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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 877 Bewertungen
Bewertung vom 03.06.2019
Mendelssohn auf dem Dach
Weil, Jiri

Mendelssohn auf dem Dach


gut

Die einzig wahre Verheißung

In seinem letzten, 1960 posthum erschienenen Roman «Mendelssohn auf dem Dach» beschreibt der heute weitgehend vergessene tschechische Schriftsteller Jiří Weil die Zeit nach der Annexion von Böhmen und Mähren durch die Deutschen. Der titelgebende jüdische Komponist stand neben vielen anderen als Statue auf dem Dach des zum «Haus der deutschen Kunst» umgewidmeten Konzerthauses Rudolfinum in Prag. Das war dem berühmt-berüchtigten Reichsprotektor Reinhard Heydrich natürlich ein Dorn im Auge, sie musste auf seinen Befehl hin umgehend entfernt werden. Als Leitmotiv zieht sich somit gleich von Beginn an die Musik durch die grauenvolle Geschichte der kleinen Leute, aus deren Opfer-Perspektive vom Wüten der Besatzer berichtet wird, ein Fanal geradezu menschlichen Schöngeistes auch in Zeiten dieser unsäglichen Barbarei. Der jüdische Autor hat Terror dieser Art nicht nur unter den Nazis selbst erlebt, er hat auch während der stalinistischen Säuberungen unter Verfolgung gelitten und war ab 1949 bis kurz vor seinem Tod mit einem Publikationsverbot belegt.

Im Stil eines Schelmenromans wird im ersten Drittel von der Entfernung des steinernen Juden erzählt, die sich insofern als unerwartet schwierig erweist, weil sich an den aufgestellten Statuen keine Namensschilder befinden. Der einfältige SS-Mann, der diesen Auftrag auszuführen hat, ist nicht schwindelfrei und traut sich nicht aufs Dach hinaus, seine beiden jüdischen Helfer aber, nicht minder ungebildet, sind nicht in der Lage, Mendelssohn Bartholdy zu identifizieren. Als er sie anweist, die Statue mit der größten Nase zu suchen, das müsse nach der herrschenden Rassenideologie der gesuchte Jude sein, hätten sie beinahe Richard Wagner umgerissen, der hatte nämlich die größte Nase unter den dort oben versammelten Musikern. Nach einigem Hin und Her und unter viel Gebrüll in den beteiligten NS-Dienststellen findet sich letztendlich dann eine tschechische Musikerin, die Mendelssohn eindeutig identifiziert. Die beiden Helfer beschießen spontan, die Statue nicht zu zerschlagen, sondern nur umzustürzen, so könne man sie später mal wieder aufstellen, wenn sich die Zeiten geändert haben, - ein verdeckter Akt des Widerstandes.

Schon in dieser einleitenden Episode dominiert neben der amüsanten, für die beteiligten NS-Schergen jedoch äußerst blamablen Aktion sinnloser Kunstschändung das bedrohliche Unheil für die tschechische Bevölkerung und die ständige Todesangst der von Deportation bedrohten Juden. In einem perfiden System werden Tschechen als Hilfskräfte in die Verwaltung mit einbezogen, müssen bei der Deportation der jüdischen Bevölkerung mitwirken, deren beschlagnahmten Besitz in Lagerhäusern sortieren und für das «Tausendjährige Reich» verwerten. Jiří Weil erzählt vom Wüten der Ursupatoren von Gestapo, SS und Wehrmacht, von dessen Auswirkungen auf das Leben in Prag, vom Widerstand beherzter Tschechen und von dem sensationellen Attentat, mit dem der vom «Führer» persönlich mit der «Endlösung der Judenfrage» beauftragte Massenmörder Reinhard Heydrich seine gerechte Strafe erhielt. Er erzählt vom Ghetto in Theresienstadt, das als KZ und als Transitstation für die Vernichtungslager im Osten gedient hat, und von den Hoffungen, die nach Stalingrad und dem Vormarsch der Roten Armee in all der Ausweglosigkeit aufzukeimen beginnt, auch wenn Prag schließlich als «judenfrei» nach Berlin gemeldet wird und das herbeigesehnte Ende noch lange auf sich warten lässt.

In einfach strukturierten, kurzen Sätzen entwirft Jiří Weil ein Bild des Grauens, bei dem Gut und Böse allzu klar unterschieden wird. Die Deutschen sind ausnahmslos brüllende Bösewichte übelster Sorte, Tschechen und Juden versuchen in ihrer Not, irgendwie zu überleben, wobei sie sich selbstlos gegenseitig beistehen. Tief betroffen von seiner Erzählung verzeiht man dem Autor diese arg idealisierende Darstellung in einem Roman, der die Kunst als einzig wahre Verheißung preist.

Bewertung vom 28.05.2019
Der neunzigste Geburtstag
Bruyn, Günter de

Der neunzigste Geburtstag


gut

«Wir schaffen das»

Als 92jähriger Schriftsteller mit einem beachtlichen Œuvre hat Günter de Bruyn nach 35 Jahren erstmals wieder einen Roman veröffentlicht, dessen symptomatischer Titel «Der neunzigste Geburtstag» die autobiografische Färbung offensichtlich werden lässt. Zeitlich im Jetzt angesiedelt und örtlich in Wittenhagen, einem winzigen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern mit gerade mal zweihundert Einwohnern, erzählt der Autor darin vordergründig von den Vorbereitungen zu einem hohen Geburtstag, im Wesentlichen aber von den Befindlichkeiten eines hoch betagten Geschwisterpaars im Rückblick auf ihr Leben.

Hedwig und Leonhardt Leydenfrost haben nach dem Mauerfall das ehemalige Gut der Familie als gemeinsamen Alterssitz bezogen, das inzwischen heruntergekommene Herrenhaus gehört ihnen je zur Hälfte, Hedy wohnt im ersten Stock, Leo bewohnt das Erdgeschoss. Bei Hedys 89tem Geburtstag beschließt der Familienrat, zu ihrem Neunzigsten ein großes Fest zu feiern, statt Geschenken sollen dabei aber Spenden für die Einrichtung eines Lagers für alleinstehende Flüchtlingskinder in der alten Reithalle des Gutes eingesammelt werden, Hedy ist Feuer und Flamme für diesen Plan. Sie war als ehemalige grüne Aktivistin in Westdeutschland eine politische Wortführerin der außerparlamentarischen Opposition, später hat sie dann dort Medizin studiert und als Ärztin gearbeitet. Der eher bedächtige, unpolitische Leo ist im Osten geblieben und hat sich als Bibliothekar in Ostberlin hinter seinen Büchern verschanzt, eine Berufswahl, mit der er bewusst allen Querelen von vornherein aus dem Weg ging, denn mit dem DDR-Regime war er keineswegs d’accord. Auch die Geschwister sind sich selten einig, zu verschieden ist ihr Temperament, und so ist ihr Zusammenleben bei aller gegenseitigen Achtung von häufigen Wortgefechten geprägt.

In einem entfernt an Fontane erinnernden, ruhigen Erzählfluss mit einer betulichen Diktion wird vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Ereignisse über zwei Charaktere berichtet, deren Intellekt in unterschiedlichen Geisteshaltungen mündet, die nun im hohen Alter immer mehr in ein Staunen übergehen angesichts einer ihnen unverständlicher werdenden Welt, - vor der sie jedoch keinesfalls zu kapitulieren gedenken. In vielen Rückblenden wird ihr Lebensweg verdeutlicht, und damit wird auch ihre gegenwärtige Verfasstheit erklärt. Wunderbar stimmig ist dabei der alte Eigenbrödler Leo gezeichnet, ein der deutschen Sprache verpflichteter Schöngeist mit ausgeprägtem historischen Gespür und herrlich sarkastischer Gegenwartskritik. Insbesondere die Absurdität einer gendergerechten Sprache bringt ihn in Wallung, und ausufernde Telefonitis wird äußerst skeptisch kommentiert: «Dauertelefonierer waren in seinen Augen Kranke, die an erhöhtem Mitteilungsbedürfnis litten». Und so sorgt der alte Nörgler, hinter dem sich in Vielem wohl auch der Autor selbst versteckt, häufig für ein Schmunzeln beim Leser.

Die vielen Fragen, die Günter de Bruyn in seinem Roman anreißt, kreisen allesamt um den Generationenkonflikt, um politische und wirtschaftliche Umbrüche, um das Verdängen des Alten und Bewährten durch das Neue und oftmals Fragwürdige, wie es die beiden greisen Idealisten sehen. Dem «Wir schaffen das» einer 2015 auf politischer Geisterfahrt befindlichen Kanzlerin nacheifernd, scheitert die idealistisch betriebene Gründung einer Flüchtlings-Unterkunft für Kinder kläglich. Die Berliner «Asylantenkinder», in Wirklichkeit allesamt Testosteron gesteuerte junge Männer, weigern sich schlicht und ergreifend, in den Bus nach Meckpomm zu steigen, ins Nirwana aus ihrer Sicht. Letztendlich entsteht eine von alten Seilschaften betriebene Wellness-Oase aus der ehemaligen Reithalle der Familie, eine herbe Niederlage für den dörflichen Gemeinsinn. Mit hintersinniger Ironie entwirft Günter de Bruyn ein Bild unserer Gegenwart, dessen Plausibilität kaum zu leugnen ist und das durchaus wehmütig machen kann, in jedem Fall aber nachdenklich.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.05.2019
Wohin wir gehen
Mädler, Peggy

Wohin wir gehen


schlecht

Die hehre Absicht allein

Acht Jahre nach ihrem Debütroman ist nun der zweite Roman von Peggy Mädler erschienen, «Wohin wir gehen» hat auf Anhieb Beachtung gefunden und belegt im Mai 2019 Platz zwei der SWR-Bestenliste. Beiden Romanen gemeinsam sind der kritische Blick auf die deutsche Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts, die als Hintergrund fungiert für menschliche Schicksale im Spannungsfeld historischer Umbrüche, wobei die fein herausgearbeiteten Zwischentöne der Handlung erst ihre eigentliche Bedeutung verleihen. In elf mit den verschiedenen Handlungsorten betitelten Kapiteln wird die wechselvolle Geschichte von vier Frauen zweier Generationen auf der Suche nach dem Lebensglück erzählt. Als Motto ist dem Roman ein Gedicht von Hilde Domin vorangestellt, welches die widerstrebenden Sehnsüchte nach Bestand und Veränderung im menschlichen Leben höchst poetisch umschreibt: «Man muss weggehen können / und doch sein wie ein Baum: / als bliebe die Wurzel im Boden, / als zöge die Landschaft und wir ständen fest».

Es beginnt in Böhmen während des Zweiten Weltkriegs, als Almuts Vater plötzlich stirbt und ihre Mutter sich daraufhin das Leben nimmt. Rosas Mutter nimmt das Waisenkind bei sich auf und zieht es wie ihre eigene Tochter liebevoll auf, Rosa und Almut sind Busenfreundinnen. Die Vertreibung aus der Tschechoslowakei nach Ende des Krieges verschlägt die Drei nach Brandenburg, dort beteiligt sich Rosas Mutter, eine überzeugte Kommunistin, voller Begeisterung am Aufbau des neuen Arbeiter- und Bauernstaates. Die beiden Freundinnen werden Lehrerinnen und ziehen auf Drängen Rosas voller Erwartungen nach Berlin, wieder eine Entwurzelung für sie beide. Die unstete Rosa ist es dann auch, die als Dreißigjährige kurz vor dem Bau des antifaschistischen Schutzwalls, wie die Mauer im Staatsjargon der DDR genannt wurde, im Osten in die S-Bahn steigt und im Westen aussteigt, sie hat nichts bei sich als ihre Handtasche. Almut verliert als Mitwisserin, die eine geplante Republikflucht nicht angezeigt hat, ihre Stelle als Lehrerin und auch ihre Wohnung, sie landet als Arbeiterin in einer Margarinefabrik und lebt viele Jahre lang in prekären Verhältnissen. Der Kontakt zu Rosa ist abgerissen, sie heiratet spät und bekommt ein Mädchen. Ihre Tochter Elli hat vier Jahrzehnte später eine innige Freundschaft mit Kristine, Rosas Tochter, die sich rührend um Ellis greise Mutter Almut kümmert, weil Elli endlich die heißbegehrte Stelle als Dramaturgin am Basler Theater bekommen hat.

Das ineinander verwobene zeitliche Geflecht dieser wechselvollen Geschichte ist zuweilen schwer zu durchschauen, gleichwohl gelingt es Peggy Mädler, die verschiedenen Zeitebenen miteinander zu verbinden, Zusammenhänge zu verdeutlichen, menschliche Bindungen auf die Probe und scheinbar tiefe örtliche Verwurzelungen in Frage zu stellen. Es geht um biografische Neuanfänge, um Veränderungen, aber auch um Geborgensein in gewohnter Umgebung, um Konstanten im Leben, egal welche politischen und historischen Umbrüche sie begleiten und aus den Angeln zu heben drohen. Das große Thema dabei ist die Freundschaft, die selbst schwerste Belastungen überwinden kann und zu den wenigen Konstanten im Leben zählt, nicht an Zeit und Ort gebunden. Und sie hilft denn auch über viele Fährnisse des Lebens hinweg.

Die sprachlichen Mittel, mit denen uns hier erzählt wird, «Wohin wir gehen», sind äußerst spartanisch und tragen rein gar nichts zum Lesegenuss bei. Politische Umbrüche dieser bewegten Zeit finden im sprachlichen Stil keine Entsprechung, sie werden emotionslos und nüchtern wie in einem Sachbuch abgehandelt. Auch die Figuren bleiben merkwürdig blass, Lebensfreude, Lust gar kommt bei ihnen nicht vor, sie sind ziemlich konturlos und prägen sich dem Leser nicht ein als markante Typen, wozu wohl auch die seltenen und wenig lebendigen Dialoge beitragen. Die hehre Absicht allein reicht wirklich nicht, einen Roman zu einer bereichernden und erfreulichen Lektüre zu machen.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.05.2019
Lanny
Porter, Max

Lanny


gut

Träumen mit Schuppenwurz

Mit einiger Spannung ist von manchen Lesern «Lanny», der zweite Roman des britischen Schriftstellers Max Porter erwartet worden, dessen Debütroman vor vier Jahren international Beachtung gefunden hatte. Und prompt findet sich auch in dieser neuen Prosa wieder die Leidenschaft des Autors für Übersinnliches, seine Lust am Fabulieren, seine radikale Abwendung von tradierten Erzählformen. Mich hat der Roman unwillkürlich an den Meister der Postmoderne, an Jonathan Safran Foer erinnert, der in «Extrem laut und unheimlich nah» auch einen etwa gleich alten, hochintelligenten Jungen in den Fokus stellt und seinem Text ebenfalls mit ungewöhnlichen typografischen Verzierungen eine besondere, seine Thematik unterstreichende Note gibt. Kann Porter da mithalten?

Der dreiteilige Roman beginnt mit dem Erwachen eines Fabelwesens, Altvater Schuppenwurz, eine Zwittergestalt zwischen Waldschrat und unbelebtem Wurzelwerk, nach einer Schmarotzerpflanze benannt. Als «Einen Mann ganz aus Efeu» stellt Lanny sich diesen bösen Dorfgeist vor, der in seinem Schreckenspotential auch an den Erlkönig von Goethe erinnert. Lannys Eltern sind von London in dieses heimelige kleine Dorf gezogen, sein Vater, der «ein Reh nicht von einem Wildschwein unterscheiden kann», ist Banker und pendelt täglich in die City. Als ehemalige Schauspielerin widmet sich seine Mutter hier liebevoll ihrem Sohn, nebenbei schreibt sie an einem wüsten Thriller. Es gelingt ihr, den «Irren Pete», einen berühmten Künstler aus der Nachbarschaft, als Lehrer für Lanny zu gewinnen. Zwischen dem hoch betagten Eigenbrödler und dem wissbegierigen Jungen entwickelt sich eine herzliche Freundschaft, die für beide sehr bereichernd ist.

In einer die ganze erste Hälfte des Romans ausfüllenden Exposition wird in kurzen Kapiteln von Lanny erzählt, er ist nur Titelfigur, nicht Protagonist, wir erfahren nichts aus seiner Sicht. Mutter, Vater und Pete berichten in Ich-Form über seine Entwicklung, seinen erstaunlichen Wissendrang, sein nicht minder erstaunliches Geschick bei allem, ein Neunmalkluger, - seine Mutter nennt ihn zärtlich Enigma. Zwischendurch ist, in Fettdruck gesetzt und in der dritten Person erzählt, immer wieder auch Schuppenwurz zu vernehmen, der alles hört, alles sieht, alles weiß in diesem überschaubaren ländlichen Kosmos. Die verschiedenen Stimmen seiner Bewohner erzeugen ein kakophonisches Raunen, ein permanentes Gemurmel. Es ist typografisch in bizarren, die gewohnte Waagerechte missachtenden, bogenförmig tänzelnden oder schräg gesetzten, inhaltlich nicht relevanten Kurzsätzen, Textfetzen, Ausrufen, Redensarten und Worthülsen realisiert. Sie enthalten gleichermaßen Kluges und völlig Belangloses, - wie im richtigen Leben, könnte man sagen. Die Typografie ändert sich schlagartig, als im zweiten Teil Lanny plötzlich verschwunden ist und fieberhaft nach ihm gesucht wird. Eine Fülle von meist nicht identifizierbaren Ich-Erzählern berichtet separat in kurzen, durch das Zeichen + getrennten Absätzen von den Suchaktionen, von den Ermittlungen der Polizei, von Mutmaßungen und Verdächtigungen, ein vielstimmiger Chor, ehe sich dann im dritten Teil in einer Traumwelt wieder Altvater Schuppenwurz ins Geschehen einmischt.

Mit seinem Magischen Realismus verlässt Max Porter häufig die Gefilde der Prosa und wandelt auf den Pfaden der Lyrik, nicht nur rhythmisch, sondern auch melodisch. «Warum sollte ein Buch keine musikalische Seele haben?» hat er eine diesbezügliche Frage im Interview beantwortet. Stadt-Land-Problematik, Naturferne, Vereinsamung, Helikoptereltern, Massenhysterie als seine Themata verarbeitet er im Social-Media-Zeitalter surreal, erhebt das Metaphysische über das Faktische. Entstanden ist so ein Roman für Träumer, ganz anders als bei Foer allerdings. In seiner poetischen Märchenhaftigkeit vermag «Lanny» mehr auszusagen als manche realitätsverpflichtete Prosa. Die Bereitschaft zum Träumen ist allerdings zwingend vorausgesetzt!

Bewertung vom 20.05.2019
Meister und Margarita
Bulgakow, Michail

Meister und Margarita


ausgezeichnet

«Leser mir nach!»

Unter dem Titel «Meister und Margarita» ist der Jahrhundertroman des russischen Schriftstellers Michail Bulgakow 1966 posthum in einer radikal zensierten Fassung erstmals erschienen, unlektoriert und nicht von eigener Hand fertig gestellt. Nach einem atemberaubenden Blitzstart ist er dort gleichwohl zum meistgelesenen Roman des Zwanzigsten Jahrhunderts avanciert, ein literarischer Geniestreich ohne gleichen. Die Zahl der Arbeiten, die sich bis heute mit ihm wissenschaftlich befassen und um eine plausible Deutung ringen, ist inzwischen Legion. Dieser russische Jahrhundertroman nun ist 2012 in einer kongenialen Neuübersetzung erneut auf Deutsch erschienen, Felicitas Hoppe hat ihm aus diesem Anlass ein ebenso lesenswertes wie geistreiches Nachwort unter der Überschrift «Leser mir nach – du bist frei!» gewidmet. Worin liegt denn nun die große Faszination dieses Werks?

Natürlich vor allem im mystischen Faust-Thema, das schon im Titel anklingt und dem Roman mit einem Goethe-Zitat als Motto deutlich vorangestellt ist. Dem Faust nämlich entspricht hier der «Meister», und dem Gretchen «Margarita». Der Magische Realismus Bulgakows hat den Stoff allerdings in einer radikal neuen Sichtweise aufgegriffen und dessen Thematik in eine unbekümmert groteske, satirische Form gebracht, die im Verbund mit einer überbordenden Phantasie einen ebenso großen Anteil an der begeisterten Rezeption dieses Werkes haben dürfte. «Es war Frühling, eine heiße Dämmerstunde am Patriachenteich» lautet der inzwischen berühmt gewordene erste Satz des Romans. Die zwei Herren, die dort sitzen, sind der Vorsitzende der Moskauer Autorenvereinigung und der Schriftsteller Iwan Nikolajewitsch Ponyrjow. Sie diskutieren über Iwans antireligiöses Poem, es geht um Metaphysisches, um Jesus und um Gottesbeweise, als sich plötzlich ein Ausländer in ihr Gespräch einmischt, ihnen die Leviten liest und nebenbei erwähnt, er habe schon mit Kant gefrühstückt und kenne Pontius Pilatus persönlich. So beginnt unter dem Titel «Reden Sie nie mit Unbekannten» das erste Kapitel. Dieser Fremde ist Woland, Professor der schwarzen Magie, in Wahrheit der unter verschiedenen Masken auftretende leibhaftige Satan, der in Folge mit seiner abenteuerlichen Entourage binnen kürzester Zeit in Moskau ein heilloses Chaos mit zwei Toten anrichtet, viele Menschen in Panik versetzt und alle Behörden kläglich scheitern lässt.

Der «Meister» ist Insasse einer Psychiatrischen Klinik und kennt seinen Namen nicht. Er hatte an einem Roman über Pontius Pilatus geschrieben, als er «Margarita» kennenlernte, eine verheiratete Frau, die seine große Liebe wird. Als sein Roman von der Kritik verrissen wird, verbrennt er ihn, verfällt in Wahnsinn, Margarita und er werden getrennt. Einer von Wolands Helfern macht ihr ein unmoralisches Angebot, erhebt sie zur Königin an der Seite des Teufels bei einem riesigen, der Walpurgisnacht ähnelnden Ball, fortan gehört sie als Hexe zur Begleitung Satans. In mehreren Kapiteln wird parallel aus dem Roman des «Meisters» über Pontius Pilatus erzählt, wobei die Hinrichtung hier völlig entmystifiziert geschildert wird und Jesus als naiver Gutmensch erscheint. Am Ende treffen sich beide Handlungsstränge, als der «Meister» und Margarita nach ihrem Tode von Woland nach Jerusalem geführt werden, wo der depressive Pontius Pilatus einsam und verlassen mit seinem Hund in der Wildnis vor der Stadt sitzt, - und alle werden genau dort erlöst!

Liebe, Vergebung, Erlösung sind die großen Fragen in Michail Bulgakows Philosophie. Mit Kunst und Künstler wird ein weiteres Thema abgehandelt, die unheilvolle Bürokratie im aberwitzigen Überwachungsstaat der 1930er Jahre unter Stalin wird nur indirekt auf amüsante Weise angeprangert. Ein umfangreicher Anhang hilft beim Verstehen vieler spezifisch russischer Details, der immense Lesespaß aber beruht zu einem nicht unwesentlichen Teil auch auf der wohldurchdachten, frischen Übersetzung. «Leser mir nach!» rufe auch ich.

Bewertung vom 10.05.2019
Die einzige Geschichte
Barnes, Julian

Die einzige Geschichte


gut

Leidenschaft, Absturz, Rückbesinnung

In dem neuen Roman «Die einzige Geschichte» von Julian Barnes findet sich ein Motiv wieder, welches schon in «Vom Ende einer Geschichte» für Spannung gesorgt hat, die Liebe zwischen einem jungen Mann und einer Frau, die seine Mutter sein könnte. Hier im Roman zudem auch noch eine Amour fou mit den erwartbaren Folgen für beide, die jedoch nur als Vehikel dient für einen melancholischen Rückblick dieses Mannes auf sein Leben. Womit sich auch der etwas kryptische Romantitel erklärt, denn das Leben des Erzählers stand nun mal völlig unter dem Stern einer einzigen, wahren Liebe, die sein Leben geprägt hat.

Julian Barnes stellt seinem dreiteiligen Roman augenzwinkernd eine Definition Samuel Johnsons von 1755 voraus: «Roman: Eine kleine Geschichte, zumeist über die Liebe». Im ersten Teil berichtet der Protagonist als Ich-Erzähler davon, wie er in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als bindungsarmer junger Mann mit neunzehn Jahren von seinen Eltern zum Eintritt in den Tennisclub gedrängt wurde. Sie erhofften sich, Paul würde dort ein nettes Mädchen zum Heiraten finden. Finden aber tut er stattdessen Susan, seine nette Partnerin im Mixed, in die er sich Hals über Kopf verliebt, eine attraktive Frau Ende vierzig, verheiratet, mit zwei erwachsenen Töchtern. Für ihn, daran zweifelt er keine Sekunde, die Frau fürs Leben. Beide sind erstaunlicher Weise sexuell völlig unerfahren, denn Paul war bisher erst einmal mit einem Mädchen im Bett, und Susans Ehemann war für sie der erste und einzige Liebhaber. Seit der Geburt der jüngsten Tochter hat das Ehepaar keinen sexuellen Kontakt mehr gehabt, sie leben in getrennten Schlafzimmern. Das altersmäßig so ungleiche Paar erlebt nun eine sexuell erfüllte, rauschhafte Liebe, die in dem kleinen Vorort von London schnell als Verstoß gegen die Konventionen geahndet wird, indem man sie aus dem örtlichen Tennisclub ausschließt, - was einer öffentlichen, gesellschaftlichen Ächtung gleichkommt. Schließlich verlässt Susan ihren Mann und zieht in der Londoner City mit Paul zusammen, sie kauft dort ein kleines, bescheidenes Häuschen, in dem die beiden glücklich miteinander leben.

Im zweiten Teil trübt sich das Glück, als Paul entdeckt, dass Susan eine Trinkerin geworden ist. Der Erzähl-Modus wechselt in die Du-Form und bezieht den Leser dadurch sehr unmittelbar mit ein in die Gedankengänge des Helden. Er sucht Rat bei der lebensklugen besten Freundin von Susan, gibt sich alle Mühe, mit Susans Alkoholsucht umzugehen, kann aber das Abrutschen in den Sumpf des Alkoholismus nicht abwenden, der schließlich zur Demenz führt. Im letzten Teil des Romans werden in der mehr distanzierten dritten Person die Jahre nach der Trennung erzählt, in denen sich der lebenslang alleinlebende, alternde Paul zwar immer noch fest an Susan gebunden fühlt, die er aber in der Psychiatrie «abgegeben» hat und die ihn schon lange nicht mehr erkennt. Julian Barnes breitet all die Gedanken vor dem Leser aus, die ihm zum Thema Liebe und Lebenssinn wichtig erscheinen, eine philosophische Tour d’Horizon geradezu. Die Romanform wechselt dabei zunehmend von der eher kontemplativen zur essayistischen Erzählweise, die dann furchtlos abtaucht in ungeahnte seelische Tiefen, ohne unmittelbaren Bezug mehr zum eigentlichen Thema zu haben, der einzigartigen, tragischen Liebesgeschichte von zwei in jeder Hinsicht durchschnittlichen Menschen.

Wie immer bei Julian Barnes ist sein dreiteiliger Roman um Leidenschaft, Absturz und Rückbesinnung raffiniert aufgebaut und glänzend erzählt, hier allerdings in einem analytisch unterkühlten, gleichwohl aber recht sentimentalen Stil. Die Protagonisten bleiben ziemlich blutleer, graue Figuren ohne Kontur, - Kalkül vermutlich, um erzählerisch Abstand zu gewinnen von ihnen. Denn mit der Frage «Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden oder weniger lieben und weniger leiden?» wird klar, worum es dem Autor im Grunde wirklich geht.

Bewertung vom 04.05.2019
Babel
Cusanit, Kenah

Babel


schlecht

Wenn Lesen zur Qual wird

Nach zwei Gedichtbänden hat die deutsche Altorientalistin und Ethnologin Kenah Cusanit ihren ersten Roman unter dem Titel «Babel» veröffentlicht, der es auf Anhieb unter die fünf Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse 2019 geschafft hat. Als interessantes Sujet hat sie dafür, - bei ihrem wissenschaftlichen Hintergrund naheliegend -, die Grabungen des Archäologen und Architekten Robert Koldewey im Jahre 1913 in Mesopotamien gewählt. Ein Forscher, der zu Unrecht im Schatten Heinrich Schliemanns stehend mit dem titelgebenden biblischen Babylon nicht weniger als die Wiege der monotheistischen Religionen ausgegraben hat, die erste Großstadt der Antike, Ort eines zivilisatorischen Aufbruchs, der weit über den Orient hinaus reichte.

Der Protagonist blickt gedankenverloren, auf der Fensterbank seines Arbeitszimmers liegend, auf den Euphrat, der träge an den Ruinen Babylons vorbeifließt. Koldewey hat Schmerzen, er vermutet nach Lektüre eines medizinischen Fachbuchs eine Blinddarmreizung und verordnet sich selbst Rizinusöl zur Linderung. Schon auf der ersten Seite des Romans finden sich all die Stichworte, die den Leser freudig einstimmen auf die archäologische Thematik. Der in der Bibel erwähnte Nebukadnezar II nämlich, Ischtartor, Prozessionsstraße, Palast, - und der berühmte biblische Turm natürlich. Als bekannteste Funde, um nicht zu sagen räuberische Ausbeute, der deutschen Grabungsarbeiten jener Zeit sind heute im Pergamon-Museum in Berlin das Ischtartor und die Prozessionsstraße zu sehen. In mehr als 500 Kisten stapeln sich im Hof des Grabungsgebäudes farbige Reliefziegel zum Abtransport nach Deutschland, der orientvernarrte Kaiser Wilhelm II fördert die Grabungen großzügig, man steht im Wettbewerb mit Engländern und Franzosen um die Ehre als erfolgreichste Expedition im Zweistromland. Argwöhnisch beobachtet das Osmanische Reich die Ausländer bei ihrer merkwürdigen Obsession für die tief im Wüstensand versunkenen Ruinen, die Grabungsarbeiten werden allzu oft durch bürokratische Hürden behindert. Auf eine Genehmigung muss man da zuweilen schon mal fünf Jahre warten, alles ist orientalisch umständlich und kleinlich reglementiert.

Akribisch listet die Autorin in ihrem Roman viele Details der mühevollen Grabungen auf, schickt die Leser durch die freigelegten Strassen und Plätze der für antike Verhältnisse riesigen, biblischen Stadt. In die praktische, rein mechanische Tätigkeit des Ausgräber-Teams mit all den aus der Heimat angeforderten Berichten und den oft unsinnigen Anordnungen der preußischen Museumsverwaltung werden umfangreiche kritische Reflexionen über die biblische Geschichte eingeflochten. Deren Wahrheitsgehalt wird mit jeder neuen Entdeckung immer deutlicher widerlegt. Im politischen Ränkespiel zwischen den beteiligten Nationen der Ausgräber und den sich neu formierenden Staaten in dieser Region kommt der unkonventionellen englischen Forschungsreisenden Gertrude Bell eine wichtige Vermittlerrolle zu. Als geschickte politische Strippenzieherin verdankt Koldewey ihr letztendlich, dass nach Ende des Ersten Weltkriegs seine über 500 Kisten als Trophäe mit dem Schiff heil nach Deutschland gelangen und damit seinen Entdeckerruhm begründen. Zu einer Begegnung der Beiden kommt es trotz entsprechender Ankündigungen im Roman jedoch nicht.

In seiner Überfülle an archäologischen Details und theologischen Reflexionen kommt das Narrative eines Romans hier entschieden zu kurz, man liest ein amüsant angereichertes, rhapsodisch angelegtes Sachbuch, kein stilistisch gelungenes - und schon gar nicht buchpreiswürdiges - Werk der Belletristik. Dafür ist es viel zu uninspiriert geschrieben, handlungsarm, teilweise sogar unlogisch, es fehlt ein roter Faden. Zudem ist es oberlehrerartig belehrend und kaum unterhaltend, seine Figuren bleiben völlig konturlos, die anfänglich so vielverheißende Lektüre gerät auch durch ihre unerträglich vielen Wiederholungen sehr schnell zur öden Lesequal.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.04.2019
Der traurige Gast
Nawrat, Matthias

Der traurige Gast


gut

Als Leser in der Titelrolle

Mit «Der traurige Gast» spielt der neuen Roman von Matthias Nawrat im Titel auf das Gedicht «Selige Sehnsucht» an, das zu den «geheimnisvollsten der lyrischen Gedichte Goethes» gehört und interpretatorisch einige Schwierigkeiten bereitet. Dieser Roman stellt seine Leser in gleicher Weise vor Probleme, auch hier ist eine Hürde der Gelehrsamkeit zu überwinden, um an seinen poetologischen Kern vorzustoßen und sich an dem Erzähltalent seines Autors erfreuen zu können, der darin kühn nichts Geringeres als den Weltschmerz thematisiert.

In drei Teilen mit recht kurzen Kapiteln erzählt der Autor getreu dem Goetheschen Sinnspruch «Stirb und werde!» von der Krise des Subjekts in der Gegenwart, man schreibt das Jahr 2016. Der in Berlin wohnende Ich-Erzähler, Schriftsteller natürlich, autofiktional geprägt also, gehört dem Typus des Flaneurs an, er streift aufmerksam beobachtend durch die Großstadt, in die es ihn nach seiner Emigration aus Polen über einige Zwischenstationen schlussendlich verschlagen hat. Man erfährt kaum etwas über ihn, er ist verheiratet, kinderlos und lebt von seiner Schriftstellerei, scheint sich aber in einer Art Schreibblockade zu befinden, denn er hat alle Zeit der Welt zu Streifzügen durch die Metropole. Diese Figur fungiert als überwiegend zuhörender Gesprächspartner, als lethargischer Stichwortgeber zumeist für die eigentlichen Protagonisten, deren erste die Architektin Dorata ist, eine faszinierende, äußerst skurrile Intellektuelle. Sie stammt wie der namenlose Ich-Erzähler aus dem polnischen Opole, und der eigentliche Grund ihres Zusammentreffens, die Umgestaltung seiner Wohnung nämlich, tritt sehr schnell völlig in den Hintergrund, wird schließlich vollends vergessen. Denn Dorata, die kaum noch aus dem Haus geht und ihren Stadtteil niemals verlässt, erzählt mehr oder weniger ihr ganzes, ereignisreiches Leben, berichtet von den philosophischen Erkenntnissen, zu denen sie mit den Jahren gekommen ist. Überraschend endet dieser erste Teil abrupt mit ihrem Suizid.

In einer Art Zwischenspiel werden dann im zweiten Teil «Die Stadt» sensibel erfasste Gegenwartserlebnisse und Alltagsbetrachtungen beschrieben, bevor unter der Überschrift «Der Arzt» im dritten Teil mit Dariusz wieder eine Person im Fokus steht, ein Chirurg, dem wegen Alkoholismus die Approbation entzogen wurde und der nun als Kollege des Ich-Erzählers an einer Tankstelle arbeitet. Mit ihm erweitern sich auch die geografischen Radien der Geschichte, er erzählt nämlich in einem weiten Bogen von seiner Reise auf den Spuren seines in Mexico bei einem Badeunfall umgekommenen Sohnes. In viele dieser der Erinnerung gewidmeten, allzu eintönig monologisch erzählten Abschnitte baut Matthias Nawrat immer wieder die Gegenwart mit ein, und zwar in Form von kurzen Alltagsbegebenheiten im geradezu sezierend scharfen Blickfeld seines emphatischen Helden.

Es ist ein weites Feld, das da bearbeitet wird, denn Leben und Tod sind die großen Themen. Dabei wechseln sich das Schicksal der Kreatur und seine deprimierende Bedeutungslosigkeit angesichts der Geschichte mit dem belanglos Alltäglichen ab. Letzteres wiederum ist allenfalls für das Individuum selbst relevant, das schlussendlich aber auch nichts anderes ist als kompliziert zusammengesetzte, belebte Materie, deren Aggregatzustand jederzeit wandelbar ist, «Asche zu Asche, Staub zu Staub». Die philosophische Vermischung von Einzelschicksalen mit der historischen Wirklichkeit insbesondere der Immigranten ergeben in diesem Roman ein Bild der Gegenwart, dessen erschreckende Brüche ebenso unvermeidbar erscheinen wie rätselhaft. Als Identitätssuche angelegt scheitert er jedoch, weil er zu viel auf einmal will und sich im Geäst seiner ambitionierten Reflexionen hoffnungslos verheddert. Und so ist der Leser bei seiner Lektüre insoweit auch nur «der traurige Gast», wird aber gut unterhalten und zuweilen sogar kognitiv bereichert.

Bewertung vom 27.04.2019
Was habe ich gelacht
Aira, César

Was habe ich gelacht


sehr gut

Subversives Narrativ

Er schreibe nicht für ein großes Publikum, hat der argentinische Schriftsteller César Aira, ewiger Nobelpreis-Kandidat, in einem Interview geäußert, und so ist denn auch sein Roman «Was habe ich gelacht» eher etwas für literarische Gourmets. Sein Œuvre besteht unter anderem aus Dutzenden von Kurzromanen, davon schreibt er mehrere pro Jahr, immer nach dem Motto: Hundert Seiten sind genug. Wobei auch der vorliegende Band einem literarischen Genre kaum eindeutig zuzuordnen ist, er enthält einerseits Elemente des Essays, ist andererseits zum Teil aber auch eindeutig surrealistisch. César Aira wird im Klappentext als «Ausnahmeautor» bezeichnet, von «weltliterarischer Größe», - und das stimmt hier ausnahmsweise tatsächlich mal, es sind keine lediglich umsatzfördernde Werbephrasen!

«Mit unwirschem Bedauern höre ich Leser zu mir sagen, sie hätten bei meinen Büchern ‹gelacht›, und muss mich bitter über sie beklagen», heißt es gleich im ersten Satz des autofiktionalen Kurzromans. Und der Ich-Erzähler fügt ergänzend hinzu, «dass mir derartige Kommentare meine schriftstellerische Existenz vergällt haben». Denn Lachen in der Literatur «als obligatorische Coda aller Erzählungen» sei ihm ein Graus. Dieses Lamento zieht sich über viele Seiten dahin, zeitlich beginnend in der Jugend des Autors im Kreise seiner Clique, der er in Pringles, einer Kleinstadt im Süden der Provinz Buenos Aires, angehört. Mit vielen Anekdoten angereichert erzählt er von deren ungeschriebenen Konventionen und von seinem Außenseiter-Status. Er versucht die Mechanismen zu verstehen, die ihn zum Spielverderber in diesem Kreis werden ließ, aber auch sein Desinteresse an den eher lethargischen Freunden. Wenn er beharrlich fragend alles über sie erfahren hat, sind sie als Quelle für ihn quasi «ausgebrannt», - dem Spion gleichend, der nichts Neues mehr zu berichten weiß.

César Aira schildert in einem virtuosen Mix aus Realität und Fiktion, wie sein Alter Ego im Buch Spaß rezipiert, wobei sein Humor ausgesprochen unterschwellig angelegt ist. Außer der von seinem Großvater gegründeten Fliesenfabrik, die den Ort ökonomisch prägte, habe sich dort noch nie ein Betrieb längere Zeit gehalten. «Pringles war für Firmen ein Fluch», - Seldwyla lässt grüßen! Eine Freundin foppt den arglosen jungen Mann, als sie ihm von ihrer weitverzweigten Verwandtschaft in Buenos Aires erzählt, wo er studieren will. Dabei kommt sie vom Hundertsten ins Tausendste, die Aufzählung ihrer Großsippe dort erstreckt sich über mehrere Seiten des Romans und listet dabei fast sämtliche gebräuchlichen Vornamen Argentiniens auf. Es gibt auch mystische Szenen, im riesigen Park der Fabrikantenvilla des Großvaters taucht des Nachts öfter mal Sylvia auf, eine nur undeutlich sichtbare Frauengestalt, die «um Mitternacht ihr gräusliches Gelächter» auszustoßen beginnt. Als der Vater dem Spuk nachgehen will, wird er am nächsten Morgen mit gebrochenem Genick am Grund einer Schlucht gefunden. Nach dem Studium ist der Protagonist in Buenos Aires hängen geblieben und wohnt vierzig Jahre später immer noch in der kleinen Wohnung, die seine Mutter ihm zum Studienbeginn geschenkt hatte. «Und da ich nie auf Reisen gehe oder in Urlaub fahre, kann ich mit dem interessanten Rekord prahlen, nicht einen einzigen Tag, keine einzige Nacht außerhalb dieser zwei Zimmer verbracht zu haben». Sein Bewegungsradius betrage gerade mal zwei, drei Straßenzüge um seine Behausung herum. «Meine Blase ist von der Größe einer Linse, alle fünf Minuten muss ich pinkeln, und das kann ich nirgendwo anders als in meinem Bad».

Das «gottverdammte Lachen» erweist sich letztendlich also als doppelbödig, ist nichts anderes als Satire, was man durch diverse eingestreute, melancholische Szenen leicht überlesen kann bei einem derart subversiven Narrativ. Besonders hat mir die Schlüsselloch-Perspektive gefallen, mit der César Aira seinen Lesern beim Schreiben erhellende literarische Einblicke gewährt.

Bewertung vom 22.04.2019
Schäfchen im Trockenen
Stelling, Anke

Schäfchen im Trockenen


schlecht

Nervige Verfemung der Realität

Selten treffen Romane so authentisch den Nerv der Zeit wie «Schäfchen im Trockenen» von Anke Stelling, dem geradezu prophetisch ein Thema hinterlegt ist, welches die Politik jahrelang verschlafen hat, die Wohnungsnot in den urbanen Zentren nämlich. Als bisher größter Erfolg wurde der im Bezirk Prenzlauer Berg in Berlin lebenden Schriftstellerin dieses Jahr dafür der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen als ein «scharfkantiger, harscher Roman, der wehtun will und wehtun muss», wie die Jury in ihrer Begründung schwärmt. Und die Autorin bestätigt im Interview: «Während meines Studiums wurde mir ein grausamer Blick bescheinigt». Wie schon in ihrem Inzest-Roman «Fürsorge» scheut sich Anke Stelling jedenfalls nicht, ausgesprochen brisante Themen anzupacken, hier im Roman ist es, vor dem Hintergrund zunehmend unbezahlbar werdender Mieten, die prekäre Situation vieler Künstler, die eben nicht ihre «Schäfchen im Trockenen» haben.

Dieser sozialkritische Gegenwartsroman wird aus der Ich-Perspektive einer erfolglosen, der Autorin in vielen Aspekten ähnelnden Schriftstellerin erzählt. Die versucht ihrer 14jährigen Tochter Bea immer wieder zu erklären, wie schwierig weibliche Selbstverwirklichung ist in einer extrem ungerechten Klassengesellschaft, ein Versuch quasi, sie damit abzuhärten gegen die Zumutungen des Lebens. Resi, deren Name sich auf die Parrhesie beziehe, die Redefreiheit der gesellschaftlich Unterprivilegierten, wie die Autorin erklärt hat, Resi also lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kinder - na wo schon?- im Prenzlauer Berg natürlich, in einer bezahlbaren Altbauwohnung, die ihr jedoch zum Jahresende gekündigt wurde. Grund dafür war ein Buch, in dem sie ihrer alten, vom harmonischen Zusammenleben in einer neuen Art städtischer Großkommune schwärmenden, wohlhabenden Clique fast bösartig ihre diversen Lebenslügen vorhält. Ein Einlenken dem verärgertem altem Kumpel gegenüber, von dem sie einst die billige Wohnung als Untermieter bekommen hatte, kommt für sie nicht infrage. Ihre gut ein Dutzend Freunde sind nach Heirat und Kinderkriegen reihenweise aus den sozial-schwärmerischen Jugendträumen in die neoliberale Realität der wohlstandsverwahrlosten Spaßgesellschaft zurückgekehrt und erfreuen sich unbekümmert der selbsterworbenen oder ererbten Pfründe. Resi hingegen sieht mit Grausen unaufhaltsam den sozialen Abstieg auf sich zukommen, einen Umzug nach Marzahn bestenfalls, für sie geradezu Synonym eines vom Prekariat besiedelten, tristen Plattenbau-Stadtteils am Rande Berlins, - in ihren schlimmsten Albträumen droht aber auch die Obdachlosigkeit der sechsköpfigen Familie.

Anke Stelling erweist sich als rigorose Desillusionistin, die Bitternis ihrer Protagonistin richtet sich, für mich überraschend ehrlich, vor allem auf die stressige Aufzucht ihrer viel zu großen Kinderschar. Immer wieder stellt die überforderte Resi sich die Frage, wie sie als dauerhaft in finanziellen Schwierigkeiten lebende, bis dato erfolglose Schriftstellerin, mit einem einkommenslosen Künstler als Ehemann auch noch, gleichwohl vier Kinder in die Welt setzen konnte. In einer collageartigen Erzählung aus diesem Milieu sind Alltagsszenen, Kindheitserinnerungen, Briefentwürfe, Albträume und Selbstgespräche der Protagonistin fragmentarisch recht sprunghaft aneinandergereiht. Sie zeichnen das beklemmende Bild einer total isolierten, entfremdeten Frau Mitte vierzig, die verschärfte Spielart einer Midlife-Crisis.

Auch wenn man, wie die Autorin selbst, davon überzeugt ist, dass jede Wahrheit dem Menschen zumutbar ist, dürfte auch dem geduldigsten Lesern die gebetsmühlenartige Wiederholung immer gleicher Kritik, der ständige Protest gegen die Zumutungen des Alltags, gehörig auf den Geist gehen. Bei mir war es letztendlich so, dass ich dieses Traktat inhaltlich zwar bejaht, erzählerisch aber nach einiger Zeit nur noch verflucht habe als penetrante, auf Dauer nervige Verfemung der Realität.

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