überfordert, unsere Konzentration ist durch die ständige Ablenkung erheblich schlechter, als wir uns einbilden. Die Vorgänge beim Mailen, Surfen, Selftracking u. ä. Aktivitäten sind immer komplexer geworden, die Konzentrationsfähigkeit wurde jedoch gleichzeitig schlechter. Diese fatale Kombination wird beim Online-Shoppen, Online-Banking und auf diversen Online-Profilen vermutlich zu zahlreichen Fehlern führen. - Catarina Kratzer befasst sich mit unterschiedlichsten Themen, unserem Peer-Group-Verhalten, das wir in die virtuelle Welt übertragen, sowie der Verrohung innerhalb von virtuellen Gruppen, wenn die üblichen Normen außer Kraft gesetzt zu sein scheinen. Sie analysiert unser Bedürfnis, nichts zu verpassen, die Wirkung von Belohnungssystemen, wie sich Vertrauen in Nachrichten und Urteile bildet, wie Glaubwürdigkeit entsteht und wie sich generell unser Denken seit der Entwicklung des Internet entwickelt hat. Im Netz beherzigt inzwischen kaum noch jemand die gute journalistische Regel, jede Information doppelt zu checken, ehe sie verbreitet wird. Während herkömmliche Medien in den letzten Monaten rasant an Glaubwürdigkeit verloren haben, hat im Internet die Menge der Falschmeldungen rapide zugenommen, die ungeprüft weiter verbreitet werden. Noch bis 2012 vertrauten die meisten Menschen realen Personen stärker als Informationen aus dem Internet; dieses Verhältnis scheint zurzeit zu kippen. Wie hoch die Ansprüche an unserer Medienkompetenzen inzwischen sind, zeigt sich daran, dass selbst Catarina Katzer, die sich ständig mit dem Thema befasst, als Beispiel einer Online-Kampagne eine Nachricht anführt, die sich später als Fälschung erwies (S. 194). Weiteres Thema des Buches ist die Unterscheidung zwischen Zugang/Verfügung über ein Gerät und Bildung, oder auch zwischen Fundort einer Information und der Fähigkeit, die Meldung einzuordnen und zu beurteilen. Teilhabe an technischen Möglichkeiten konnte bisher Bildung noch nicht ersetzen. - Es geht im Buch u. a. um Cyberchondrie, das Googeln nach Krankheitssymptomen, um Gewaltdarstellungen und ihre Wirkung, um die Illusion eines "Sharing" auf kommerziellen Vermittlungsplattformen, Internetdating, Whistleblowing, die Flucht großer Konzerne aus der Verantwortung für ihre Plattformen durch geschickte Wahl des Firmensitzes, das unkontrollierte gratis Verschleudern unserer Daten an Konzerne, ohne dass wir beurteilen können, was diese Konzerne damit genau betreiben. - Angesichts von Katzers Erkenntnissen zu unserer schwächelnden Aufmerksamkeitsspanne finde ich es mutig, ein 345 Seiten dickes Buch zu schreiben. ;-) Interessant ist das Buch besonders für Eltern von Kindern und Jugendlichen, weil es sich zur Wirkung von Internet-Inhalten auf Jugendliche äußert, d. h. Gewalt, Pornografie, extremistische Inhalte, Essstörungen als Folge manipulativer Körperbilder, sowie ausführlich zum Reiz des virtuellen Spiels mit Rollen und Identitäten bei Jugendlichen. Ein umfassendes, aktuelles und auch für psychologische Laien problemlos zu lesendes Sachbuch.

Bewertung vom 04.01.2017
Unicorns don´t swim

Unicorns don´t swim


sehr gut

Das Coverfoto der Anthologie des AvivA Verlags zeigt eine selbstbewusst und erwachsen wirkende Skaterin. Ihre Haltung vermittelt die Hoffnung, dass hier Frauen-Figuren auftreten könnten, die mehr wollen als sich zu stylen und auf den Märchenprinzen zu warten. Die Kurzgeschichten-Sammlung tritt mit dem ehrgeizigen Ziel an, Geschlechterstereotype im Kopf der Leser aufzuspüren und ihre Entstehung zu verdeutlichen. 16 Autorinnen setzen sich mit Rollenerwartungen auseinander und schaffen die starken Frauenfiguren, die sie selbst sich in der Literatur wünschen.

Kurzgeschichten schneiden wie aus einem Kuchen ein Stück Realität aus, um anschließend Leser des Texts mit einem unerwarteten Ereignis zu verblüffen. Beim Lesen macht es hier förmlich Klick, wenn der Schalter einrastet und man sich eigener Denkfallen bewusst wird.

Im biografischen Anhang reflektieren die Autorinnen im O-Ton ihr Schreiben und dessen Verknüpfung mit der Genderfrage. Mehrere Autorinnen setzen sich darin mit literarischen Figuren auseinander, die sie geprägt haben. Wenn bisher diesen Autorinnen alternative Rollenentwürfe in der Jugendliteratur gefehlt haben, wie Kathrin Schrocke betont, sind sie selbst mit ihren Beiträgen nun auf dem besten Wege, daran etwas zu verändern. Die literarischen Kostproben wecken Neugier auf die Werke der Beteiligten.

Aufs Korn genommen werden das Anderssein aus unterschiedlichsten Blickwinkeln, Zuschreibungen von außen, was als männlich oder weiblich definiert wird, Übergänge in der persönlichen Entwicklung. Zwischenwelten zeigen sich z. B. im erlebten Entgleiten des eigenen Körpers in der Pubertät oder in Momenten des Erkennens. Antje Wagner wünscht in der Literatur mehr dieser Zwischensituationen und damit mehr Identifikationsmöglichkeiten für Jugendliche. Sophie Micheell fordert für jeden Menschen die freie Wählbarkeit einer Rolle in der Gesellschaft, ohne dass sie von außen aufgezwungen wird. Themen der Kurzgeschichten sind neben der Genderfrage und dem Finden des eigenen Weges auch Krankheit, Selbstmord, Abschied, Gewalt. Was wäre, wenn alle sportlich sind, nur du nicht? Was wäre, wenn du ein Mädchen triffst, in dessen bisherigem Leben Frauen nicht auf die Straße gehen und schon gar keinen Sport treiben durften?

Außer der als Autorin preisgekrönten Antje Wagner haben z. B. Corinna Waffender, Kathrin Schrocke und Tania Witte bereits Romane veröffentlicht, Anja Kümmel und Claudia Schuster schrieben Science Fiction Romane, Ingrid Annel arbeitet an einer Zeitreisegeschichte für Jugendliche.

Der AvivA-Verlag ist bisher noch nicht mit Jugendliteratur hervorgetreten. Mit der Altersempfehlung ab 14 erscheint nun eine Anthologie, deren Texte nicht alle gezielt für Jugendliche geschrieben wurden. Der Band wirkt nicht ganz rund, weil Texte bei jugendlichen und erwachsenen LeserInnen unterschiedlich funktionieren (Beispiel Humor). Eine Kurzgeschichtensammlung, die nicht nur Drache und Einhorn aufs Spielfeld schickt, sondern ihren LeserInnen die andere Hälfte des Mondes zeigen kann.

Bewertung vom 04.01.2017
In Afrika
Perry, Alex

In Afrika


sehr gut

Wer sich mit dem Thema Afrika beschäftigt, muss zunächst akzeptieren, dass kein einheitliches Afrika existiert, sondern eine Vielzahl von Staaten, die wiederum aus einer großen Anzahl einzelner Stämme, Kulturen und Religionen bestehen. Diese Aufsplitterung vollzieht Alex Perry mit der Darstellung einzelner Konflikte z. B. im Sudan, in Uganda, Ruanda, Simbabwe, Südafrika, Mali und Nigeria. Wie jeden Afrikabesucher treibt auch Perry die Frage vorwärts, warum in Afrika noch immer Menschen von Hilfsgütern abhängig sind, während in ihrer Sichtweite fruchtbares Weideland ungenutzt bleibt. Beispiele für ineffektive Projekte gibt es zuhauf, um deren Fortführung sich niemand kümmert, weil in der Planung bereits zu europäisch oder amerikanisch gedacht wird. Aus diesem Grundkonflikt, der inzwischen die dritte Generation von Helfern wie Kritikern der 'Entwicklungshilfe' umtreibt, ergeben sich Fragen, wie Armut und Hunger entstehen, wem Hilfsprojekte nützen, wo die Gelder landen, warum die Helfer/Geberländer Teil des Problems sind ' und welche Interessen speziell die USA in Afrika verfolgen. Die Entwicklungshilfe-'Industrie' beschäftigt weltweit mehr Mitarbeiter als die Erdöl- und Erdgasindustrie. Laut Perry lösen NGOs selten Probleme, sondern befassen sich mit Projekten, für die viele Spenden zu erwarten sind. Die Infrastruktur, die für ausländische Hilfskräfte zunächst vor Ort finanziert werden muss, wird die Mehrheit neutraler Beobachter an Sinn und Wirtschaftlichkeit von Hilfsprojekten zweifeln lassen. Der Zusammenhang zwischen Hilfsaktionen, dem politischen Einfluss charismatischer Lobbyisten und durch Hilfsorganisationen herbei gerechnete Krisen zur Rechtfertigung ihrer eigenen Existenz war mir in dieser Form neu - auf den Zusammenhang muss man erst gestoßen werden. - Perry setzt sich am Beispiel von Kagame und Mugabe intensiv mit prominenten Köpfen afrikanischer Zeitgeschichte auseinander. Einige der von ihm zusammengetragenen Facetten sind bekannt, wie die fatale Kleptokratie, wenn ehemalige Freiheitskämpfer ein altes System absetzen, um anschließend ihren Staat umgehend zur eigenen Bereicherung auszubeuten. Perry erklärt die Probleme afrikanischer Staaten mit dem Bild des Grabens, mit dem er sowohl ein Auseinanderdriften von Europa und Afrika abbildet, von Arm und Reich, von gebildet und nicht gebildet, Wüste und Ackerland oder als ethnische Spaltung zwischen Stämmen unterschiedlicher Kulturen. Voraussetzung für eine gesellschaftliche Spaltung sei stets eine schwächelnde Wirtschaft; von jeder Spaltung profitierten in erste Linie korrupte Eliten, so der Autor. Letztlich landet man immer wieder beim Erbe der Kolonialherren, die irgendwann einmal Staaten willkürlich zusammenwürfelten, deren Stämme die Zwangsvereinigung jedoch bis heute nicht nachvollzogen haben. Wichtiger Punkte in seinen Ausführungen sind Investitionshindernisse wie fehlender Privatbesitz an Land und Gebäuden mit folglich fehlenden Eigentumsrechten. Die "Hilfe" bei gleichzeitiger Ausbeutung von Bodenschätzen durch chinesische Investoren sieht Perry unkritisch, obwohl sie sich m. A. vom Handeln ehemaliger europäischer Kolonialherren nicht unterscheidet. Ein Ausblick auf das Afrika der Zukunft, in dem Afrikaner Anwendungen für afrikanische Bedürfnisse entwickeln und vermarkten, schließt den über den afrikanischen Kontinent hinweg geschlagenen großen Bogen seiner Reportagen und legt zugleich das Bild vom mittellosen Afrikaner zu den Akten. - Perry setzt sich schwerpunktmäßig auseinander mit der Beziehung zwischen den USA und Afrika. Für mich als europäischer Leser ist das bedingt interessant. Wie viel Nutzen Leser aus seinen Ausführungen ziehen, hängt stark von den Vorkenntnissen zum Thema ab und ob man aus seiner Perspektive Nutzen ziehen kann.