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hasirasi2
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Dresden

Bewertungen

Insgesamt 1154 Bewertungen
Bewertung vom 26.11.2021
Die letzte Schuld / Ein Fall für Emil Graf Bd.2
Rehn, Heidi

Die letzte Schuld / Ein Fall für Emil Graf Bd.2


ausgezeichnet

Mord in der Vorstadt

„Was wir Juden hier vor dem Krieg erlebt haben, war ein Alptraum. Dabei waren wir hier zu Hause, haben uns als Münchnerinnen und Deutsche gefühlt wie alle anderen auch. Wir müssen zurückkommen und dabei helfen, das Unrecht wiedergutzumachen.“ (S. 18) Billa und ihre Freundin Lydia befragen für einen Artikel die Bewohner einer Münchner Vorstadtsiedlung zu den Entnazifizierungsbögen, als sie das Auto der Mordkommission entdecken. Eine tote Frau wurde gefunden, ermordet, und die Auffindesituation sieht wie eine Hinrichtung oder ein Racheakt aus. Wer ist sie und warum musste sie jetzt, ein Jahr nach Kriegsende, sterben? Am Tatort treffen sie auf den Mordermittler Emil Graf. Da Billa ihm letztes Jahr schon einmal bei einer Ermittlung geholfen hatte, bittet er sie, sich bei ihrer Recherche auch nach der Frau umzuhören. Dabei bekommt Billa den Tipp, dass es bei den „Persilscheinen“ Mauscheleien gibt. Emil hingegen stößt auf eine Spur, die zu Kunstwerken aus dem „Haus der Kunst“ führt, Hitlers ehemaliger Sammlung ...

„Die letzte Schuld“ ist der zweite Teil der Reihe um den Polizeiermittler Emil Graf und die jüdischen Reporterin Billa Löwenfeld. Man kann die Bücher aber unabhängig voneinander lesen.

Heidi Rehn schafft es, den Leser sofort in die Geschichte zu ziehen und nicht wieder loszulassen. Ich fand es sehr gelungen, wie sie auf das inzwischen vergangene Jahr und die Veränderungen bzw. Fortschritte in München eingeht. Billa und Emil hatten sich nach dem ersten Fall aus den Augen verloren und müssen sich erst einmal wieder annähern, zumal es zwischen ihnen ordentlich knistert.
Mir gefällt, wie Emils Zerrissenheit dargestellt wird. Einerseits macht er seine Arbeit gern und gut, andererseits hadert er immer noch mit seiner Schuld als Mitläufer. Er will nie wieder eine Waffe führen, nie wieder jemanden töten – das könnte bei der Polizeiarbeit zum Problem werden, es macht ihn aber auch sehr menschlich.
Billa ist sehr forsch und scheint vor kaum etwas Angst zu haben, wird dadurch aber auch leichtsinnig und gerät mehr als einmal in gefährliche Situationen. Ich bin fasziniert und beeindruckt, wie geschickt sie die Leute mit Zigaretten, Kaffee oder Schokolade zum Reden bringt und wie offen sie in die Gespräche mit ihnen geht. Sie könnte ja auch einfach alle Deutschen hassen, aber sie hat ihre Vorurteile gut im Griff. Außerdem ist sie immer noch ihrer Abstammung auf der Spur, um die ihre Mutter ein großes Geheimnis macht. Weiß Emils Bruder Fritz mehr? Seine Andeutungen lassen es zumindest vermuten …

Der Fall ist sehr spannend und wirklich gut konstruiert. Ich habe die ganze Zeit mitgerätselt und Vermutungen angestellt, wie alles zusammenhängt. Mir gefällt, wie der Prozess der Entnazifizierung und der Umgang der mit Nazi-Kunst zu dieser Zeit in die Handlung eingeflossen ist – das hat Heidi Rehn hervorragend recherchiert.

Auch die von Angst und gegenseitiger Abhängigkeit geprägt Atmosphäre in der Siedlung war förmlich spürbar. Die Bewohner wissen natürlich genau, welcher Nachbar sich bei den Nazis verdient gemacht hatte, schweigen aber aus verschiedenen Gründen. Nur der Blogwart scheint das Wissen für seine Pläne zu nutzen. Und obwohl kaum einer ein gutes Wort für die Tote übrighat, können Billa und Emil kein Mordmotive feststellen. Fakt ist nur, dass sie sehr ehrgeizig war und hoch hinaus wollte. Ist ihr das zum Verhängnis geworden?

Mein Fazit: Auch „Die letzte Schuld“ ist ein fesselnder, hervorragend recherchierter Krimi mit historisch verbürgten Fakten und einem tollen Ermittlerpaar – ich hoffe, dass sie noch weitere Fälle im München der Nachkriegszeit lösen werden.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.11.2021
Mach dich locker
Berg, Ellen

Mach dich locker


ausgezeichnet

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!

„Marie Hasemann, das Kaninchen im Raubtiergehege.“ (S. 7) ist Food-Designerin und entwickelt gesunde Nahrungsmittel. Ihrem Chef Holger, der aussieht wie ein Surferboy, steht sie fast rund um die Uhr zur Verfügung. Parallel managt sie auch noch erfolgreich ihren Mann Alexander, einen etwas lebensuntüchtigen Anwalt, und ihre beiden Kinder Robin und Lilli. Das weiß außer ihrer Assistentin Scarlett aber niemand, denn bei FeelBetterFood ist man jung, dynamisch, erfolgreich und unabhängig ... Zudem ist sie perfektionistisch veranlagt, hat für alles eine Liste und prüft alles nach. „Mein Leben ist wie jonglieren mit Dynamit … Einmal die Kontrolle verlieren, und schon fliegt mir alles um die Ohren.“ (S. 10) Und genau das passiert, als ein neuer Schüler in Robins Klasse auftaucht und dessen Mutter Babette Marie den Rang abläuft. Prompt legt ein Hexenschuss Marie völlig lahm und sie verliert die Kontrolle über ihr Leben und ihre Familie …

„Mach dich locker“ von Ellen Berg ist viel mehr als ein heiterer Frauenroman. Sehr tiefgründig geht sie auf das Problem der überforderten Karriere-Mütter ein, die immer in allem die besten und perfekt sein wollen und dabei nicht nur die eigenen Ziele und Wünsche aus den Augen verlieren, sondern auch die ihrer Partner und Kinder. Gekonnt spielt die Autorin dabei mit den Erwartungen und Ansichten der Leser und geht amüsant auf die Schulweisheiten und Irrtümer der Volkskrankheit Rücken ein.

Ich wusste zu Beginn nicht, wer mir mehr leidtut – Marie oder ihrer Umwelt. Ich werde ja schon liebevoll „Planungsbeauftragte“ genannt, aber Marie ist noch schlimmer. Sie installiert eine Überwachungskamera im Teddy ihrer Tochter, ist die Klassensprecherin bei ihrem Sohn und versucht ihren Mann immer wieder zu „optimieren“. Kein Wunder, dass der mit der lockeren Babette anbandelt und die Kinder einfach an einen Babysitter und seine extrem übergriffige Mutter abschiebt. Robin entzieht sich als Teenager immer mehr Maries Kontrolle und sie muss Seiten an ihm entdecken, die sie nie für möglich gehalten hat. Als dann auch noch die süße kleine Lilli lieber eine zerfetzte Jeans als einen rosa Rüschenrock will, gerät ihr Weltbild völlig ins Wanken. Aber je mehr sich Marie auf ihre Rückenprobleme und die Behandlung einlassen muss, desto mehr denkt sie über alles nach und versetzt such auch in die Position ihres Gegenübers ...

Natürlich kommt der Humor trotzdem nicht zu kurz. Das beginnt schon mit den ausgefallenen Namen von Babettes Kindern Luna-Rosé und Marvin-Blue (Wer muss da auch an Familie Ochsenknecht denken?) und setzt sich über die zum Teil überzeichneten Protagonisten (den Orthopäden und seine Frau habe ich gefeiert), die gelungene Situationskomik und Sprüche fort. „Manche Probleme lösen sich ganz von allein. Man darf sie nur nicht dabei stören.“ (S. 77).

Die Handlung hat ein ordentliches Tempo, man mag das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen, und einige Überraschungen parat, damit es nie langweilig oder vorhersehbar wird. Genial fand ich auch die Schlüsselszene am Ende und vor allem das Kopfkino dazu. Überhaupt frage ich mich nach dem Lesen von Ellen Bergs Büchern immer, warum die noch nicht verfilmt wurden?!

5 Sterne und meine Leseempfehlung für diesen humorvollen Rücken- und Lebensratgeber.

Bewertung vom 18.11.2021
Die Stunde der Frauen / Fräulein Gold Bd.4
Stern, Anne

Die Stunde der Frauen / Fräulein Gold Bd.4


ausgezeichnet

Blut, Ehre, Erbe

„Das Leid der Frauen aber scheint unsichtbar.“ (S. 336)
1925 scheint Hulda Gold endlich an- und zur Ruhe gekommen zu sein. Sie ist die leitende Hebamme der Frauenklinik Berlin-Mitte und mit dem jungen Arzt Johann Wenckow zusammen, der ihr die Sterne vom Himmel holen und die Welt zu Füßen legen würde – wenn sie nur wöllte.
Als sie auf einem Ball das heulendes Dienstmädchen Ellen trifft (schwanger, hoffnungs- und zukunftslos), bietet sie ihr ihre Hilfe an und wird in ein altes Familiengeheimnis aus „Blut, Ehre, Erbe“ gezogen, das ihnen sehr gefährlich werden kann …

Anne Stern verwebt gekonnt Huldas Arbeits- und Privatleben, schildert ihren aufreibenden Klinikalltag, den Spagat zwischen dem was sie darf und was nicht. Zwar hat sie relativ feste Arbeitszeiten und ein gutes Gehalt, aber ihr fehlt die Intimität und Privatsphäre der Hausgeburten. Die Klinik ist eine Lehranstalt für angehende Ärzte und Hulda darf die Schwangeren nur noch in Ausnahmefällen entbinden. Zudem ist sie eine Anhängerin von Käthe Kollwitz, kämpft für die Selbstbestimmung der Frauen über ihren Körper und ihr Leben – sie sollen selbst entscheiden, ob sie ein Kind bekommen wollen oder nicht. Darum wehrt sich Hulda vehement gegen den §118 und nennt den Frauen bei Bedarf eine sichere Adresse. Dabei sehnt sich immer öfter nach einem eigenen Kind.

Auch die Kluft zwischen ihrer und Johanns Welt erscheint ihr an manchen Tagen unüberwindlich. Mit ihm könnte sie endlich glücklich sein, aber die Unterschiede zwischen seiner Familie und ihr sind ihr zu groß, die Interessen, Ansichten und Vorstellungen zu verschieden. Zudem machen seine Eltern keinen Hehl daraus, dass Hulda nicht ihre Traum-Schwiegertochter ist. Und sie kann „ihren“ Kriminalkommissar Karl North nicht vergessen.

Anne Stern hat es wieder geschafft, mich ab der ersten Seite in Huldas Kosmos und die Berliner Atmosphäre der 20er Jahre zu ziehen. Seit 4 Bänden begleite ich Hulda nun schon, und noch immer entdecke ich neue Facetten an ihr, bleibt ihr Leben überraschend und spannend. Ellens Geheimnis bringt Hulda endlich ihrem Vater wieder näher, so erfährt man mehr über ihren familiären Hintergrund und langsam fügen sich die Puzzlestücke ihres Lebens zusammen.

Ich liebe und bewundere diese starke, empathische, selbständige und unabhängige Frau, die ihren Beruf mit Leidenschaft ausübt und nicht nur die Ehefrau eines gutsituierten Mannes sein will. Sie setzt sich immer wieder für andere und ihre Überzeugungen ein und verliert nie den Mut.

Und ohne zu viel verraten zu wollen, nach dem Ende jetzt bin ich natürlich extrem gespannt, wie es im nächsten Band weitergeht ;-)!

Bewertung vom 15.11.2021
Rue de Paradis / Luc Verlain Bd.5
Oetker, Alexander

Rue de Paradis / Luc Verlain Bd.5


sehr gut

Das gallische Dorf

„… es ist ein Sturm. Ein fieser Sturm, sonst nichts. Wir haben schon schlimmere Sachen überstanden. … Wir schaffen das.“ (S. 14) sagt Philippe Deschamps, der Bürgermeister des kleinen Örtchens am Cap Ferret, in einer verhängnisvollen Nacht im März, als er das Dorf eigentlich evakuieren lassen soll. Aber dann würde herauskommen, dass die Häuser in der Rue de Paradies illegal in der Naturschutzzone gebaut wurden und er das möglich gemacht hat. Die Sturmflut lässt die Düne brechen und überflutet das Gebiet. Eine ältere Bewohnerin ertrinkt.
Mühsam bauen die Einwohner alles wieder auf. Doch ein halbes Jahr später kommt der Schock – auf Anweisung des Innenministeriums sollen alle Häuser in der Rue de Paradies abgerissen werden. Die Gefahr ist zu groß, dass sie bei der nächsten Sturmflut wieder absaufen. Alle Häuser? Nein, das des Bürgermeisters darf bleiben, weil es weiter oben steht. Die Emotionen kochen hoch. Commissaire Luc Verlain soll vermitteln und sie zur freiwilligen Umsiedlung überreden. Da kommt wieder ein Sturm auf, die Düne bricht ein weiteres Mal und der Bürgermeister wird ermordet. Abgeschnitten von der Außenwelt und auf sich allein gestellt, beginnt Luc noch in der Nacht, den Mord aufklären. Schnell stellt fest, dass der Tote viele Feinde hatte …

Alexander Oetker hat es geschafft, von Beginn an eine extrem dichte und bedrückende Atmosphäre zu schaffen und den Krimi in ein Kammerspiel zu verwandeln. Das liegt zum einen an der Lage des kleinen Örtchens, am Ende des Cap Ferret, zwischen dem Bassin d'Arcachon und dem Atlantischen Ozean. Und zum anderen an der Sturmflut, bei der man sofort die Bilder des Ahrtals vor Augen, die alles vernichtenden Wasser- und Schlammlawinen. Dann wird Luc zusammen mit den letzten Bewohnern auf engstem Raum eingeschlossen, das Wasser steigt, der Strom fällt aus, das Handynetz bricht zusammen. Von den ersten Gesprächen weiß er, dass alle ein Hühnchen mit dem Bürgermeister zu rupfen hatten. Er hatte ihnen gedroht, ihre dunkelsten Geheimnisse zu verraten, wenn sie nicht freiwillig gehen wollten. Und er wusste alles! Deschamps war ein smarter Typ, ein Menschenfänger der sein Gegenüber überzeugen oder einlullen konnte und damit erpressbar machte. Aber wer von ihnen hat jetzt die Nerven verloren oder die Gunst der Stunde genutzt, um ihn loszuwerden?

„Rue de Paradies“ ist bereits der fünfte Teil der Luc-Verlain-Reihe von Alexander Oetker, kann aber unabhängig von den ersten Bänden gelesen werden – wobei ihr da was verpassen würdet. Und obwohl ich diesmal relativ früh einen Verdacht bzgl. des Täters und Motivs hatte, hat es mich so gefesselt, dass ich das Buch am Stück bis kurz vor Mitternacht ausgelesen habe.
Neben dem wirklich spannenden Fall machen auch das gelungene Setting, die raue Küstenlandschaft, die landestypischen Gerichten und passenden Weine diese Reihe so perfekt für einen kriminellen Ausflug an Frankreichs Atlantikküste.

Bewertung vom 13.11.2021
Selma Lagerlöf - sie lebte die Freiheit und erfand Nils Holgersson
Feyerabend, Charlotte von

Selma Lagerlöf - sie lebte die Freiheit und erfand Nils Holgersson


sehr gut

Die heimliche Königin Schwedens

„… wenn ich schreibe, dann passt zwischen die Welt und mich kein Blatt, dann bin ich nur noch eine dienende Hülle meiner Gedanken.“ (S. 32)
Selma Lagerlöf war eine Frau voller Widersprüche. Mit den Märchen, Sagen und Legenden ihrer schwedischen Vorfahren aufgewachsen, liebt sie alles Mystische und glaubt an die Trolle und Feen ihrer Heimat. Trotzdem strebt allem Neuen und Modernen zu, setzt sich für eine bessere Schulbildung, die Gleichberechtigung und das Frauenwahlrecht ein und liebt die Annehmlichkeiten moderner Technik. Sie war ein Vorbild für viele Frauen jeder Altersklasse und aus aller Herren Länder, erhielt und schrieb unzählige Briefe und unterstützte zeitlebens nicht nur ihre eigene Familie, sondern auch Freunde, Bekannte, ihre Angestellten und Bittsteller.

Charlotte von Feyerabend zeigt in ihrem Buch viel von Selmas privater Seite. Man kann ihr förmlich ins Herz und Hirn sehen, ist bei den Entstehungsprozessen ihrer berühmtesten Werke dabei und den Dramen, die die beiden Frauen ihres Lebens mit- und gegeneinander ausfechten.
Selma war schon immer anders, hielt sich nie für hübsch, wollte bereits als Kind ein Mann sein, der schöne Frauen lieben darf, und hinkte (wahrscheinlich aufgrund einer Kinderlähmung). Doch sie hat sich deswegen nie einschränken lassen, machte ihr Leben lang Gymnastik, reiste viel und las alles, derer sie habhaft werden konnte, um sich universell zu bilden.

„Kontrolle war eins ihrer Lebensmottos, neben dem starken Willen und dem Fleiß.“ (S. 13) Die Autorin zeichnet das Bild einer pflichtbewussten und disziplinierten Frau voller Träume und Ideen, die um ihre Unabhängigkeit von Männern und ihrem Brotberuf (sie war Lehrerin) kämpfte. Sie zeigt Selmas Ringen um Ideen und Anerkennung – auch monetäre (!), denn sie muss immer wieder auf ihr (Urheber-)Recht und eine angemessene Bezahlung drängen.
Auch die Dreiecksbeziehung zwischen Selma und ihren beiden Gefährtinnen wird sehr respektvoll beschrieben, obwohl da wohl ganz schön die Fetzen geflogen sind. Ich habe Selma für ihren Mut bewundert, im Rahmen ihrer Möglichkeiten (Geld, gesellschaftliche Normen etc.) so zu leben, wie sie wollte. Zudem hat mich fasziniert, dass sie es wirklich geschafft hat, dass vom Vater durch Schulden verlorene Hofgut der Familie wieder zu erwerben und aufzubauen, und damit den Menschen der Umgebung Arbeit zu geben. Sie hat immer versucht, anderen zu helfen und machte sich auch gegen die Nationalsozilisten stark.

Der sehr poetische, etwas ausschweifende und bildliche Erzählstil erinnert an den Selmas und lässt Land und Leute zu ihrer Zeit lebendig werden, machte es mir aber z.T. etwas schwer, der Handlung zu folgen. Ich hätte mir an einigen Stellen auch noch mehr Details und Fakten gewünscht (z.B. über das Buch Nils Holgersson, das ja eigentlich als Schulbuch konzipiert war, und ihren gleichnamigen Adoptivsohn), aber da nur Fragmente ihres Lebens erzählt, einiges nur angerissen wird und zum Teil sehr große Zeitsprünge in der Handlung sind, was das wahrscheinlich nicht möglich.

Trotzdem ist „Selma Lagerlöf - sie lebte die Freiheit und erfand Nils Holgersson“ eine sehr empfehlenswerte Romanbiographie über eine beeindruckende Frau.

Bewertung vom 10.11.2021
Der schönste Traum
Steinborn, Margit

Der schönste Traum


weniger gut

Schmonzette

Im Frühjahr 1914 legt die Magd Klara ihren neugeborenen Sohn Tobias auf den Stufen von Gut Benhaim ab. Sie weiß, dass Baronin Isabell hat vor einigen Tagen schon das 3. Kind verloren hat und hofft, dass sie und ihr Mann Rainer das Kind adoptieren. Ihr Plan geht auf, doch der Baron will unbedingt wissen, warum eine Mutter ihr Kind einfach weggibt und stellt Nachforschungen an, die Ungeheuerliches ans Licht bringen und das Leben aller Beteiligten verändern ...

Leider konnte mich „Der schönste Traum nicht“ überzeugen. Ich hatte einen historischen Roman mit Tiefgang erwartet, aber eine Schmonzette vor historischem Hintergrund bekommen. Man kann es mit den Gefühlen auch übertreiben und hier kam es mir oft so vor, als hätte sich Margit Steinborn an früheren Stummfilmstars und deren übergroßen Gesten orientiert, damit auch noch der letzte begreift, was Sache ist. Außerdem war mir spätestens ab S. 81 klar, wie alles zusammenhängt und die Geschichte ausgeht – aber als Leser möchte man überrascht werden. Zudem finde ich den Schreibstil zu langatmig, es fehlte an Spannung und Tempo und auch der Kriegshintergrund bringt nur bedingt Abwechslung ins Geschehen.
Ich hatte gehofft, dass Rainers Tante Alisia die Handlung etwas aufmischt – sie wurde immer als extrovertiert angekündigt, fiel dann aber nicht wirklich aus dem Rahmen. Auch aus Alberts (Rainers Bruder) nicht standesgemäßer Beziehung hätte man deutlich mehr machen können.

Wer einen typischen, vorhersehbaren Liebesroman sucht, macht hier sicher nichts falsch, aber mein Fall war es leider überhaupt nicht.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.11.2021
Neue Dinge aus alten Stoffen

Neue Dinge aus alten Stoffen


ausgezeichnet

Packt die Nähmaschinen aus!

Wahrscheinlich jeder hat ein oder zwei uralte Lieblings-T-Shirts im Schrank, die er schon lange nicht mehr anziehen, aber auch noch nicht wegwerfen kann. Bei mir kommen zu den alten Shirts noch ein paar zerrissene Jeans, aus denen ich seit Jahren eine Tasche, eine Patchworkdecke fürs Bett oder ein großes Kissen für meinen Hund nähen will – zumal meine Mama eine alte Nähmaschine im Keller stehen hat, die sie mir schon ewig „vererben“ will … Ran gewagt habe ich mich an die Projekte bisher leider nie, aber mit dem vorliegenden Buch gibt es keine Ausrede mehr. Leicht verständlich, mit vielen Tipps, Hinweisen und Anregungen wird erklärt, wie einfach es ist, aus alten Lieblingsstücken neue zu machen.

Ich finde es super, dass zu Beginn einige Grundlagen erklärt werden und gezeigt wird, wie man Flick- und Stopfarbeiten oder kleinere Reparaturen ausführt oder Knöpfe annäht. Ich habe das alles zwar noch in der Schule gelernt, aber heutzutage gibt es ja keinen Handarbeitsunterricht mehr.

Dann geht’s auch schon los. Es wird gefärbt, gedruckt, gehäkelt, geschnippelt, geflochten, geknüpft und natürlich genäht, bis die Nadeln glühen. Und jetzt weiß ich auch, was ich in Zukunft aus nach dem Waschen übrig gebliebenen Socken zaubern kann …
Übrigens kann man mit Hilfe des Buches nicht nur Kissen oder Taschen, sondern auch tolle Haushaltshelfer wie Staubwedel oder Filtertüten anfertigen.

Ich habe zwar immer noch keine Patchworkdecke genäht, aber dafür unbenutzte Stoffbeutel mit tollen Sprüchen in wunderschöne Kissenhüllen verwandelt, die jetzt meine Couch zieren .

„Neue Dinge aus alten Stoffen“ ist ein tolles Buch für alle umweltbewussten und an Nachhaltigkeit interessierten Nähbegeisterte und die, die es noch werden wollen.

Bewertung vom 08.11.2021
Die Ullsteinfrauen und das Haus der Bücher
Rygiert, Beate

Die Ullsteinfrauen und das Haus der Bücher


ausgezeichnet

Geld oder Liebe

„Paris hatte mehr Charme, mehr Klasse und Eleganz … Das Ullstein-Haus allerdings stand in Berlin, und so etwas gab es sonst nirgendwo.“ (S. 8)
Ich muss zu gestehen, dass mir gar nicht bewusst war, dass der Ullstein Verlag früher ein jüdisches Familienunternehmen war. Beate Rygiert erzählt in ihrem Roman „Die Ullsteinfrauen und das Haus der Bücher“ von den goldenen Zwanzigern in Berlin und von drei Frauen, die zu dieser Zeit eng mit dem Verlag verbunden sind. Vicky Baum ist ihre Vorzeigereporterin und schreibt sowohl für verschiedenen Zeitschriften und Journale des Hauses, als auch Bücher, die im Buchverlag erscheinen. Ihre Freundin Rosalie Gräfenberg ist freie Journalisten, die u.a. Reportagen für Ullstein schreibt, aber auch Interviews mit berühmten (politischen) Persönlichkeiten. Die dritte im Bunde ist Vickys Sekretärin Lily Blume, genannt Blümchen, die ihrer Chefin nacheifern will und große Ambitionen hat – sich aber noch nicht traut ... So unterschiedlich die drei Frauen auch sind, eint sie doch das Streben nach beruflichem Erfolg, Anerkennung – und der Liebe.
Vicky und ihr Mann, der berühmte Dirigent Richard Lert, führen eine Fernbeziehung, die Kinder leben bei ihm. Obwohl er regelmäßig fremdgeht, will sie sich nicht scheiden lassen – sie liebt ihn noch und er lässt ihr ja auch ihre Amüsements.
Rosalie ist geschieden und liebt ihre Freiheit und Unabhängigkeit. Sie reist durch die ganze Welt und bildet sich von allem eine eigene Meinung, ist extrem wissbegierig und neugierig. Und sie hat eine Affäre, die unbedingt geheim bleiben soll. Doch dann begegnet sie Dr. Franz Ullstein, der, obwohl er so viel älter ist als sie, ihr Herz erobern kann. Aber seine Familie hat etwas gegen ihre Beziehung und boykottiert sie mit allen möglichen Mitteln. Gewinnt am Ende die Liebe oder das Geld?
Lili ist mit ihrer Jugendliebe Emil verlobt, der als Fotograf groß herauskommen will. Wenn sie könnten wie sie wöllten, wären sie längst verheiratet – aber sie haben weder Aussicht auf eine eigene Wohnung noch Emil auf eine feste Anstellung.

Sehr farbenfroh und unglaublich lebendig schildert die Beate Rygiert die damalige Zeit, vor allem natürlich die Künstler- und Kulturszene und wer mit wem ... Ich hatte beim Lesen das Gefühl, direkt dabei zu sein und den Protagonisten über die Schultern zu schauen. Besonders fasziniert hat mich u.a. die Teestunde im Boxstudio von Sabri Mahir. Aber natürlich klingt auch das Erstarken des Nationalsozialismus immer wieder durch. Es werden Straßenschlachten zwischen links und rechts geschildert und der zunehmende Judenhass. Nicht nur Vicky und Rosalie fragen sich immer öfter, wie sicher sie in Deutschland noch sind.

Ich fand das riesige Familienunternehmen Ullstein spannend, die verschiedenen Zeitungen, Journale und den Buchverlag, wie alles funktioniert hat und die verschiedenen Bereiche ineinandergriffen. Die Autorin geht auch auf die Streitereien innerhalb der Führungsebene ein, die nur aus männlichen Familienmitgliedern besteht. Aber natürlich mischen sich auch die Ullsteinfrauen immer wieder mehr oder weniger geschickt und (un)auffällig in das Tagesgeschehen der Firma und Familienangelegenheiten ein, schließlich muss man ja aufeinander aufpassen und will nicht zu kurz kommen – alles unter dem Deckmäntelchen, die Firma für die nächste Generation bewahren zu wollen.

Die Liebesgeschichte zwischen Rosalie und Franz beginnt sehr bezaubernd und witzig: „Sie und ich, wir sollten heiraten. … Sie sind die erste Frau, die mich nicht nach fünf Minuten langweilt. Und ich werde Ihnen Ihre Träume möglich machen.“ (S. 140). Er verspricht ihr die Sterne vom Himmel, eine moderne Ehe, die sie nicht einengen wird. Sie darf ihre Freiheiten und ihr Bankkonto behalten – das war damals nicht unbedingt üblich. Um so mehr taten sie mir leid, als die Grabenkämpfe mit der Familie losgingen. Die versuchen nämlich mit Einschüchterung, Bestechung, Bedrohung und haltlosen Beschuldigungen die beiden zu trennen

Bewertung vom 05.11.2021
Modern Tea Time
D'Andrea, Marco

Modern Tea Time


ausgezeichnet

A Little Bit of Tea?

Wer mich kennt weiß, dass ich eine Affinität zu Koch- und Backbüchern habe und leidenschaftlich gern neue Rezepte ausprobiere. Auf der Frankfurter Buchmesse bin ich über „Modern Tea Time“ gestolpert und war schockverliebt. Darin stellt Marco D’Andrea, der Patissier des Jahres 2020, verschiedene süße und herzhafte Köstlichkeiten für die perfekte Tea Time vor. Aber es ist nicht nur ein Backbuch, sondern durch seine hochwertige Aufmachung und die extrem appetitanregenden Fotos schon fast ein Coffee Table Book. Ich habe inzwischen schon einige Rezepte ausprobiert, nehme das Buch aber auch gern in die Hand, um einfach nur darin zu blättern.

Mir gefällt besonders, dass es sowohl komplizierte als auch ganz einfache Rezepte gibt und dadurch jeder etwas finden sollte, was er sich traut nachzumachen – ganz nach dem Motto: kleiner Aufwand große Wirkung. Denn auch die einfachen Rezepte haben einen Kniff, die sie dann zu etwas besonderem machen.

Ich fand es interessant, auch einen kleinen Einblick in die Geschichte der TeaTime (ich dachte nämlich, die gibt’s schon viel länger) und einen Überblick über die Teesorten und -zubereitung sowie wichtige Backutensilien zu bekommen.

Bei den Rezepten wird dann ganz klassisch mit dem besten Scones-Rezept, was wir je ausprobiert haben, und verschiedenen Konfitüren, Curds und Aufstriche gestartet. Danach kommen kleine Köstlichkeiten wie Kekse oder ein New York Cheescake in der Schale (einfach, aber extrem lecker) und Macarons, gefolgt von sagenhaften Kuchen (z.T. in kleinen Förmchen, damit sie mit einem Haps gegessen sind und man noch etwas anderes probieren kann), Tartelettes und Torten.
Doch auch die unkomplizierten herzhaften Snacks wie Salate und die verschiedenen Tatar-Varianten machen Appetit.
Aber die Krönung sind die Sandwiches mit selbst gebackenem Brot. Das Vollkornsandwich mit Lachs war leider schneller gegessen, als die Kamera einsatzbereit war und gerade habe ich ein perfektes helles Toastbrot im Ofen.
Den Abschluss bilden dann verschiedene Eisvarianten und natürlich Drinks, wobei ein guter Gin-Tonic nicht fehlen darf ;-).

Falls ihr gemütliche Teestunden, Jane-Austen-Romane oder Serien wie Bridgerton mögt oder schon auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken seid, möchte ich Euch „Modern Tea Time“ ans Herz legen. Bereits beim Durchblättern des Buches entspannt man merklich und wenn man sich dann noch an die Rezepte wagt, steht einem gemütlichen Afternoon Tea nichts mehr im Weg.

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Bewertung vom 04.11.2021
Fast Girls
Hooper, Elise

Fast Girls


ausgezeichnet

Der lange Weg zum Ruhm

Amsterdam 1928: Betty Robinson ist erst 16, als sie bei den olympischen Spielen einen neuen Weltrekord im 100-m-Lauf aufstellt. Vergessen sind die Vorurteile, mit denen sie und ihre Eltern vorher konfrontiert wurden: „Machen Sie sich keine Sorgen, dass Ihre Tochter zu maskulin wird?“ (S. 8) Ihr Weg scheint vorbestimmt. Sie trainiert hart für die nächsten Olympischen Spiele, als das Gerücht umgeht, dass Frauen nicht mehr zugelassen werden sollen – wegen ihrer schwachen Konstitution! Doch dann hat sie einen schweren Unfall und alles scheint vorbei zu sein – lt. Aussage der Ärzte wird sie nie wieder gehen können …

Helen war schon immer anders. Sie ist größer als die Jungs in ihrem Alter, athletischer als die Mädchen, mit raumgreifenden Schritten und einer durch eine Halsverletzung rauen Stimme. Ihr fehlt jegliches Interesse an hübschen Kleidern und Frisuren. Sie wird ausgegrenzt und als Monster beschimpft. Aber sie läuft gern: „… sie musste rennen, musste den Luftzug um sich spüren … Sie brauchte die Bewegung, um sich von der Eintönigkeit und Langeweile zu befreien.“ (S. 24) Als sie von Bettys Erfolg liest, träumt sie von einer Teilnahme bei Olympia, hofft, dass ihr Vater sie dann endlich wahrnimmt und stolz auf sie ist.

Louises Lauftalent wird beim Basketball entdeckt. Sie ist eine der wenigen Afroamerikanerinnen in ihrer Stadt, geht alle Wege zu Fuß, rennt oft, denn „Sobald sie lief, verstummten ihre Gedanken, dann spürte sie nur noch das Feuer der Anstrengung. Es tat weh, doch genau das faszinierte sie am Laufen: diese feine Linie zwischen Schmerz, Loslassen und Nachgeben …“ (S. 27) Ihr Onkel war im Krieg in Europa und erzählt, dass es dort keine Rassentrennung gibt, er nicht ausgegrenzt wurde. Das wünscht sie sich für sich selbst. Vielleicht kann sie es durch den Sport schaffen?!

Elise Hooper erzählt in „Fast Girls“ am Beispiel dreier realer Amerikanerinnen von deren beeindruckendem Kampf, als Sportlerinnen wahr- und ernstgenommen zu werden. Sie beschreibt, wie sie sich gegen Vorurteile behaupten, von ihren Hoffnungen und Wünschen, Ängsten und Träumen, ihren intimsten Geheimnissen. Die Autorin schreibt sehr bildlich und fesselnd vom Konkurrenzkampf der Frauen untereinander, aber auch von ihrem Zusammenhalt, wenn es darum geht, zu Wettkämpfen zugelassen zu werden. Denn entgegen dem Klappentext geht es nicht nur um die Olympiade in Berlin, sondern vor allem um den langen und beschwerlichen Weg bis dahin.
Ich war erschüttert, wie sie teilweise behandelt worden. Die Frauen mussten oft bis kurz vor dem Start bangen, ob sie wirklich aufgestellt werden oder wieder nur Reserve sind. Sie durften kein Geld mit ihrem Sport verdienen, waren also auf Spenden, Stipendien oder einen Brotjob angewiesen. Und egal, wie sehr ihnen das alles zugesetzt hat, nach außen waren sie immer stark und haben sich nichts anmerken lassen. „Eines Tages werden sie uns Frauen nicht mehr aufhalten können.“ (S. 449)
Die afroamerikanischen Sportlerinnen hatten es besonders schwer, wurden bei Wettkämpfen oft einfach übergangen, obwohl sie besser als ihre weißen Konkurrentinnen waren und sich bereits qualifiziert hatten.

Die Bilder der Olympiade 1936 kenne ich von der Leni-Riefenstahl-Ausstellung in Potsdam, trotzdem hat Elise Hooper mir bis dato noch unbekannte spannende Fakten über Hitlers und Görings Umgang mit den Sportlern einfließen lassen. Besonders interessant fand ich die Schilderungen, wie Deutschlands politische Veränderungen in Amerika wahrgenommen wurden und die Olympioniken stellungnehmen und die Teilnahme verweigern sollten. Vielen ist da erst bewusst geworden, was die Nationalsozialisten bezwecken … „Seit wann hat Laufen was mit Politik zu tun?“ (S. 343) „Die Olympischen Spiele haben nur mit Politik zu tun.“ (S. 344)

Mich hat Elise Hoopers Buch nachhaltig beeindruckt. 5 Sterne und meine Leseempfehlung.