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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 832 Bewertungen
Bewertung vom 03.12.2018
Unendlicher Spaß
Wallace, David Foster

Unendlicher Spaß


ausgezeichnet

Auf dem Weg zum besseren Menschen

Im exklusiven Club der literarischen Überflieger ist David Foster Wallace mit seinem 1996 veröffentlichten Opus magnum «Unendlicher Spaß» das einzige US-amerikanische Mitglied. Er gilt als der innovativste postmoderne Schriftsteller, und sein voluminöser Roman, ein intellektuell solitäres Werk der englischsprachigen Literatur, gilt als Meilenstein, Maßstäbe setzend und Horizonte öffnend für die Literatur des neuen Jahrhunderts. Erst 2009 wurde nach sechsjähriger Arbeit auch eine deutsche Übersetzung veröffentlicht, eine Sisyphosarbeit mit mehr als 1500 Buchseiten. Als sein literarisches Vorbild hat der Autor Thomas Pynchon bezeichnet, mich hat diese komplexe Prosa beim ersten Lesen in einigen Aspekten unwillkürlich auch an James Joyce erinnert.

Drogen und Tennis sind die beherrschenden Themen dieses dystopischen Romans, der zeitlich in einer nahen Zukunft angesiedelt ist mit radikalen politischen und sozialen Umwälzungen. Die USA, Kanada und Mexico haben den neuen Staat ONAN gebildet, der den Gregorianischen Kalender abgeschafft hat und das Recht auf die Benennung der Jahre an zahlungskräftige Firmen verkauft. Der überwiegende Teil des Plots ist demzufolge im Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche angesiedelt, das folgende Jahr wird das Jahr des Glad-Müllsacks sein. Frankokanadische Separatisten wollen sich der Videokassette «Unendlicher Spaß» als Waffe bedienen, ein Film, der seine Zuschauer schon nach wenigen Minuten unwiderruflich in den Geisteszustand von Kleinkindern versetzt und damit die Amerikaner zu wehrlosen Opfern ihrer unbändigen Konsumgier macht. Zentraler Handlungsort ist die Bostoner Enfield-Tennisakademie und eine nahegelegene Drogenentzugsanstalt. Die beißende Kapitalismuskritik des Autors wird sinnfällig durch seine sarkastische Beschreibung des geisttötenden, medialen Dauerfeuers, unter dem die manipulierten Menschen stehen und auf das sie zumeist hedonistisch einseitig durch extensiven Drogenkonsum reagieren.

Das Absurde ist hier aber nicht nur auf die Handlung selbst beschränkt, der verwegene Schreibstil von David Foster Wallace ergänzt gekonnt den wirren Plot durch eine ironisch eingebrachte Unzahl von Neologismen, Fremdwörtern und äußerst komplizierten Satzgebilden, in die neben vielerlei absurdem Fachjargon auch häufig ordinärer Alltagsslang mit eingebaut ist. All das aber ist in einer geschliffenen, grammatikalisch korrekten, glasklaren Sprache geschrieben und kongenial übersetzt, Chapeau! Leicht lesbar also, wären da nicht die immer wieder ausufernden, überlangen Wortkaskaden mit den ungewohnten, neuartigen Wortgebilden. Außerdem, und das ist typisch für DFW, wird der Lesefluss durch ein umfangreiches Glossar mit nicht weniger als 388 kleingedruckten Anmerkungen gestört, die allein schon 134 Buchseiten füllen, - beim Hin- und Herblättern sind allerdings die doppelten Lesebändchen sehr hilfreich.

Bleibt die Frage zu klären, ob die Lektüre lohnt? Dem ernsthaft literarisch Interessierten sei, allein der eigenen Belesenheit wegen, dieser Roman unbedingt empfohlen, er gehört nun mal zum literarischen Kanon. Was die schiere Textmasse anbelangt, so sei angeraten, in Etappen mit längeren Zwischenpausen zu lesen, wie ich es gemacht habe, - denn egal, wo man das Buch aufschlägt, man ist sofort wieder «drin» in diesem originären Text. Aber auch unvollständiges Lesen ist hier sinnvoll! Denn wer auch nur hundert Seiten davon gelesen hat, ist in jeder Hinsicht bereichert, hat den wichtigsten Roman eines der kreativsten Schriftsteller unserer Zeit kennengelernt und kann durchaus auch mitreden. Nicht zuletzt aber ist dieses satirische Textkonvolut mit viel Humor gewürzt, erheitert immer wieder mit überraschendem Wortwitz und allerlei narrativen Finessen, wird also seinem dem Hamlet entlehnten Titel vollinhaltlich gerecht. Glaubt man dem Feuilleton, ändert man sich als Leser nach «Unendlicher Spaß», wird sogar ein besserer Mensch. Na, wenn das kein Grund ist zum Lesen!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.12.2018
Besessen
Byatt, Antonia S.

Besessen


ausgezeichnet

Literatur im Fokus

Der literarische Durchbruch gelang der britischen Schriftstellerin Antonia Susan Byatt durch ihren Roman «Besessen», er wurde 1990 mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet und avancierte schnell zum Bestseller im englischsprachigen Buchmarkt. Drei Jahre später erschien er in deutscher Übersetzung, und damit erschien überhaupt erstmals ein Roman dieser bis dato am meisten unterschätzten britischen Autorin auch in Deutschland. Von der Kritik wurde er überwiegend positiv beurteilt, vom total begeisterten Marcel Reich-Ranicki gar als Jahrhundertroman apostrophiert. Und das, obwohl er literarisch in jeder Hinsicht ein kompliziertes, hoch komplexes Werk ist mit einer Fülle von Zitaten, Andeutungen und Verweisen. «Ich wollte immer etwas Kompliziertes schreiben» hat die Autorin im Interview dazu erklärt. Wartet hier also auf mehr als 600 Seiten ein intellektuelles Fitnesstraining auf den potentiellen Leser?

Im Milieu der Literaturwissenschaft angesiedelt, beginnt diese äußerst gekonnt erzählte und bis zum Schluss spannend bleibende Geschichte eines großen Geheimnisses mit einer Trouvaille. Roland Michell, der über den viktorianischen Poeten Randolph Henry Ash promoviert hat, findet in der London Library in einem Buch, das einst Ash gehörte, Entwürfe von dessen Hand für einen Brief an eine nicht genannte Dame. Sein Forscherdrang ist geweckt, er begibt sich auf eine komplizierte Suche, studiert Tagebücher, Briefe und Gedichte auf versteckte Hinweise und vermutet schließlich die kaum bekannte Schriftstellerin Christabel LaMotte als Adressatin der Briefentwürfe. Und tatsächlich kann er mit Hilfe seiner Kollegin Maud Bailey belegen, dass die beiden sich gekannt haben mussten, - ja, mehr als das! Die akribischen Recherchen im Literaturmilieu lesen sich wie eine verzwickte Detektivgeschichte, unermüdlich tragen die jungen Wissenschaftler ein Puzzleteilchen nach dem anderen zusammen und fügen sie zu einem stimmigen Bild, welches einige der Gewissheiten über den im literarischen Rang mit Goethe gleichgestellten britischen Lyriker Ash widerlegt. Die schriftlich fixierten Ergebnisse der gemeinsamen Recherche bringen dem bis dato erfolglosen Hilfsassistenten Roland Michell nicht nur Angebote für lukrative Stellungen gleich dreier Universitäten, er kann schließlich sogar das Herz seiner spröden Mitstreiterin Maud gewinnen.

Die zweite der kunstvoll ineinander verschachtelten Erzählebenen wird fast komplett mit Zitaten aus Tagebüchern, Briefwechseln und Werken der beiden viktorianischen Dichter, aus Märchen und anderen Quellen des 19ten Jahrhunderts bestritten. All das ist fiktiv, auch wenn es authentisch wirkt! Das Leitmotiv bildet dabei die Sage von Melusine, deren Tabubruch hier als Motiv im Feminismus gespiegelt wird, aber auch Kunst, Wissenschaft sowie erregende, übernatürliche Kräfte werden thematisiert. Letztere sind als Besessenheit ja sogar titelgebend, die - in ihrer nur vage angedeuteten Leidenschaft – kurze Liaison der beiden Poeten verstößt gegen jede Vernunft und hat dramatische Folgen.

Mit seiner raffinierten narrativen Struktur ist «Besessen» nicht nur hoch komplex, es ist auch ein geradezu archetypischer englischer Roman, dessen schwarzer Humor insbesondere in der höchst amüsanten, ironischen Schilderung der Literaturwissenschaft, ihrer Akteure, Methoden und abseitigen Forschungsgegenstände zum Ausdruck kommt. Antonia Susan Byatt hat vor allem den sprachlichen Wechsel zwischen den mehr als ein Jahrhundert auseinander liegenden Erzählzeiten bravourös gemeistert. Wobei allerdings die altmodisch betuliche Ausdrucksweise, aber auch die vielen Seiten in Versform für heutige Prosaleser eine ziemliche Hürde darstellen dürften. In diesem Roman zweier zeitlich mehr als ein Jahrhundert auseinander liegender Liebesgeschichten ist der Hauptakteur das geschriebene Wort. Die Literatur vor allem also steht im Fokus dieser ebenso geistreichen wie unterhaltenden und bereichernden, am Ende auch sehr berührenden Lektüre.

Bewertung vom 27.11.2018
Mein Jahr der Ruhe und Entspannung
Moshfegh, Ottessa

Mein Jahr der Ruhe und Entspannung


schlecht

9/11 als Katharsis

Der dritte Roman von Ottessa Moshfegh, die von der US-amerikanischen Literaturszene als Shootingstar gefeiert wird, verrät schon im Titel sein Thema: «Mein Jahr der Ruhe und Entspannung». Es geht darin um eine schlafsüchtige, emotional gestörte Frau, ihre Protagonistin solle dem geläufigen Bild der Frau als Opfer die Figur einer Angst einflößenden «Monsterfrau» gegenüberstellen, hat die Autorin dazu erklärt. Verblüfft wird mancher potentielle Leser nun auf das Buchcover schauen, wo ein klassisches Gemälde des französischen Malers Jaques-Louis David das Portrait einer Frau zeigt, die geradezu als Verkörperung sanfter Friedfertigkeit dargestellt ist, als ein typisches Opfer also. Alles Fake?

Die namenlose Romanheldin ist eine 26jährige Frau mit Modelfigur, die in einem vornehmen Viertel New Yorks lebt, - nach ihrem Studium arbeitet sie nun in einer hippen Kunstgalerie. Ihre Eltern sind früh gestorben und haben ihr ein kleines Vermögen hinterlassen, das ihr ein sorgloses Leben ermöglichen könnte. Trotzdem ist sie unglücklich, sie kommt nach vielen flüchtigen Männergeschichten nicht von ihrem Ex-Freund Trevor los, obwohl er sie wie Dreck behandelt. Ihre versoffene, einzige Freundin Reva lädt bei ihr immer wieder den Ballast ihres chaotischen Lebens ab, ihre Monologe nerven nur noch. In ihrer Leere und Ziellosigkeit lässt die Ich-Erzählerin zusehends ihre Wohnung vermüllen, sie kann sich zu nichts mehr aufraffen, verliert ihren Job und zieht sich völlig zurück vom Leben. Als sie Hilfe bei einer Therapeutin sucht, weil sie nicht mehr schlafen kann, verschreibt ihr die durchgeknallte Psychiaterin Dr. Tuttle Unmengen von Medikamenten, mit denen sie sich bedenkenlos vollstopft. Als all das nicht mehr hilft, beschließt sie, eine Art Winterschlaf zu halten und hofft, danach quasi als neuer Mensch ins Leben zurückkehren zu können. Der exaltierte Künstler Ping Xi soll sie während dieser Zeit betreuen, nur er darf noch ihre vollkommen leer geräumte Wohnung betreten, als Gegenleistung darf er ihre spektakuläre Schlafaktion als sein neuestes Kunstprojekt ausschlachten.

Die psychedelischen Phasen der suizidgefährdeten Heldin sind von endlosen Aufzählungen der diversen Medikamente geprägt, wahllos wirft sie unglaubliche Tablettenmengen in sich hinein, spült sie mit Alkohol hinunter und isst kaum noch etwas in ihrem Dauerdelirium. Damit überzeichnet die als US-Starautorin gehandelte Ottessa Moshfegh ironisch ihre depressive Heldin, regelrecht zynisch erzählt sie zudem von deren sich häufig wiederholenden Phasen mit einem ungebremsten, wahllosen Kaufrausch, in denen die Autorin den Konsumwahn ihrer Landsleute gnadenlos entlarvt. Endlose Zeit verbringt die Protagonistin vor dem Bildschirm, sie konsumiert wahllos immer wieder die gleichen geistlosen Videos, wobei es ihr besonders Filme mit Whoopi Goldberg angetan haben, die kann sie sich problemlos mehrmals hintereinander ansehen. Ganz offensichtlich sieht die Autorin den vielbeschworenen American Way of Live als die Wurzel der psychotischen Verirrungen ihrer Nation an. Ob dem mit purem Eskapismus beizukommen ist, bleibt letztendlich fraglich, auch wenn das wenig kitschige Ende des Romans in diese Richtung deutet.

Weder die tablettensüchtige, depressive Heldin, die die Hälfte der erzählten Zeit schläft, noch der absurde Versuch ihrer Selbstoptimierung versprechen eine angenehme Lektüre, die übrigens mit dem Debakel von 9/11 als Katharsis endende Geschichte im Messie-Milieu ist in ihrer erbarmungslosen Direktheit wirklich nicht erbaulich. Alle Figuren sind gleichermaßen unsympathisch, und nur ganz selten mal blitzt stilistisch Gelungenes auf, so in der tiefsinnigen Sterbeszene des krebskranken Vaters, der aus der Klink heimgekehrt ist, damit er daheim «zu Ende sterben» kann. Die sich dauernd wiederholenden pharmazeutischen Exzesse jedoch werden sehr schnell langweilig, und nur die Idee vom Winterschlaf ist wirklich keine tragfähige Basis für einen lesenswerten Roman.

2 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.11.2018
Unterwegs
Kerouac, Jack

Unterwegs


gut

Ein Kultroman

Als bedeutendster Vertreter der «Beat-Generation» hat Jack Kerouac mit seinem 1957 veröffentlichten Roman «Unterwegs» das wichtigste Werk jener neuen, Ende des Zweiten Weltkriegs der «Lost Generation» nachfolgenden, literarischen Strömung geschaffen. «On the Road», wie der schon 1951 entstandene Text im Original heißt, mit dem ihm dann auch sein literarischer Durchbruch gelang, gilt seither geradezu als Proklamation der Beatniks, zu denen neben Literaten wie Allen Ginsberg oder William S. Burroughs auch Jazzmusiker wie Chet Baker gehörten. In der Literaturgeschichte ist der US-amerikanische Autor damit unbestritten stilprägender Wegbereiter dieses rein emotional gesteuerten, durch flirrende Unstetigkeit und radikale Subjektivität gekennzeichneten, originären Sprachstils, der übrigens weitreichende Wirkungen hatte auf eine Vielzahl von anderen Schriftstellern und sogar Musikern. Als Anekdote sei angemerkt, dass Jack Kerouac das Manuskript seines Romans dem Verlag nicht als Papierstapel, sondern als eine der jüdischen Thora nachgebildete, vierzig Meter lange Rolle aneinander geklebter, eng beschriebener Papierbögen übergeben hat. Eben jene legendäre Rolle wurde dann 2001 bei Christie’s für 2.426.000 Dollar versteigert, weit mehr als der finanziell notorisch klamme Autor für sein gesamtes Werk je erhalten hat.

Der stimmige Titel dieses für den Spielfilm «Easy Rider» als Vorlage dienenden, stark autobiografisch geprägten Romans weist bereits sehr treffend auf dessen Inhalt hin, ähnlich einem Roadmovie nämlich dient hier die Strasse als Bühne für die Handlung. Der als paranoid-schizophren geltende Jack Kerouac hat darin eigene Erlebnisse seiner turbulenten, unangepassten Jugendjahre verarbeitet, die durch rastlose Reisen geprägt waren, in denen Alkohol, Sex und Drogen, aber auch harter Jazz in Form des Bebops das Geschehen bestimmten. Zentrale Figur des aus der Ich-Perspektive eines angehenden Schriftstellers namens Sal Paradise erzählten Romans ist Dean Moriarty, eine weitgehend seinem oft als irre angesehenen bestem Freund und Studienkollegen nachempfundene Figur, die im Buch ebenso dominant ist, wie es ihr Vorbild im realen Leben für den Autor selbst war. Der reisewütige Romanheld fährt allein oder mit seinem verrückten Freund zusammen kreuz und quer durch die USA, von der Ostküste an die Westküste, von Nord nach Süd, sie landen am Ende schließlich, auf ihrem letzten Trip, in Mexico. Meist sind sie im Auto unterwegs, sie trampen und lernen dabei skurrile Menschen kennen, benutzen gestohlene Autos oder finden für wenig Geld einen Platz bei einer Mitfahrerzentrale, sie springen auf Güterzüge auf und verstecken sich in den Bremserhäuschen, und wenn sie mal Geld haben benutzen sie die berühmten Greyhound-Busse.

Auf diesen abenteuerlichen Reisen erleben wir als Leser eine endlose Reihe von Saufgelagen, wilden Partys und Weibergeschichten der beiden Außenseiter, die unangepasst aus ihrer wirren, verqueren Perspektive heraus die gesellschaftlichen Regeln verächtlich als für sie nicht existent ansehen, sie bedenkenlos ignorieren. Unübersehbar aber steckt hinter dieser Absage an jedwede soziale Norm die verzweifelte Suche der jungen Männer nach Lebenssinn. Ihre provokante Aufmüpfigkeit und hedonistische Rücksichtslosigkeit soll ihre tief sitzenden Ängste vor der philosophisch nicht widerlegbaren Sinnlosigkeit unserer Existenz überdecken.

Geradezu ekstatisch, aber journalistisch knapp erzählt Jack Kerouac in diesem berühmten Kultroman, er bedient sich dabei einer klaren, in den Dialogen wunderbar stimmig dem Jugendslang angepassten Sprache. Und vermag damit seine durchgeknallten Figuren überzeugend plastisch zu zeichnen und sehr anschaulich Bilder der grandiosen Landschaften herauf zu beschwören. Nach einem Drittel des Romans aber stellt sich dann eine gewisse Langeweile ein, es passiert nichts wirklich Neues mehr, und das trübt denn doch ein bisschen den Lesegenuss. Trotzdem lohnt sich diese Lektüre allemal!

Bewertung vom 18.11.2018
Geisterbahn
Krechel, Ursula

Geisterbahn


sehr gut

Die Kirmeswelt als Antithese

Nach sechs Jahren ist von Ursula Krechel, deren vielseitiges Œuvre neben Lyrik und Dramatik eben auch Epik beinhaltet, wieder ein Roman erschienen, dessen metaphorischer Titel «Geisterbahn» den Inhalt sehr treffend umreißt. Es geht darin, genau wie in ihren letzten beiden Romanen, um Täter und Opfer, um Verfolgung, Vertreibung und Exil. Aber gleichberechtigt stehen bei ihr immer auch deren verheerende Folgen im Fokus, das Wiedererlangen der Würde für die Verfolgten, die Wiedergutmachung für die wenigen Überlebenden. Denn ihr Leben war ein einziger Schrecken, wie in der Geisterbahn eben. Den roten Faden der Handlung bildet dabei das Schicksal der Sinti-Familie Dorn, die durch die Hölle der Nazi-Repressionen geht und nach dem Krieg erleben muss, wie ihnen nicht nur die Neonazis erneut mit Verachtung, zuweilen mit offenem Hass begegnen. Aber auch wie unsensibel, geradezu verächtlich die Behörden der Nachkriegszeit mit ihnen umgehen, wie geringschätzig selbst die Polizei sie immer noch behandelt, all das wird umfassend thematisiert.

Anders als in «Landgericht», dem vor sechs Jahren mit dem Deutschen Buchpreis prämierten Roman, gibt es hier aber mehrere parallele Handlungsstränge, deren Figuren wir in fünf lose miteinander verflochtenen Abschnitten über drei Generationen hinweg durch Naziherrschaft und Zweiten Weltkrieg bis in die Jetztzeit hinein begleiten. Es beginnt in einer Schule in Trier, wo die kleine Anna aus einer Schaustellerfamilie Schwierigkeiten mit der Sprache hat, zuhause wird nun mal Romanes gesprochen. Ihre Familie betreibt ein Karussell und zieht damit über die Jahrmärkte im weiten Umkreis der Stadt. Nach der Machtergreifung sind sie zunehmenden Repressionen der Nazis ausgesetzt, die mit willkürlichen Anschuldigungen beginnen, in Zwangsarbeit, gewaltsamen Umsiedlungsaktionen und Zwangssterilisation eskalieren und für viele Mitglieder der Großfamilie im Vernichtungslager Auschwitz enden. Trier sei «zigeunerfrei», meldet schließlich der Nazi-Gauleiter stolz nach Berlin. Mit großem Fleiß hat Ursula Krechel wieder viele historische Details recherchiert und auch hier öfter mal aus Schriftstücken oder Formularen von Behörden zitiert, den seelenlosen Amtsjargon also authentisch eingebunden in ihre anrührende Geschichte.

Ziemlich irritierend war für mich die ambivalente Erzählsituation, denn obwohl es mit MEINVATER einen übereifrigen Polizisten als Figur gibt, der sich an den Schikanen und Quälereien der Sinti und Roma beteiligt, tritt erst ab der Hälfte des bis dahin auktorial erzählten Romans plötzlich ein Ich-Erzähler in Erscheinung. Dessen Namen wiederum erfährt man dann ebenfalls erst einiges später, ein ebenso neckisches wie überflüssiges Versteckspiel! Jener Bernhard also, weiß man dann, saß mit Anna auf der Schulbank, und die meisten der vielen Romanfiguren sind seine damaligen Klassenkameraden oder stammen aus deren Familien. Ganz nebenbei ist dieser Roman eine Hommage an die Geburtsstadt der Autorin, vor allem aber eine großartige Chronik einer historischen Katastrophe und ihrer Auswirkungen auf die Bürger Triers, in der Fiktion und Realität mit kaum wahrnehmbaren Übergängen kunstvoll verbunden sind. Neben den Dorns als Schausteller wird auch von den Geschwistern Orli und Willi Torgau erzählt, überzeugte Kommunisten, die ebenfalls Verfolgungen ausgesetzt sind, oder von dem Arzt Franz Neumeister, der als Opportunist den politischen Wandel nach dem Krieg unbeschadet übersteht und als Kinderpsychiater Karriere macht.

Die Lyrikerin ist sprachlich unverkennbar herauszuhören aus dieser anklagenden Prosa über eine beschämende Unmenschlichkeit, und auch die katholische Kirche als angeblicher Hort der Moral kommt dabei nicht ohne Blessuren davon. Ursula Krechels Sympathie gehört jedenfalls eindeutig der bunten, lebensfrohen, unschuldigen Kirmeswelt, die traumartige Antithese also zum «lupus est homo homini» bei Plautus, wie dieser großartige Roman sehr eindrucksvoll belegt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.11.2018
Archipel
Mahlke, Inger-Maria

Archipel


schlecht

Keine archäologische Grabung

Nach ihrer Shortlist-Nominierung 2015 hat Inger-Maria Mahlke dieses Jahr mit «Archipel» den Deutschen Buchpreis gewonnen, das vor knapp drei Monaten veröffentlichte Buch wurde jedoch vom Feuilleton überwiegend kritisch und von der Leserschaft sehr eindeutig ablehnend beurteilt. «Vor allem aber sind es die schillernden Details, die diesen Roman zu einem eindrücklichen Ereignis machen. Das Alltagsleben, eine beschädigte Landschaft, aber auch das Licht werden in der Sprache sinnlich erfahrbar» heißt es in der Begründung der Jury. Reicht das, um einen umfangreichen Roman wie diesen zu einer lohnenden Lektüre zu machen, ihn gar als Preisträger zu krönen?

Der Romantitel bezieht sich auf die Kanarischen Inseln, als Schauplatz dieser sich zeitlich über fünf Generationen und fast hundert Jahre hinweg erstreckenden, weitläufigen Erzählung dient Teneriffa. Wobei einige Familien aus ganz verschiedenen sozialen Schichten mit ihrem Alltagsleben im Fokus stehen, ergänzt durch eine schier unüberschaubare, periphere Figurenschar. Als narrativer Clou sozusagen wird hier zeitlich rückwärts erzählt, beginnend 2015 und endend im Jahre 1919. Stehen an Ende also die gerade überstandenen Schrecken des Ersten Weltkriegs, so sind wir am Anfang mit den Problemen einer ökologisch vor dem Kollaps stehenden, vermüllten Urlaubsinsel konfrontiert, die am Massentourismus zu ersticken droht. Die umgekehrt chronologische Erzählweise wird fragmentarisch in aneinander gereihten Szenen realisiert, die Ereignisse aus dem Leben der Protagonisten lose miteinander verknüpfen, wobei das Private jeweils mit der historischen Situation und den politischen Umbrüchen unterlegt ist.

Inger-Maria Mahlke ist eine genaue Beobachterin, der mit viel Liebe zum Detail anschauliche Schilderungen des Alltagslebens verschiedener sozialer Schichten ebenso gelingen wie Beschreibungen des inseltypischen Klimas mit seinem ewigen Sommer und der exotischen Natur oder der Städte mit ihren in die Kolonialzeit zurückdeutenden Bauwerken. Neben den großen Namen der aus ganz Europa zugewanderten Inselbewohner, deren bekanntester Bernadotte sein dürfte, widmet sie sich akribisch auch den namenlosen kleinen Leuten, baut Händler, Handwerker, Dienstboten und Arbeiter in ihre Geschichte mit ein. Ein vorangestelltes Verzeichnis der handelnden Personen hilft ein wenig, die überbordende Figurenfülle als Leser wenigstens einigermaßen richtig einordnen zu können, bei den Nebenfiguren ist man dann allerdings auf sich selbst gestellt. Ein weiteres unverzichtbares Hilfsmittel zum Verständnis für die vielen in den Text eingestreuten spanischen und kanarischen Begriffe ist das fünfseitige Glossar, genau dadurch jedoch wird für die überwiegende Mehrheit der Leser immer wieder der Lesefluss störend gehemmt.

Am meisten jedoch stört ohne Frage die gewagte Erzählkonstruktion, die sich aber als L’art pour l’art erweist, Zeit ist nämlich literarisch ebenso unumkehrbar wie physikalisch, - welchem Autor wäre das denn je überzeugend gelungen? Das Ganze ist also eine artifiziell anmutende Marotte der Autorin, nichts weiter! Die aus verschiedenen Perspektiven stilistisch sehr reduziert, fast spröde in ihrem ureigenen Duktus erzählten Handlungsfragmente fügen sich genau deswegen auch nicht zu einem inhärenten Plot, der diesen Namen wirklich verdiente, es fehlt eben eine nachvollziehbare Abfolge der Handlung. Die Figuren vermögen allesamt kaum Empathie zu erzeugen und werden auch nicht plastischer durch ihre teils wirren, oft unverständlichen Dialoge. Ein gewisser Erkenntnisgewinn ergibt sich allenfalls aus den zuweilen unterlegten historischen Fakten, ansonsten sind die Lesefrüchte spärlich, denn Detailfülle allein, zumal wenn sie sich auf fast ausschließlich Insignifikantes richtet, wird schon bald sehr langweilig und ermüdet zusehends auch den geduldigsten Leser. «So what?» wird sich mancher da fragen. Ein Roman funktioniert eben anders als eine archäologische Grabung!

6 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.11.2018
Ein Festtag
Swift, Graham

Ein Festtag


sehr gut

Elegant und federleicht erzählt

Ist der Roman «Ein Festtag» von Graham Swift auch ein Festtag für den Leser? Mehr als einen Tag nämlich wird er kaum brauchen, um diesen internationalen Bestseller mit seinen 142 Seiten zu lesen, in denen es, wie so oft bei diesem englischen Schriftsteller, um die Erinnerung als literarisches Faszinosum geht. Was da alles in die wenigen Buchseiten hineingepackt ist an Gefühlen, Lebensweisheiten, an historischem und gesellschaftlichem Hintergrund, das ist verblüffend, nicht etwa weil so komprimiert erzählt wird, sondern weil all das ganz unterschwellig auch mit anklingt.

«Mothering Sunday», so der Buchtitel im Original, ist ein Feiertag der Church of England, hier im Roman ist dieser sonnige Tag im März 1924 der alles verändernde Schicksalstag für seine Protagonistin. Traditionell haben alle Dienstboten an diesem Tage arbeitsfrei, viele besuchen ihre Mutter, aber Jane ist ein Findelkind, sie wurde im Waisenhaus großgezogen und arbeitet als Dienstmädchen in einem Herrenhaus. Die 24Jährige hat seit Jahren heimlich ein Verhältnis mit Paul, dem verwöhnten Sohn wohlhabender Nachbarn, anfangs hatte er sie mit einem Sixpence bezahlt, inzwischen ist daraus Liebe geworden. Er nutzt die Abwesenheit seiner Eltern und trifft Jane an diesem Festtag zum ersten Mal bei sich zuhause, und nach den vielen unbequemen, improvisierten Treffen diesmal erstmals sogar in seinem Bett. Ohne obszön zu werden schildert Swift die postkoitale Zweisamkeit en detail und spart auch den Fleck nicht aus, den die gehabten Genüsse als feuchte Spuren verräterisch auf dem Laken hinterlassen haben. Bei aller Ekstase ist dem nun nackt auf dem Bett liegenden Pärchen bewusst, dass dies ihr letzter Beischlaf war, sie werden sich nie wiedersehen, Paul wird in zwei Wochen Emma heiraten, eine arrangierte Ehe mit einer «guten Partie». Und während Jane vor sich hin sinnierend ihr bisheriges Leben Revue passieren lässt, putzt sich Paul schweigend für ein Treffen mit Emma heraus, und zwar aufreizend langsam, obwohl er inzwischen viel zu spät dran ist und empörte Vorhaltungen seiner Verlobten fürchten muss.

Zwei Drittel der Geschichte sind diesem Tête-à-Tête gewidmet, aus der Perspektive der jungen Jane wird darin sehr anschaulich ihr bisheriges Leben rekapituliert, bis nach mehr als hundert Seiten ein plötzlicher Zeitsprung ins hohe Alter von Jane Fairchild führt, die nach Tätigkeit im Buchhandel eine erfolgreiche Schriftstellerin geworden ist. Dieser zweite Teil ihres Lebens wird in Form von Interviews erschlossen, in denen die Hochbetagte nach ihrem Lebensweg befragt wird. «Alles ausgedacht» hatte sie einst als 48Jährige nach dem Tod ihres Mannes, eines Philosophen in Oxford, ihr erstes Buch betitelt. In den Gesprächen finden sich dann geistreiche Reflexionen von ihr über Literatur, über den Schreibprozess als solchen und die Fiktionalisierung der Realität, über das Lesen und ihre persönliche Annäherung an die Literatur insbesondere durch Joseph Conrad, den sie geradezu hymnisch verehrt hatte.

Es ist bewundernswert, wie Graham Swift, mit wenigen Worten sparsam erzählend, in seinem raffiniert konstruierten Plot derart tiefgründig in das Gefühlsleben seiner Figuren eindringt und anschaulich die Atmosphäre in den privilegierten englischen Herrenhäusern mit ihren gesellschaftlichen Umbrüchen schildert. Folgt man der Definition von Goethe, ist diese Geschichte mit ihrer - von mir aus Fairness potentiellen Lesern gegenüber verschwiegenen - «unerhörten Begebenheit» eine äußerst elegant geschriebene, klassische Novelle. Die, und das ist das Schöne daran, wegen ihrer Kürze natürlich zu allerlei Deutungen und Ergänzungen durch den geneigten Leser geradezu herausfordert. Was auch immer aber man herauslesen zu können glaubt, all diese wohlfeilen Spekulationen über das «Was-wäre-wenn» ändern nichts daran, dass dies eine angenehm unterhaltende, federleicht erzählte Novelle ist, literarisch also durchaus «auch ein Festtag für den Leser»!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.11.2018
Hysteria
Nickel, Eckhart

Hysteria


schlecht

Nicht mal «Die Grünen»

Für Auszüge aus seinem Romanprojekt «Hysteria» wurde Eckhart Nickel schon beim Bachmannpreis 2017 in Klagenfurt ausgezeichnet, inzwischen ist das Werk auf die Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises gewählt worden. Damit hat die Jury erneut viel Mut bewiesen - und deutlich am Publikumsgeschmack vorbei entschieden, vermute ich mal. Es sei denn, die «neu an die Macht gekommene Naturpartei» im Roman wird als fiktive Fortschreibung der jüngsten, triumphalen Wahlergebnisse der «Grünen» gedeutet und passt somit prophetisch bestens in die politische Realität, - das wäre dann aber hier auch das einzig Reale! Denn schon der Romantitel deutet ja an, dass es sich um eine Dystopie handelt, ein pessimistischer Blick in eine ungute Zukunft also á la Orwells «1984» oder «Fahrenheit 451»von Ray Bradbury.

«Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht» lautet denn auch archetypisch vorausdeutend gleich der erste Satz, der hypersensible Wissenschaftler Bergheim wundert sich über die unnatürliche Beschaffenheit seiner auf dem Biomarkt erworbenen Früchte. Auf dem Obstkörbchen ist «Sommerfrische» aufgedruckt, der Name des Lieferanten, den er daraufhin aufsucht. Dort wird er freundlich zu einer Werksführung eingeladen, wandert im Kapitel «Baumschule» durch einen unheimlichen Wald und landet schließlich im «Kulinarischen Institut», dem alles beherrschenden Zentrum einer mehr als merkwürdigen Welt alternativer Lebensmittel. Dort trifft er Charlotte wieder, seine ehemalige Studienkollegin und Geliebte, die dort Leiterin der Bewegung «Spurenloses Leben» ist, einem aus ihrer Hochschule hervorgegangen Geheimbund mit einem monströsen Manifest von zehn unumstößlichen Regeln. Und auch Ansgar, Dritter im Bunde des einstigen Uni-Kleeblatts, taucht dort wieder auf und hilft letztendlich, das Schlimmste zu verhindern. In bester popliterarischer Tradition führt der Autor seine Leser in eine unheimliche Zukunft hinein, in der die Natur von den auch als «Rousseau-Husaren» bezeichneten Mitgliedern der radikalen Sekte komplett durch Kunstprodukte ersetzt ist, ohne dass die Öffentlichkeit auch nur das Geringste davon gemerkt hat. Köstlich ist in diesem Zusammenhang die sarkastische Schilderung eines Besuchs des studentischen Trios in der «Aroma-Bar», in der diese neuzeitliche, illusionäre Kulinarik geradezu seanceartig ad absurdum geführt wird.

«Tristesse Royal» hieß der Titel eines Buches, in dem die Quintessenz der Gespräche des «Popkulturellen Quintetts» im Berliner Hotel Adlon, an denen Eckhart Nickel als Mitglied teilgenommen hatte, 1999 veröffentlicht wurde. Entsprechend subversiv dem Zeitgeist entgegentretend, dem Gutmenschentum mit seinem naiv verklärten Naturbegriff also, beschreibt der Autor nun in diesem Ökothriller ein monströses, geradezu perverses Szenario des Künftigen. Die unverkennbar ironisch geschilderten, oftmals aber eher unerquicklichen Science-Fiction-Szenen des Romans werden durch weiträumige, ebenso ironische Rückblenden wohltuend konterkariert, in denen das Studententrio tiefsinnige Diskussionen führt. Dabei spielt ein idealtypisches Antiquariat mit einem kauzigen Buchhändler eine wichtige Rolle, in dem Bergheim als Stammkunde verkehrt und wo auch Charlotte als Aushilfe tätig ist. Nur diese literarische Oase macht, im Verbund mit einer reichhaltigen Intertextualität in einem ansonsten von Paranoia dominierten Horrortrip, das Buch für alle diesem speziellen Genre eher distanziert gegenüber stehenden Leser überhaupt erst goutierbar.

Die in zwei Zeitebenen beschriebene, satirische Dystopie changiert geradezu parodistisch zwischen den manchmal schwer auseinander zu haltenden Sphären von Traum, Wahn und Wirklichkeit, die angestrebte Renaturalisierung erweist sich hier nicht nur als grausames, sondern auch als ebenso irres Vorhaben. Wer nicht gerade Genreleser ist, der wird an dieser Spielart des «Zurück zur Natur» jedoch kaum Gefallen finden, - nicht mal «Die Grünen» der Jetztzeit, zu abstrus ist das alles!

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.10.2018
Die Katze und der General
Haratischwili, Nino

Die Katze und der General


gut

Eine tschetschenische Tragödie

Die in Tiflis geborene und heute in Hamburg lebende Dramatikerin, Regisseurin und Schriftstellerin Nino Haratischwili ist mit ihrem neuen Roman auf die Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises gewählt worden, ein schöner Erfolg für die 35jährige Autorin. Geprägt ist ihr Roman von einer schier unbändigen Erzähllust, deren Niederschlag sich in einem 763 Seiten starken Prosaband findet, der gekonnt die Elemente eines Thrillers mit den Ingredienzien eines üppigen Balkan-Epos verbindet. Dessen Handlungskern beinhaltet eine auf einer wahren Begebenheit beruhende Gräueltat während des Ersten Tschetschenischen Krieges. Im Feuilleton wurde der Roman, - in einem merkwürdigen Gegensatz zur Buchpreisjury -, unisono verrissen, da fragt sich der verwirrte Leser nun allerdings, wer denn da irrt.

Im Prolog wird uns die 17jährige Nura aus einem gottverlassenen Dorf in einer Schlucht des Balkangebirges vorgestellt, wo 1994 ein Trupp russischer Soldaten Stellung bezogen hat, eine Art Erholungspause nach den verlustreichen und kräftezehrenden Kämpfen um die Hauptstadt Grosny. Das Mädchen wird als Terroristin verdächtigt und beim Verhör in einem völlig aus dem Ruder gelaufenen Gewaltexzess vergewaltigt und ermordet. Orlow, von seinen Kameraden spöttisch «General» genannt, einer der vier beteiligten Soldaten, meldet die Gewalttat dem Oberkommando und zeigt sich reumütig selbst als einer der Täter an. Das wegen der negativen Schlagzeilen an einer Strafverfolgung nicht interessierte russische Militär kann nach Ermordung eines Verteidigers den Strafprozess dadurch abwenden, dass sie dem nun vollends desillusionierten Orlow einen lukrativen Posten in der militärischen Baubehörde verschafft und so seine Aussage vor Gericht verhindert. In wenigen Jahren wird aus ihm ein mächtiger Oligarch, der skrupellos dem Geld hinterher jagt und sich schließlich mit Frau und Tochter in Berlin niederlässt. Aber die Schatten der Vergangenheit holen ihn ein, seine innig geliebte Tochter Ada kommt ihm mit Hilfe des zwielichtigen Journalisten Onno auf die Spur und begeht verzweifelt Selbstmord. Auf einem Filmplakat sieht der General irgendwann zufällig eine Schauspielerin mit dem Spitznamen «Katze», eine Doppelgängerin von Nura, ihr wie ein eineiiger Zwilling geradezu aus dem Gesicht geschnitten. In ihm reift ein perfider Plan.

Man merkt dem Roman an, dass er von einer ausgewiesenen Dramatikerin geschrieben wurde. Sie schafft es nämlich, ihr von einer überbordenden Stofffülle beinahe überdecktes Handlungskonstrukt mit stetig wachsender Spannung schließlich doch noch zu einem geradezu klassischen, überraschenden Showdown zu führen. Der Weg dorthin aber führt über unendlich viele zeitlich vor- und zurückspringende, aus verschiedenen Perspektiven erzählte Geschichten, in denen eine riesige Schar von Figuren agiert, die allesamt in das vielschichtige Geschehen mit seiner Schuld-und-Sühne Thematik verwoben sind. Als Leser bekommt man durch diese vielen Lebensgeschichten tiefe Einblicke in einen inzwischen weitgehend vergessenen politischen Konflikt und dessen unmittelbare Folgen auf die verschiedenen Romanfiguren. Dabei wird insbesondere der Zusammenbruch der Sowjetunion beleuchtet sowie das nachfolgende ökonomische Chaos mit dem blitzschnellen Entstehen verbrecherisch zusammengerafften Reichtums in Händen weniger Oligarchen.

Der Roman erinnert in seiner düsteren Dramatik an klassische Tragödien, die Figuren sind eher markig als psychologisch tiefsinnig gezeichnet, und auch die bildreiche Sprache ist eher zielgerichtet und zweckmäßig als kreativ und inspiriert. Dieser mit viel Pathos und in epischer Breite erzählte Roman weist leider etliche Ungereimtheiten auf, ist andererseits aber in seiner sezierenden Sichtweise auf enthemmte Menschen in rechtsfreien Räumen und dem zentralen Motiv der Läuterung geradezu beklemmend zu lesen als Spiegel der Seele. Ob Verriss oder Jubel, da irrt sich hier wirklich niemand - völlig!

Bewertung vom 25.10.2018
Peter Holtz
Schulze, Ingo

Peter Holtz


gut

Mit ungutem Beigeschmack

Glück und Wende sind die Themen in Ingo Schulzes Schelmenroman «Peter Holtz», der seine Leserschaft mindestens ebenso polarisiert hat wie die zwei deutschen Staaten, die sich einst ideologisch unversöhnlich gegenüberstanden. Darf man das viele Leid, welches der Unrechtsstaat DDR über sein Volk gebracht hat, - nicht nur die Mauertoten, sondern auch die unsäglichen Repressionen Millionen Andersdenkenden gegenüber, denen oft ja unwiderruflich der Lebensweg zerstört wurde -, darf man all das unterbügeln, darf man darüber nassforsch aus der Perspektive eines Schelms erzählen?

Mit dem Untertitel «Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst» ist schon einiges gesagt, der Aufstieg des Waisenkindes beginnt mit seiner Adoption, und weil sein Berufsziel, der freiwillige Eintritt in die NVA, kläglich scheitert, wird Peter Holtz Maurer. Bald schon bekommt er ein Haus geschenkt, die viel zu niedrigen, staatlich festgelegten Mieten, der marode Zustand und der Mangel an Baumaterial lassen das eigene Haus für viele zur lästigen Bürde werden, zu unerwünschtem Eigentum, das man aber zu unterhalten verpflichtet ist. Peter saniert voller Tatendrang in Eigenregie, kauft weitere Häuser hinzu, finanziert das alles durch sein illegales, privates Trabbi-Taxi, mit dem er am Staat vorbei das benötigte Geld verdient. Eigentlich ja ein Sündenfall des ansonsten linientreuen DDR-Bürgers, der naiv und kritiklos die idealistischen Parolen der Parteibonzen wörtlich nimmt und sie in endlosen Disputen gegen Kritik geschickt verteidigt. Mit seiner Hinwendung zum Christentum, - ideologisch für ihn «ein zweites Standbein» -, und dem Eintritt in die Ost-CDU beginnt seine politische Karriere, fortan sind Kommunismus und Christentum für ihn zwei Seiten einer Medaille. Nach einem Autounfall fällt er ins Koma und wacht erst nach dem Mauerfall wieder auf. Durch seine diversen Häuser ist er nun quasi über Nacht zum Millionär geworden, sie sind plötzlich sehr viel wert. Von einem Immobilienhai zur Ideologie des Eigentums bekehrt, interpretiert er Kapitalismus allerdings auf eigene Weise. Geschickt vermehrt er zwar sein Geld, ohne dabei aber seine Idee einer wahrhaftig kommunistischen Gesellschaft aus den Augen zu verlieren, in die der Kapitalismus zwangsläufig irgendwann einmünden würde. Da ist Geld dann überflüssig, weil durch gerechte Verteilung der gemeinsam erwirtschafteten Güter die legitimen Bedürfnisse des Volkes für alle zufriedenstellend erfüllt werden können. Folgerichtig geht er mit gutem Beispiel voran und beginnt, sein für das Wohlergehen der Menschen unnötiges Geld öffentlich unter der Weltuhr am Alexanderplatz in Berlin zu verbrennen, Tausenderschein für Tausenderschein.

Die Sterntaler haben dem armen Mädchen bei den Brüdern Grimm letztendlich kein Glück gebracht, der naive Peter Holtz erlebt das Gleiche. Der den Zeitraum von 1974 bis 1998 abdeckende Schelmenroman klammert durch die Perspektive eines DDR-indoktrinierten Holzkopfes, eines Narren mit einem dicken Brett vor dem Kopf, parabelartig die bittere Realität völlig aus, wobei die Geschichte auch noch, - um beim Kalauern zu bleiben -, holzschnittartig erzählt wird in einer geradezu simplen Diktion. Die ausufernden und irgendwann ziemlich langweilig werdenden ideologischen Reflexionen werden zumeist in Dialogform vorgebracht, ohne aber eine tiefer reichende, überzeugende politische Wahrheit abbilden zu können, wobei dann auch noch der penetrante Oberlehrerduktus des kapitalismuskritischen Autors gewaltig stört.

Gleichwohl ist «Peter Holtz» ein amüsanter, lesenswerter Roman, der eigene Gedanken des Lesers anstößt und auf jüngere sogar Horizont erweiternd wirken dürfte. Dieser moderne Narr ist in seinem Feldzug gegen das Geld ebenso unbeirrbar wie sein literarisches Vorbild Don Quijote. Solcherart Harmlosigkeit aber täuscht leider völlig über die Tücke des DDR-Regimes hinweg, was dem in pikaresker Tradition Erzählten leider einen unguten Beigeschmack verleiht.

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